Eröffnung der 10. Weltversammlung von Religions for Peace

Schwerpunktthema: Rede

Lindau, , 20. August 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 20. August die 10. Weltversammlung von Religions for Peace in Lindau am Bodensee mit einer Rede eröffnet: "Wir mögen unterschiedlich sein in unserem Glauben. Aber einen muss uns die gemeinsame Haltung: Religion darf niemals Rechtfertigung von Hass und Gewalt sein. Kein Krieg darf geführt werden im Namen der Religion! Das muss die gemeinsame Botschaft von Lindau sein."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der 10. Weltversammlung von Religions for Peace in Lindau am Bodensee.

Das berühmteste utopische Lied der Popmusik des zwanzigsten Jahrhunderts, das Lied, das immer wieder angestimmt wird, wenn Menschen sich eine gute, eine bessere Zukunft erträumen, das ist sicherlich Imagine von John Lennon.

Dieses Lied wurde nicht nur kürzlich zum Song of the Century gewählt. Es wurde auch von der kolumbianischen Sängerin Shakira im Jahr 2015 vor der Jubiläums-Vollversammlung zum 70. Jahrestag der Vereinten Nationen gesungen, mit über hundert anwesenden Staats- und Regierungschefs.

Dieses Lied, seit es 1971 erschien, hat Millionen von Menschen bewegt; sicher wegen der wunderbaren Melodie, aber auch wegen seines visionären Textes:

Imagine all the people living life in peace
You may say I’m a dreamer, but I’m not the only one
I hope someday you’ll join us
And the world will be as one.

Dieser Friedensbotschaft würden wir uns alle hier wohl gerne anschließen. Aber die Botschaft in diesem Lied ist untrennbar verbunden mit dezidiert religionskritischen Aussagen. Ja, es beginnt schon mit dem Wunsch nach einer Welt ganz ohne Religion: Imagine there’s no heaven / above us only sky / … Nothing to kill or die for / and no religion too. Eine religionslose Welt wird geradezu als die Grundvoraussetzung für eine friedliche Welt angesehen.

Und das ist eine starke Provokation für alle, denen Religion am Herzen liegt, für alle, denen der Glaube Sinn gibt, die durch den Glauben für ihr Leben Orientierung und Halt gefunden haben und finden.

Es ist auch eine intellektuelle, eine politische und nicht zuletzt eine lebenspraktische Herausforderung für alle, die in ihrer Religion eine leitende Funktion oder Aufgabe haben, also für alle, die dafür verantwortlich sind, wie ihre Religion sich im alltäglichen Leben auswirkt, wie sie sich darstellt, wie sie in der Öffentlichkeit erscheint.

Es darf uns – ich darf mich da als bekennender Christ ganz bewusst einschließen –, es darf uns, denen uns Religion und Glaube wichtig sind, nicht gleichgültig sein, wenn immer wieder Menschen zum Ausdruck bringen, dass Religion geradezu ein friedensverhinderndes, ja kriegsförderndes Phänomen sei. Das darf uns nicht beruhigen.

Wir müssen zugeben, allzu oft in der Geschichte war es leider so – und allzu oft ist es auch in der Gegenwart noch so. Auch an einem solchen idyllischen Ort wie hier in Lindau hat einst ein fürchterlicher Krieg geherrscht, jener Dreißigjährige Krieg, der im Namen der Religion geführt wurde und Hunger, Elend, Tod und Verwüstung über große Teile Europas gebracht hat. Ein Krieg, der immer auch um das Glaubensbekenntnis geführt wurde und in dem dann alle Menschlichkeit buchstäblich zum Teufel ging. Erst als die religiösen Debatten sistiert wurden, konnte im Westfälischen Frieden durch Diplomatie dem Krieg ein Ende bereitet werden.

Der religiöse Glaube kann eine große, ja wunderbare Macht sein, die den Einzelnen für sein ganzes Leben prägen kann, die ihm im Leben und Sterben Kraft und Sinn geben kann. Aber Glaube und Religion können auch missbraucht werden. Als Motivation für im Grunde außerreligiöse Intentionen und politische Ziele.

