Staatsbankett in der Italienischen Republik

Schwerpunktthema: Rede

Rom/Italien, , 19. September 2019

Der Bundespräsident hat am 19. September beim Staatsbankett, gegeben vom Präsidenten der Italienischen Republik, Sergio Mattarella, in Rom eine Rede gehalten: Europa braucht ein starkes und ein aktives Italien – ebenso wie ein starkes und aktives Deutschland. Das heißt nicht, den Ton anzugeben, sondern gemeinsame Lösungen zu ermöglichen. Das erfordert die Bereitschaft zuzuhören und die Sichtweise des Gegenübers zu verstehen. Das offene Ohr muss unsere Europapolitik bestimmen, nicht der erhobene Zeigefinger.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim Staatsbankett, gegeben vom Präsidenten der italienischen Republik, Sergio Mattarella, in Rom während des Staatsbesuchs in Italien

Napule è mille culure
Napule è mille paure
Napule è nu sole amaro
Napule è addore è mare.

Neapel ist tausend Farben
Neapel ist tausend Ängste
Neapel ist eine bittere Sonne
Neapel ist der Duft des Meeres.

Nein, ich habe leider noch kein Neapolitanisch gelernt. Aber ich freue mich, dass ich morgen zum ersten Mal in die Stadt von Pino Daniele reisen werde – und ich bin geehrt, dass Sie, verehrter Herr Präsident Mattarella, mich dorthin begleiten werden.

Niemand hat eindringlicher und gefühlvoller als der große Pino Daniele die Liebe zu seiner Heimatstadt besungen. Aus seinen Worten spricht eine Sehnsucht, die wir Deutschen nur allzu gut kennen. Eine merkwürdige Mischung aus Anziehung und Irritation, die uns nicht nur mit Neapel, sondern mit ganz Italien verbindet. Eine Sehnsucht, die uns seit Jahrhunderten immer wieder über die Alpen gen Süden hat pilgern lassen. Und die – ich weiß das aus eigener Erfahrung – nicht heilbar ist.

Und trotz der bitteren Sonne ist viel Gutes aus dieser Sehnsucht gewachsen. Wir sind Nachbarn, vertrauensvolle Partner und enge Freunde geworden, nicht nur auf dem Papier, sondern im alltäglichen Leben. Die Zahl der deutschen Touristen in Italien wächst ungebrochen. Tonnenweise Autos und Autoteile, Maschinen, chemische Erzeugnisse, Lebensmittel und vieles mehr werden täglich über die Alpen hin und her gehandelt. Renzo Piano und Franco Stella haben das Stadtbild des modernen Berlins mitgeprägt. Die Uffizien haben, jedenfalls derzeit noch, einen deutschen Direktor. Und nachdem in den 1960er und 1970er Jahren vier Millionen italienische Arbeitsmigranten – man sagte damals Gastarbeiter –, oft unter harten Bedingungen, am deutschen Wirtschaftswunder mitgearbeitet haben, kommen auch heute wieder viele Italienerinnen und Italiener nach Deutschland, um ihr Glück zu suchen.

Mein Land, Deutschland, ist durch diesen Austausch, durch diese enge Verbindung offener, europäischer, liebenswerter geworden. Den Duft des Mittelmeeres haben wir zwar noch immer nicht, aber die Deutschen sitzen heutzutage selbstverständlich und souverän beim Aperol Sprizz im Straßencafé und lesen Elena Ferrante oder Roberto Saviano, während sie auf ihre Pasta all'amatriciana warten. Und ich bin sicher: Bald werden sie auch noch lernen, dass man nach dem Essen keinen Cappuccino trinkt. Non si fa!

Ja, es ist viel Gutes gewachsen. Und vor allem hat unsere enge Verbindung in den letzten Jahrzehnten auch politisch Früchte getragen: in unserem gemeinsamen Einsatz für ein vereintes Europa.

