Begegnungsreise mit dem Diplomatischen Korps

Schwerpunktthema: Rede

Rheinland-Pfalz, , 18. September 2019

Der Bundespräsident hat am 18. September bei der Informationsreise mit dem Diplomatischen Korps nach Rheinland-Pfalz eine Ansprache gehalten: "Wir alle merken: Die tektonischen Platten der Weltordnung verschieben sich, aber eine neue Ordnung ist noch nicht klar erkennbar. Ich glaube, wenn wir die neue globale Ordnung nicht nur erleiden wollen, dann verlangt sie von uns allen Selbstbewusstsein und Gestaltungswillen. Auch von meinem Land."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim Mittagessen mit den Diplomatinnen und Diplomaten bei einer Moselfahrt während der Informations- und Begegnungsreise mit dem Diplomatischen Korps

Rheinland-Pfalz, der Hunsrück und die Mosel sind besonders schöne Gegenden Deutschlands. Falls sich das noch nicht auf der ganzen Welt herumgesprochen hat, wird sich das spätestens morgen ändern. Denn ich kenne noch aus Außenministerzeiten das Brot- und Buttergeschäft der Diplomatie: den Drahtbericht. Morgen früh – kaum zurück in Berlin – werden die Botschafterinnen und Botschafter die Kunde vom hügeligen Hunsrück und der mäandernden Mosel um die ganze Welt kabeln.

Verehrter Herr Nuntius, sehr geehrte Botschafterinnen und Botschafter, heute können Sie Drahtbericht mal Drahtbericht sein lassen.

Für mich ist unsere Reise eine schöne Gelegenheit, mit Ihnen abseits des Protokolls ins Gespräch zu kommen. Wenn wir uns bei offiziellen Anlässen treffen – bei Ihrer Akkreditierung oder meinem Neujahrsempfang in Schloss Bellevue – geht es ja etwas förmlicher zu: Cut, Defilee – Sie wissen schon.

Heute machen wir zusammen eine kleine Schiffspartie und befinden uns damit in guter Gesellschaft. Schon Kurt Tucholsky, Karl Marx oder Johann Wolfgang von Goethe schrieben über ihre Erlebnisse auf und abseits der Mosel – oft inspiriert von einem oder zwei oder drei Gläschen Moselwein.

Goethe war 1792 auf seinem Rückweg aus Frankreich stromabwärts bei Traben-Trarbach unterwegs. Es war Nacht und ein heftiger Sturm kam auf. Der Dichterfürst bangte um sein Leben und notierte:

Der Schiffmeister barg nicht seine Verlegenheit; die Not schien immer größer, je länger sie dauerte, und der Drang war aufs höchste gestiegen, als der wackere Mann versicherte, er wisse weder, wo er sei, noch wohin er steuern solle.

Ich habe aufgemerkt bei dieser Zeile: der Schiffmeister wusste weder, wo er sei, noch wohin er steuern solle.

Kein ganz unbekannter Befund. Unsere Welt verändert sich, immer schneller, immer grundlegender. Das feste Ufer gerät aus dem Blick – alte Gewissheiten der internationalen Ordnung scheinen dahin. Die Stürme internationaler Krisen wehen uns ins Gesicht, und die Wellen schlagen auch im Innern, über dem Kahn unseres Gemeinwesens, zusammen.

Ich als Bundespräsident, vielleicht auch Sie als Diplomatinnen und Diplomaten, die Verantwortung tragen für das Miteinander der Völker, fragen dieser Tage so manches Mal: Wo sind wir und wohin steuern wir?

Was mein Land betrifft, Deutschland, so lassen sich hier in Rheinland-Pfalz, im Hunsrück und an der Mosel, viele Stürme, viele Umbrüche und Aufbrüche der deutschen Geschichte nachvollziehen. Aufkeimende und zerstörte Hoffnung, Ab- und Aufschwung, Rückschläge und Umwege, Strukturwandel und Neuanfang.

Nicht weit von hier demonstrierten 1832 Tausende auf dem Hambacher Schloss für Freiheit und Demokratie. Karl Marx, der Sohn Triers, beschrieb, wie später Repression und Restauration wüteten, wie die Moselwinzer unter Behördenwillkür und Unterdrückung litten. Missernten und Hunger zwangen viele zur Auswanderung.

Edgar Reitz – ein großer Filmemacher – hat diesen Auf- und Umbrüchen im Hunsrück in seiner Heimat-Trilogie ein cineastisches Denkmal gesetzt, eine beeindruckende Chronologie von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Fall der Mauer. Ich empfehle sie allen, die versuchen, dieses Land und seine Menschen zu verstehen.

Und heute? Auch heute ist Demokratie – auch bei uns in Deutschland – ganz gewiss kein auf ewig fest gefügtes Werk. Politische, gesellschaftliche und technologische Umbrüche, so wie Edgar Reitz sie über Jahrzehnte akribisch nachgezeichnet hat, erleben wir heute geradezu wie im Zeitraffer.

Und wir spüren, dass diese Umbrüche und Fliehkräfte auch an unserer Demokratie rütteln. Ja: Nicht nur Gewissheiten der Außenpolitik sind ungewiss geworden, sondern auch so manche inneren Fragen, Fragen nach der Verfasstheit von Demokratie und Rechtsstaat, Fragen, die wir eigentlich für längst beantwortet hielten, werden neu gestellt.

