Verleihung des Nationalpreises 2019 der Deutschen Nationalstiftung an Anita Lasker-Wallfisch

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 3. September 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 3. September bei der Verleihung des Nationalpreises 2019 der Deutschen Nationalstiftung an Anita Lasker-Wallfisch die Laudatio in Berlin gehalten: "Für uns Nachgeborene ist die Erinnerung eine Verantwortung, die nicht vergeht – die bleibt. Gerade in diesen Zeiten, in denen wir leben, werden wir dem alten Schweigen und Leugnen wieder deutlicher entgegentreten müssen. Mit dem wiederauflebenden Antisemitismus dürfen und werden wir uns niemals abfinden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält die Laudatio auf Anita Lasker-Wallfisch bei der Verleihung des Nationalpreises 2019 der Deutschen Nationalstiftung im Französischen Dom in Berlin

Woher kommt diese Stimme? Das habe ich mich gefragt, als ich hörte, wie Sie zum ersten Mal öffentlich sprachen, liebe Frau Lasker-Wallfisch. Ich meine nicht die vielen Vorträge und Fragestunden, für die Sie bis heute in deutsche Schulen kommen. Ich meine auch nicht den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im vergangenen Jahr, als Sie im Bundestag zu uns sprachen. Ich meine die Stimme der jungen 20-jährigen Anita Lasker, die irgendwann im April 1945, kurz nach der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen, noch vor dem Ende des Krieges, in das Mikrophon eines BBC-Reporters sagt:

Hier spricht Anita Lasker, eine deutsche Jüdin.

Sie ist sehr jung, diese Stimme, sehr sicher und sehr fest. Sie wollten Ihre Schwester in Großbritannien wissen lassen, dass Sie überlebt haben. Aber schon in dieser allerersten, kurzen Wortmeldung, die wir von Ihnen kennen – und die ich natürlich auch erst Jahrzehnte nach der Aufnahme gehört habe –, sprechen Sie nicht für sich allein. Sie sprechen über Auschwitz, sprechen für die Überlebenden und für die Toten. Und Sie sprechen darüber, dass die wenigen, die überlebt haben, fürchteten, dass die Welt nicht glauben wird, was dort mit ihnen geschehen ist.

Daher rührt mein Erstaunen und auch meine Ergriffenheit. Dass eine so junge Stimme die Kraft findet, zu sprechen, so zu sprechen – noch mitten im Inferno Bergen-Belsens. Denn sprechen heißt ja, nach einer Form zu suchen, das Unfassbare in Worte zu fassen. Sie dem Unsagbaren abzutrotzen.

Wer kann ermessen, was es heißt, als Überlebende zu sprechen? Wie überhaupt kann man über das Erlebte sprechen, wenn die Sprache, die man erlernt hat, keine Worte dafür kennt? Wenn man in eine deutsch-jüdische Familie in Breslau geboren wurde, in der gemeinsam musiziert und gelesen wurde? Eine Familie, in der Deutschsein hieß, so haben Sie es einmal gesagt, die Musik Bachs und Beethovens zu lieben, in der noch unter der Drohung der Deportationen Schillers Don Carlos gelesen wurde? In der Kultur ein Zuhause war?

Die Barbarei der Lager, der Ungeist und die Unkultur des nationalsozialistischen Regimes kannten keine Sprache als Mittel der Verständigung. Man drohte oder kommandierte und missbrauchte Musik als Taktgeber für Aufmärsche oder zur sentimentalen Erbauung von Mördern.

Wie also spricht man als Überlebende über das Erlebte? Die Literatur hat Formen dafür gefunden. Imre Kertész nannte es atonales Erzählen: Wenn das erlebte Grauen sich nicht mehr einfügen lässt in eine gemeinsame Erfahrungswelt, muss sich auch die Sprache allem bislang Dagewesenen, Erprobten und Kultivierten widersetzen. Über Auschwitz zu sprechen, gelang Kertész schreibend. In der Literatur.

Drängender noch Elie Wiesel! Für ihn waren Erinnerung und das Sprechen darüber Verpflichtung: Wer durch Schweigen zum Vergessen beiträgt, heißt es in seinem Plädoyer für die Überlebenden, vollendet das Werk der Mörder. Deshalb will der Überlebende Zeugnis ablegen.