Lieber Sergio Mattarella, mein lieber, geschätzter Freund, am 25. August haben wir gemeinsam in Fivizzano der entsetzlichen Verbrechen gedacht, die Deutsche vor 75 Jahren dort begangen haben. Die Erinnerung lebt in jeder einzelnen Familie des Ortes fort. Das Grauen lässt auch uns bis heute nicht los. Und doch haben die Bewohner uns versöhnlich empfangen, warmherzig und freundschaftlich. Das hat mich zutiefst bewegt.

Sie, lieber Herr Präsident, haben an diesem Tag davor gewarnt, dass wir uns nicht in falscher Sicherheit wiegen dürfen. Sie haben Primo Levi zitiert: Es ist geschehen. Also kann es wieder geschehen. Wir, die wir heute leben, tragen Verantwortung dafür, dass dies nicht passiert. Deshalb gründet das vereinte Europa auf einem Versprechen: Nie wieder Krieg, nie wieder entfesselter Nationalismus, nie wieder Rassismus, Hetze und Gewalt.

70 Jahre lang haben wir dieses Versprechen mit Leben gefüllt – Deutschland und Italien gemeinsam mit den anderen Gründungsstaaten und all den Partnern, die im Laufe der Zeit dazugekommen sind. Der Traum von Altiero Spinelli von einem liberalen und offenen Europa hat uns über Jahrzehnte Frieden und Wohlstand gebracht.

Wenn Nationalisten und Populisten heute, 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dieses Europa verächtlich machen, wenn das Gift des Nationalismus in unsere Debatten einsickert und unsere Demokratie angefochten wird, dann müssen gerade Deutschland und Italien entschieden dagegenhalten – und ebenso entschieden die Weichen für Europas Zukunft stellen: Ganz konkret zum Beispiel in der Frage der Migration und für die Befriedung der Krise in Libyen. Deshalb bin ich froh, dass Italien wieder auf dem europäischen Spielfeld zurück ist. Europa braucht ein starkes und ein aktives Italien – ebenso wie ein starkes und aktives Deutschland. Das heißt nicht, den Ton anzugeben, sondern gemeinsame Lösungen zu ermöglichen. Das erfordert die Bereitschaft zuzuhören und die Sichtweise des Gegenübers zu verstehen. Das offene Ohr muss unsere Europapolitik bestimmen, nicht der erhobene Zeigefinger.

Sie, lieber Sergio Mattarella, sind ein Garant für die europäische Ausrichtung ihres Landes. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Die Deutschen blicken mit großer Anerkennung auf die Klarheit Ihrer Positionen und die Beharrlichkeit, mit der Sie den inneren und äußeren Frieden zu erhalten suchen. Sie stehen für Prinzipientreue und Anstand, für Maß und Respekt. Sie haben in den vergangenen Monaten immer wieder eindrucksvoll bewiesen, welche Kraft Vernunft und Ausgleich in der Krise entfalten können.

Und persönlich bin ich dankbar, dass wir unseren freundschaftlichen und vertrauensvollen Austausch fortsetzen können, den ich jedes Mal neu als bereichernd und – in turbulenten Zeiten wie diesen – auch als ermutigend empfinde. Noch einmal herzlichen Dank für die Einladung zu diesem Staatsbesuch. Gerade weil unsere Länder so viel verbindet, können wir immer wieder voneinander lernen. Dazu bin ich hier, und dazu reise ich morgen voller Neugier nach Neapel: Um mir selbst ein Bild zu machen von den Schwierigkeiten ebenso wie von der ungeheuren Energie und Kreativität des Südens.

Neapel ist tausend Farben, Neapel ist tausend Ängste. Wir leben in Zeiten, in denen die Vielfalt und Offenheit, die Ambivalenzen und Widersprüche in unseren Gesellschaften uns herausfordern, und uns immer wieder abverlangen, Vorurteile und Gräben zu überwinden. Lassen Sie uns gemeinsam, Deutschland und Italien, an solchen Brücken bauen – über manche Gräben in Europa hinweg.

Sehr geehrte Damen und Herren, erheben Sie mit mir das Glas auf Ihr Wohl, lieber Herr Präsident Mattarella, und auf die Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern.

Viva l'amicizia tra Italia e Germania. Salute e grazie mille!