Das war nicht nur im europäischen Mittelalter so. Wir erleben bis heute an vielen Stellen der Welt, wie religiöse Gefühle und Überzeugungen und der menschliche Wunsch nach verlässlicher Orientierung in Gewalt gegen Andersgläubige oder gegen sogenannte Ungläubige umschlagen können. Ob in Myanmar, Nigeria, Mali, ob im Nahen Osten, Indonesien, Pakistan: Wir erleben immer wieder, wie Religion sich – gerade durch den Einfluss zynischer und gewissenloser Anführer – als furchtbare, als buchstäblich gnadenlose Macht erweisen kann. Religiöser Fundamentalismus und zahllose religiös aufgeladene Konflikte dieser Tage geben uns leider reichlich Beispiel dafür.

Religions for Peace tritt in Anspruch und Praxis den Beweis dafür an, dass es auch anders sein kann, ja dass es anders sein muss. Religions for Peace macht Ernst mit der Überzeugung, dass Religionen kein Anlass mehr sein dürfen für Unfrieden und Krieg, sondern dass sie im Gegenteil Werkzeuge des Friedens sein können – und sogar sein müssen.

Sonst nämlich versagen sie vor ihrem eigenen Anspruch und verlieren ihre Glaubwürdigkeit. Der Einsatz der Religionen für den Frieden ist natürlich zuallererst für die Sache des Friedens selber wichtig. Er ist aber auch für die Religionen als solche entscheidend. Ihre Anerkennung als glaubwürdige Botschafter einer Wirklichkeit, die den Menschen unbedingt angeht, steht auf dem Spiel.

Zu den tiefsten Versprechungen aller Religionen gehört der Frieden: der Seelenfrieden, den der Einzelne für sich und mit sich selber sucht, und der Friede mit dem Nächsten und dem Fernsten, der allen ein gelingendes und ein glückliches Leben ermöglicht.

Ich glaube, Religionen können als wirkmächtige und belastbare Förderer des Friedens einen unverzichtbaren und auch unersetzbaren Dienst an den Menschen leisten. Religions for Peace hat dazu beigetragen, gerade das wieder zu entdecken. Und zwar nicht nur in wohlformulierten Absichtserklärungen, die nichts kosten, sondern auch im praktischen Alltag, gerade auf regionaler und lokaler Ebene.

Die Überzeugung von der notwendigen und potenziell segensreichen Friedensmission der Religionen leitete auch Nathan Söderblom und seine Mitstreiter, die nach dem fürchterlichen Ersten Weltkrieg, den sogenannte christliche Nationen gegeneinander führten, eine Einheit der christlichen Kirchen vor allem im Dienst des Friedens anstrebten. Ein Motto der Bewegung, formuliert von Hermann Kapler, dem Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses, wurde oft von Nathan Söderblom zitiert: Lehre trennt, Dienst eint.

Dieses Motto scheint mir auch, weit über den christlichen Zusammenhang hinaus, für die Zusammenarbeit aller Religionen von Bedeutung zu sein, wenn sie sich, wie bei Religions for Peace, Friedenserhaltung und Friedensstiftung zur Aufgabe gemacht haben.

Nun, ich weiß, und wir alle wissen: Für jede Religion bedeutet es zunächst einmal eine Zumutung, sich in eine Reihe mit anderen Religionen zu stellen – und anderen Religionen gleiche Bedeutung und gleichen Wert zuzusprechen wie der eigenen. Jede Religion hat ja für sich den Anspruch, wahr zu sein. Es gehört sozusagen zum Begriff der Religion selbst, die Wahrheit über Himmel und Erde, über Gott und die Menschen zu kennen. Wenn sie ernst und glaubwürdig bleiben will, kann eine Religion darauf nicht verzichten.

Aber dieser Wahrheitsanspruch kann und darf nur friedlich vertreten werden. Inzwischen haben wir hoffentlich alle gelernt, dass sich jede Religion, die ihre Überzeugung mit Unterdrückung, Gewalt oder Terror behaupten will, schon selbst diskreditiert hat.

Bei Religions for Peace weiß jeder um den eigenen Wahrheitsanspruch und um den des anderen – aber er spielt in der praktischen Zusammenarbeit zunächst keine Rolle. Lehre trennt, Dienst eint. Die Zusammenarbeit der Religionen, zu der Religions for Peace ermutigt und befähigt, geht davon aus, dass durch Frieden zuallererst der Raum geschaffen werden muss, in dem man sich begegnet. Dass Frieden also das erste Werk ist, zu dem Religionen gemeinsam beitragen müssen.