Doch erst wenn wir, die wir die Welt des Lagers nicht erlebt haben, uns mit der Frage konfrontieren, was es für die Überlebenden bedeutet hat, zu sprechen, dann ahnen wir vielleicht, dass sich die Erfahrung der Todeslager nicht oder nur schwer mitteilen lässt. Dass sie die Überlebenden von den Lebenden trennt, weil es keine Kontinuität gibt zwischen der Erfahrungswelt eines Todeslagers und einem Leben, das das tägliche Grauen, die totale Entwürdigung und den Tod nicht kennt. Dann ahnen wir, dass die Überlebenden oft allein waren und es blieben. Die, die nicht sprechen konnten über Grausamkeiten, die sie erlebt oder erlitten hatten, ebenso wie die, die sprechen wollten, aber ignoriert wurden von denen, die die Vergangenheit schnellstmöglich hinter sich lassen wollten.

Nur wenige, viel zu wenige haben sich bemüht, die Einsamkeit der Opfer zu lindern.

Wir wissen: Es gab während des Nationalsozialismus Zeugen von Demütigung, Verfolgung und Deportation jüdischer Mitbürger. Gerade ihr Schweigen, das Schweigen der Täter und der Mitwisser, die Verdrängung von Schuld und das Scheitern von Trauer in Deutschland ließen die Einsamkeit der Überlebenden zu einer existenziellen Last werden. Für Paul Celan, für Primo Levi und Jean Améry wurde sie zu schwer. Dieses Schweigen war – im wörtlichen Sinn – ein Totschweigen, die Vollendung eines mörderischen Werks. Es erfüllt mich und uns bis heute mit Scham.

Umso bedeutender ist, was Sie, liebe Frau Lasker-Wallfisch, getan haben: sich über Jahrzehnte hin gegen das Schweigen und Verdrängen zu stemmen. Dass es schließlich gelang, das Totschweigen in diesem Land zu brechen, verdanken wir Menschen wie Ihnen. Wir verdanken es den Überlebenden, die Zeugnis ablegten, die sprachen und schrieben.

Es dauerte quälend lange, bis sie gehört wurden, bis mit den Auschwitzprozessen Mitte der 1960er Jahre ein Ende des Schweigens auch in der deutschen Gesellschaft eingeleitet war. Bis sich die Erstarrung löste, in der dieses Land bis dahin verharrt hatte.

Eine Bedingung dafür waren die Prozesse. Nicht, weil es gelungen war, dem Menschheitsverbrechen der Shoah mit den Mitteln der Rechtsprechung beizukommen, sondern weil das Elend des Schweigens öffentlich wurde. Die Opfer wurden zu Zeugen. Man befragte sie, und sie sprachen – viele von ihnen unter Qualen –, während die Täter weiter schwiegen und leugneten.

Doch dieses Schweigen und Leugnen war nun ein öffentliches Schweigen und Leugnen. Vor den Augen der Welt, vor allem aber vor den Augen und Ohren der deutschen Öffentlichkeit offenbarte sich das Unrecht, das dieses Schweigen bedeutete. Die Täter wollten nicht nur unbehelligt bleiben von jedem Anspruch auf Sühne, sie wollten unberührt bleiben von Schuld und von Scham. Eine jüngere Generation forderte wenig später von ihren Vätern und Müttern Rechenschaft darüber, warum das Schweigen und Verdrängen so lange geduldet worden war.

Die Tonbandprotokolle der Auschwitzprozesse belegen: Man kann Schuld hören. Das Leugnen und Schweigen der Täter ist sehr beredt. Ihre Aussagen sind unerträglich, aber lehrreich. Für uns Deutsche sind sie zum Schämen. Und möglicherweise ist das Schamgefühl, das sie erzeugen, Teil der kathartischen Wirkung, die die Auschwitzprozesse hatten. Sie setzte nicht unmittelbar ein, aber sie war nachhaltig.

Fritz Bauer war damals hessischer Generalstaatsanwalt. Ihm hat dieses Land zu verdanken, dass immerhin versucht wurde, die Verbrechen in Auschwitz-Birkenau vor ein deutsches Gericht zu bringen. Und dieser Fritz Bauer kam, wie Sie, aus einer deutsch-jüdischen Rechtsanwaltsfamilie – aus jener Welt, aus der auch Alfons und Edith Lasker, Ihre Eltern, kamen, liebe Frau Lasker-Wallfisch. Eine Welt, die Sie so gut kennen und uns so gut beschrieben haben.

