Empfang für Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 27. Juni 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 27. Juni die internationalen Stipendiatinnen und Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung mit ihren Familien im Park von Schloss Bellevue empfangen. In seiner Ansprache sagte er: "Wissenschaftliche Exzellenz lebt vom Austausch und auch vom Wettbewerb der weltweit Besten. Und Sie alle, die Humboldtianer-Familie, ob als derzeitige Gäste oder als Alumni, Sie leisten dazu einen wichtigen Beitrag."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei einem Empfang für rund 800 Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler der Alexander von Humboldt-Stiftung und ihre Familien aus rund 80 Ländern im Park von Schloss Bellevue

Alles ist Wechselwirkung, das hat Alexander von Humboldt in Mexiko aufgeschrieben, tief beeindruckt von den Beobachtungen und Erfahrungen seiner Lateinamerika-Expedition. Durch die Mangrovenhaine und Urwälder Kolumbiens hatte sie ihn geführt, zu den indigenen Stämmen und den kolonialen Herrschern der Anden, nach Kuba und über die Vulkane Ecuadors bis kurz vor den Gipfel des Chimborazo, des damals höchsten bekannten Berges der Erde, und schließlich über Lima bis ins Herz von Neu-Spanien, nach Mexiko.

Alles ist Wechselwirkung, zu dieser einfachen, eleganten Feststellung gerinnt das gesamte Weltbild des Alexander von Humboldt: Nichts in der Natur steht für sich allein, alle Menschen sind untrennbar mit ihrer Umwelt verbunden. Jede Tat, jede noch so kleine Veränderung zieht Folgen nach sich, ohne Unterschied von Natur und Kultur. Es war die Summe aus tausenden von Einzelbeobachtungen, die das Fundament dieser damals revolutionären Erkenntnis bildeten.

Beobachtungen, die heute so sehr zum Allgemeinwissen zählen, dass es uns fast überrascht zu hören, wie neu sie damals waren. Alle Vulkane Ecuadors müssen miteinander verbunden sein. Die Vegetationszonen des Chimborazo ähneln denen der europäischen Alpen, tausende von Meilen entfernt. Die Klimaveränderungen am Valencia-See in Venezuela vernichten die Lebensgrundlagen von Mensch und Tier. Humboldt entdeckte Zusammenhänge, wo andere nur unerklärliches Naturschauspiel oder unhinterfragtes menschliches Verhalten sahen.

Zu Recht gilt Alexander von Humboldt deshalb als Vater der Ökologie – oder, wie Andrea Wulf schreibt, als Erfinder der Natur. In diesem Jahr feiern wir den 250. Geburtstag dieses einzigartigen Menschen. Meine Frau und ich hatten das große Glück, dieses Jahr schon auf seinen Spuren zu wandeln in Cartagena und Bogota, in Quito und Guayaquil, und auch hier in Berlin in der Singakademie, dem heutigen Gorki-Theater, wo er seine berühmten Kosmos-Vorlesungen hielt.

Diese Spurensuche hat mich noch einmal viel über einen Mann gelehrt, der schon seit Jahrzehnten zu meinen persönlichen Helden zählt. Seine Rastlosigkeit und sein Lerneifer, seine kosmopolitische Weltsicht und sein Humanismus, die Begeisterung, mit der er von der Natur und von den Menschen erzählt, um neue Verbindungen zu knüpfen, zwischen Erkenntnissen und zwischen Persönlichkeiten – das alles hat Alexander von Humboldt ausgezeichnet.

Deshalb kann ich mir keinen würdigeren Namensgeber für das vorstellen, was Sie alle gemeinsam verkörpern, liebe Gäste! Alles ist Wechselwirkung, das gilt nämlich gerade für die Wissenschaft selbst. Die Idee einer Organisation, die sich dem Austausch der besten Köpfe verschiedener Wissenschaften über Landesgrenzen hinweg verschreibt – das hätte Alexander von Humboldt wohl ausnehmend gut gefallen. Ihm, der schon zu Lebzeiten im Zentrum einer ersten globalen Gelehrtenrepublik stand, entstanden durch unzählige Briefwechsel mit den klügsten Denkern seiner Zeit – so etwas wie eine erste globale Wissenschaftskommunikation.

Sie alle wissen es: Wissenschaftliche Exzellenz lebt vom Austausch und auch vom Wettbewerb der weltweit Besten. Und Sie alle, die Humboldtianer-Familie, ob als derzeitige Gäste oder als Alumni, Sie leisten dazu einen wichtigen Beitrag. Als Bundespräsident füge ich hinzu: Einen wichtigen Beitrag leisten Sie auch zur wissenschaftlichen Vernetzung Deutschlands mit der ganzen Welt, mit all ihren Heimatländern – und leisten damit auch diesem Land hier einen großen Dienst. Dafür meinen herzlichen Dank!

Alles ist Wechselwirkung, das wird uns auch heute immer bewusster. Ein zweiter ungewöhnlich heißer Sommer macht uns hier in Deutschland zu schaffen, mit sehr konkreten Folgen für Umwelt, Mensch und Wirtschaft. Wenn auf dem Rhein keine Schiffe mehr fahren, weil er zu wenig Wasser führt, dann ist die Wirtschaft dieses Landes, dann ist das halbe Land gelähmt. Und auch wenn Wetter nicht gleich Klima ist: Die langfristigen Veränderungen kann niemand mehr leugnen! Auch wenn es manche immer noch tun. Wir waren erst kürzlich zu Besuch in Island und konnten uns ein Bild von der Gletscherschmelze machen.

Die Wissenschaft fordert uns schon lange zum Handeln auf, und seit einigen Monaten tun es auch die jungen Menschen auf der Straße, die sagen: Wir haben noch das ganze Leben vor uns – und wir erwarten von Euch, dass Ihr diese Erde lebenswert weitergebt an uns und an alle die, die nach Euch kommen! Das ist ein Ruf zuallererst an Politik und Regierungen! Aber machen wir es uns nicht zu einfach: Wenn wir wollen, dass unsere Kinder auf dieser Welt eine Zukunft haben, dann müssen wir sehr viel mehr tun: Dann müssen wir unsere Regeln, unser Wirtschaften, unsere Technologien und – ja, auch das – unser eigenes Verhalten ändern!

Am Rand einer der 250-Jahr-Feierlichkeiten in den letzten Monaten hat mich jemand gefragt: Fehlt uns heute nicht ein Alexander von Humboldt? Einer, der uns, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, die Leviten liest. Der Erkenntnisse so vermitteln kann, dass ein Spitzenwissenschaftler zugleich internationaler Superstar und Bestsellerautor sein kann. Der schlichte, aber mächtige Einsichten prägt – Alles ist Wechselwirkung zum Beispiel.

Aber, wenn ich es recht bedenke: War er je wirklich weg? Denn heute sind es doch hunderte, tausende, zehntausende Nachgeborene, die weltweit seine Arbeit fortschreiben – ob in den Natur- oder den Kulturwissenschaften, in den Geisteswissenschaften oder im Ingenieurwesen! Und nicht wenige davon sind heute hier im Schlosspark Bellevue, mit ihren Familien, zu Gast bei Freunden.

Ja, Humboldt ist hier, unter uns – sein Anspruch, sein Geist, seine Neugier, sie leben fort.

Ich heiße Sie alle noch einmal ganz herzlich willkommen, und ich freue mich auf die Begegnung mit Ihnen!