Dabei meint der Frieden mehr als nur die Abwesenheit von Krieg. Frieden meint die Möglichkeit, an den Gütern der Welt einen gerechten Anteil zu haben. Frieden meint, seine Religion und seinen Glauben ungehindert leben und ausdrücken zu können. Frieden meint, gleiches Recht zu haben, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und sozialer Stellung. Frieden in diesem umfassenden Sinn, den auch das hebräische Wort Shalom zum Ausdruck bringt, meint die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben führen zu können.

Ohne Frieden bleiben auch die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen auf ewig unerreichbar. Die Arbeit von Religions for Peace erweist sich deshalb immer mehr als eine politische Arbeit an der Verbesserung der globalen Lebensbedingungen aller Menschen. Keines der Ziele, die allen auf der Erde ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, ist ohne Frieden zu erreichen – und ohne Frieden zwischen den Religionen gibt es keinen Frieden. Von ihrem eigenen Anspruch her müssten sich die Religionen zur energischen Mitarbeit an der Verwirklichung der Entwicklungsziele der Vereinten Nationen aufgerufen fühlen.

In meinen vielen Jahren als Außenminister habe ich erfahren können, wie konstruktiv die Zusammenarbeit zwischen konkreter friedensstiftender Politik einerseits und konkreten Versöhnungsbemühungen durch Religion andererseits sein kann – und es an manchen Stellen auch war und ist. Kolumbien war ein Beispiel im letzten Jahrzehnt. Mosambik ist noch ein Beispiel aus dieser Zeit, in der Kirchen und Religionen positiv gewirkt haben, und mit Blick auf den Film kann ich nur sagen, dass sich eine ähnliche friedensstiftendende Wirkung der Religionen in Myanmar zeigen wird. Ich will damit sagen: Religionen können konstruktive Kräfte bei der Lösung von Konflikten sein. Es gibt Beispiele dafür, und Diplomatie und Außenpolitik muss das erkennen.

In Deutschland nehmen wir ernst, dass die Religionen zu den größten gesellschaftlichen Akteuren der Welt gehören. Wir haben das unter anderem dadurch deutlich gemacht, dass wir, ähnlich wie in Norwegen, im Auswärtigen Amt eine eigene Einheit Religion und Außenpolitik gegründet haben. Und so ist es für uns auch selbstverständlich, dass wir die Arbeit von Religions for Peace besonders unterstützen. Ich freue mich deswegen ganz besonders, dass Sie diesmal die Weltkonferenz in Deutschland durchführen. Ich möchte Sie alle zu Ihrem Engagement weiter ermutigen.

Wir mögen unterschiedlich sein in unserem Glauben. Aber einen muss uns die gemeinsame Haltung: Religion darf niemals Rechtfertigung von Hass und Gewalt sein. Kein Krieg darf geführt werden im Namen der Religion! Das muss die gemeinsame Botschaft von Lindau sein.

Als Papst Johannes Paul II. zum ersten Mal Vertreter aller Religionen zu einem Weltgebetstreffen eingeladen hatte, fand dieses Treffen in Assisi in Umbrien statt – die Heimat von Franziskus, der so entschieden für Frieden und Versöhnung auftrat und der nicht nur von Christen hoch respektiert, hoch verehrt wird.

Mit einem Gebet oder Lied, das Franz von Assisi zugeschrieben wird, obwohl wir nicht genau wissen, ob es wirklich von ihm ist, will ich schließen. Es ist vollkommen aus seinem Geist formuliert, und ich denke, dass in diesen Text alle religiösen Menschen guten Willens einstimmen können. Als allererste und umfassendste Bitte finden wir darin die Bitte um den Frieden, für den jeder Einzelne ein Werkzeug sein kann:

Gott, mache mich zu einem Werkzeug deines Friedens,
dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich verbinde, wo Streit ist.

Im Sinne dieses Liedes wünsche ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Versammlung in Lindau, aber auch allen Aktiven und Unterstützern von Religions for Peace weltweit ein gutes Gelingen.

Und hier in Lindau lebendige Diskussionen mit vielen neuen und praktischen Ideen, die wir alle dringend brauchen.

Herzlichen Dank und – Shalom!