Ich bin überzeugt, wir dürfen vor solch grundsätzlichen Fragen nicht zurückschrecken. Wir dürfen Kritik nicht kleinreden und wir dürfen die Frustrierten und Wütenden nicht zur Seite schieben. Sondern wir müssen lernen, auch hier in Deutschland, für die Demokratie aufs Neue selbstbewusst zu streiten und den Gegnern der Demokratie nie die Öffentlichkeit zu überlassen. Und wir müssen neue Antworten finden, wo alte ganz offensichtlich nicht mehr tragen.

Zu diesem Prozess gehört in meinen Augen der offene Austausch mit und auch das Lernen von anderen. In der ersten Hälfte meiner Amtszeit habe ich auf der ganzen Welt Länder besucht, die im Aufbruch sind, die Hoffnung machen, die – inmitten aller globalen Krisen und Umbrüche – neue Wege, eigene Wege in Richtung Zukunft gehen. In Äthiopien und Ghana, in Ecuador und Usbekistan, in Island und Neuseeland, und ich könnte noch viele andere aufzählen.

Ich habe neue und andere Antworten kennengelernt –Antworten auf außenpolitische Fragen, auf gesellschaftliche Herausforderungen, auf die offenen Fragen nach der Zukunft von Demokratie. Ich bin zutiefst dankbar für diese Eindrücke – und ich versuche, sie auch den Menschen in Deutschland zu vermitteln, damit sie sich – in der Flut von Schreckensmeldungen, die täglich über unsere Bildschirme flimmern – inspirieren und anstecken lassen von diesen Geschichten von Aufbruch und Erneuerung.

No man is an island entire of itself, schrieb ein englischer Lyriker im 17. Jahrhundert – Kein Mensch ist eine Insel, in sich ein Ganzes.

Analog gilt: Kein Land ist eine Insel, auch nicht die mit viel Wasser um sich herum. Unsere Welt ist vernetzt, verflochten und wir alle stark voneinander abhängig.

Schon der Wiener Kongress hatte die Rheinuferstaaten verpflichtet, den Schiffsverkehr gemeinsam zu regeln.

Über Jahrhunderte hinweg galten hier in Europa die großen Ströme als Bindeglieder zwischen Fürstentümern, Kaiser- und Königreichen: der Rhein, die Donau oder die Memel, die auf Litauisch Nemunas und auf Weißrussisch Njoman heißt.

Ebenfalls auf einem Fluss, auf einem kleinen Moselschiff, unterzeichneten 1985 fünf EU-Mitgliedstaaten das Schengener Abkommen. Diese historische Moselfahrt, sie brachte grenzenlose Fahrt für Personen und Waren, sie beförderte die Schlagbäume Europas auf den Schrotthaufen der Geschichte.

Aber das war eben nicht das Ende der Geschichte. Heute spüren wir, wie die Idee vom Nutzen und Wert internationaler Verflechtung, Zusammenarbeit und gemeinsamer, regelbasierter Ordnung herausgefordert, sogar infrage gestellt wird.

Der Hüter der vertrauten Weltordnung scheut heute die Bürde der Verantwortung; Welt ohne Hüter war der Titel eines Aufsatzes des deutschen Politikwissenschaftlers Münkler, der kürzlich im Tagesspiegel erschienen ist. Der Aufstieg neuer Mächte mit ganz anders ausgelegten politischen Systemen führt zu neuer Mächtekonkurrenz. Wir alle merken: Die tektonischen Platten der Weltordnung verschieben sich, aber eine neue Ordnung ist noch nicht klar erkennbar.

Ich glaube, wenn wir die neue globale Ordnung nicht nur erleiden wollen, dann verlangt sie von uns allen Selbstbewusstsein und Gestaltungswillen. Auch von meinem Land.

Gerade deshalb müssen wir als internationale Gemeinschaft im Gespräch bleiben. Im Austausch miteinander kann es nicht in erster Linie ums Rechthaben gehen. Nicht um Abgrenzung, Ausgrenzung oder Schubladendenken nach dem Motto: So seid Ihr – so sind wir. Sondern gerade inmitten von Spannungen, gerade im Angesicht unserer Unterschiede kann der Dialog konstruktiv sein.

Sie, liebe Botschafterinnen und Botschafter, stehen ein für den Dialog, für offene Kanäle zwischen Berlin und den Hauptstädten der Welt. Auch dafür möchte ich Ihnen herzlich danken.

Dieser Dialog ermöglicht uns allen einen offenen Horizont. So ähnlich endete denn auch Goethes Sturmnacht auf der Mosel. Ich zitiere: Im Stockfinstern lange hin und her geworfen, bis sich endlich in der Ferne ein Licht und damit auch Hoffnung auftat. Nun ward nach Möglichkeiten drauf los gesteuert und gerudert.

Die Geschichte ist kein langer, ruhiger Fluss. Ihr Weg ist nicht vorgezeichnet, sondern wir steuern ins Offene und ins Ungewisse. Doch in der Ferne ist Licht. In der Ferne ist Hoffnung.

Das habe ich in vielen Ihrer Heimatländer immer wieder spüren dürfen – und dafür bin ich dankbar. Wir steuern ins Offene, doch das Ruder liegt in unserer Hand.

Herzlichen Dank!