Die Wahrheit ist schmerzhaft, aber sie ist dem Menschen zumutbar. Es gäbe kein jüdisches Leben, keine Verständigung und keinen Dialog in diesem Land ohne diese Erkenntnis.

Die Wahrheit der Vernichtungslager ist eine Last, die zu tragen allein den Überlebenden zugemutet wurde. Sie konnten sie nicht verdrängen. Für die Überlebenden ist das Erlebte eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Wenn man erlebt und gesehen hat, was wir erlebt und gesehen haben, schreiben Sie in Ihrem Buch Ihr sollt die Wahrheit erben, braucht man keine Fragen, um sich zu erinnern. Das Erlebte bleibt unauslöschlich im Gedächtnis.

Dass Sie diese Wahrheit heute mit uns teilen, als Zeitzeugin mit Schülerinnen und Schülern sprechen, gegen das Vergessen sprechen und für eine Zukunft, in der wir gemeinsam leben können, ist ein Geschenk – und noch viel mehr als das. Es ist auch ein Verdienst um die Zukunft dieses Landes, ein Verdienst von unschätzbarem Wert.

Die Bundesrepublik Deutschland wäre heute nicht das Land, das wir kennen und in dem wir leben wollen, wenn wir unsere Vergangenheit nicht angenommen hätten. Und wie hätten wir sie annehmen können ohne die Hilfe, die uns angeboten wurde, von Menschen wie Ihnen, Frau Lasker-Wallfisch, und Ihrer Schwester Renate Lasker-Harpprecht.

Es ging nie darum, diese Geschichte nur lange genug zu bewältigen, um zu einem unverkrampften Verhältnis zur eigenen Nation zurückkehren zu können. Verkrampft ist ein Verhältnis zur eigenen Nation, das die Geschichte umschreiben muss zu einer makellosen Kette von Leistungen und Errungenschaften. Wer glaubt, er brauche eine bereinigte Geschichtsschreibung als Ausweis der Größe der eigenen Nation, ist ein Nationalist, aber kein Patriot.

Der Deutsche Nationalpreis, wie ihn Helmut Schmidt mit Gleichgesinnten wie Gerd Bucerius, Reimar Lüst, Fritz Stern, Kurt Masur, Günter de Bruyn und Ignatz Bubis begründet hat, will Verdienste um unser Land würdigen. Frau Lasker-Wallfisch, Ihr Bemühen um Verständigung, vor allem mit jungen Deutschen, Ihr Eintreten gegen Antisemitismus, gegen Ausgrenzung und für Toleranz ist so ein Verdienst. Wir danken Ihnen dafür.

Ihr Land, Deutschland, dankt Ihnen dafür!

Neben dem Dank bleibt heute unsere Verantwortung, die Erinnerung an die Shoah weiterzutragen und damit auch unser Wissen über die Bedingungen des Erinnerns und des Sprechens über sie. Es wird immer auch Widerstände dagegen geben, und unsere Verpflichtung ist es, die Erinnerung gegen diese Widerstände zu verteidigen. Ich habe gesagt: Für die Überlebenden ist das Erlebte eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Und ich füge hinzu: Für uns Nachgeborene ist die Erinnerung eine Verantwortung, die nicht vergeht – die bleibt.

Gerade in diesen Zeiten, in denen wir leben, werden wir dem alten Schweigen und Leugnen wieder deutlicher entgegentreten müssen. Mit dem wiederauflebenden Antisemitismus dürfen und werden wir uns niemals abfinden. Antisemitismus darf keinen Platz haben in unserer Gesellschaft. Ihn werden wir bekämpfen – in unserem Land ebenso wie als Europäer in Europa. Ich bin überzeugt, wir haben die Kraft dazu. Eine historische Schuld kann nicht beglichen oder aufgerechnet werden, aber sie muss uns leiten in der Gegenwart. Vergangenheit kennt keinen Schlussstrich. Sie nimmt uns in die Pflicht. Heute nicht weniger als gestern. Die Überlebenden der Shoah haben Hoffnung in uns gesetzt. Sie, Frau Lasker-Wallfisch, haben Hoffnung in uns gesetzt. Ihrer Hoffnung und unserer Verantwortung wollen wir gerecht werden.

Ich beglückwünsche Sie herzlich zum Preis der Nationalstiftung. Er will Ihr Lebenswerk ehren. Indem Sie ihn annehmen, ehren und ermutigen Sie vor allem das Land, in dessen Namen er verliehen wird.