Gemeindetag des Zentralrates der Juden in Deutschland

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 19. Dezember 2019

Der Bundespräsident hat am 19. Dezember beim Gemeindetag des ZdJ in Berlin eine Rede gehalten: "Antisemitische Äußerungen sind kein Bürgerrecht. Und es fällt auch nicht unter das Recht auf freie Meinungsäußerung, antisemitische oder antizionistische Parolen als Kritik an der Politik Israels zu deklarieren. Antisemitismus ist keine Meinung, er ist ein Ressentiment, egal in welcher Form und aus welcher Ecke er sich äußert."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Gemeindetag des Zentralrats der Juden in Deutschland in Berlin.

Likrat, aufeinander zugehen, dieses hebräische Wort habe ich gelernt. Ich habe es von jüdischen Jugendlichen gelernt, denen ich gerade eben, vor Beginn der Veranstaltung mit dem Vorsitzenden des Zentralrats, begegnet bin. Jugendliche, die in Schulen nichtjüdischen Gleichaltrigen ihren Glauben erklären, ihre Fragen beantworten, ihnen vermitteln, was es für sie bedeutet, Jude oder Jüdin zu sein. Schon im vergangenen Jahr hat die Dokumentarfilmerin und Grimme-Preisträgerin Britta Wauer dieses Projekt in einem ihrer wunderbaren Filme vorgestellt.

Viel Wärme, Begeisterung, Engagement, Realitätssinn sind in diesem Film zu spüren. Diese einladende Atmosphäre erlebe ich auch hier, bei Ihnen, auf dem Jüdischen Gemeindetag. Lieber Josef Schuster, verehrte Damen und Herren: Haben Sie herzlichen Dank für diese Einladung! Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein! Und ich bin hier in der Überzeugung, dass es die richtige Zeit ist, hier zu sein!

Likrat, aufeinander zugehen: Sie alle kennen dieses Wort, werden dieses Projekt kennen und vermutlich auch den Film. Es ist eine Idee, die mich überzeugt. Eine ebenso schöne wie einfache Weise, dem eigenen Glauben ein Gesicht zu geben, auf Andersgläubige zuzugehen, miteinander ins Gespräch zu kommen, Gemeinsames zu entdecken.

Aufeinander zugehen – ich glaube, viele in unserem Land, Juden und Nichtjuden, haben diesen Wunsch! Doch der Weg, auf dem wir einander entgegengehen, ist beschwerlicher geworden in den vergangenen Jahren. Wer fürchten muss, auf offener Straße angegriffen, beschimpft oder bespuckt zu werden; wer erleben muss, dass die eigenen Kinder auf dem Schulhof verhöhnt werden, wird das Vertrauen kaum aufbringen können, auf andere zuzugehen, sich zu öffnen und zu Hause zu fühlen.

Aufeinander zuzugehen braucht Vertrauen. Viele, ganz viele von Ihnen sind vor dreißig Jahren einen weiten Weg gegangen. Sie haben ein Land verlassen – Familienangehörige, Ihre vertraute Umgebung -, um hier zu leben, hier eine Heimat zu finden. Sie haben Vertrauen in dieses Land gesetzt, ein Vertrauen, das nach der Shoah alles andere als selbstverständlich ist.

Mehr noch: Sie alle – ob alteingesessen oder neu hinzugekommen –, die Sie zur jüdischen Gemeinschaft in Deutschland gehören, haben sich, Ihre Kinder, Ihre Familien, Ihre Zukunft diesem unserem Land anvertraut.

Auch deshalb bin ich hier, um Ihnen zu sagen: Ich weiß, dass Ihr Vertrauen fragil geworden ist. Antisemitische Angriffe in unserem Land nehmen zu. Der Weg aufeinander zu, den Sie gehen, wird Ihnen nicht leichter, sondern immer öfter schwer gemacht. Wie schwer – das zeigen viele Berichte aus dem Alltag der jüdischen Gemeinden, und das zeigen die großen politischen Sorgen, die, lieber verehrter Herr Schuster, auch die führenden Köpfe der jüdischen Gemeinschaft immer dringlicher und öffentlich formulieren.

In Deutschland zu Hause – das Motto Ihres Gemeindetags ist ein Bekenntnis. Doch in diesen Zeiten höre ich sehr wohl, dass mit diesem Bekenntnis auch eine Frage verbunden ist. Als Präsident dieses Landes kann und will ich diese Frage beantworten, indem ich bekräftige, was ich bei anderer Gelegenheit mit großem Ernst gesagt habe: Diese Republik ist nur dann vollkommen bei sich, wenn Juden hier vollkommen sicher sind. Um das Motto Ihres Gemeindetags aufzunehmen: Dieses Land ist für uns alle nur dann ein Zuhause, wenn auch Juden sich hier zu Hause fühlen.

Nach dem furchtbaren Anschlag von Halle, nach vielen, viel zu vielen antisemitischen Angriffen und Ausfälligkeiten, muss ich als Bundespräsident feststellen: Wenn Jüdinnen und Juden in dieser Weise angegriffen werden, dann ist diese Republik eben nicht vollkommen bei sich. Dann ist sie in ihrem Herzen angegriffen. Um es noch deutlicher zu sagen, auch die Mehrheit muss endlich verstehen: Dieses Land bleibt nicht dasselbe, wenn das Recht und die Würde von Minderheiten angegriffen und bedroht werden.

Jeder Angriff auf Sie ist ein Angriff auf unsere gesamte Gesellschaft, auf diesen Staat, auf unser Selbstverständnis. Warum? Weil Antisemitismus die Grundlagen unseres Gemeinwesens infrage stellt. Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Das Grundgesetz stellt den Schutz der Menschenwürde nicht zufällig allem anderen voran. Die meisten seiner Mütter und Väter hatten erfahren, was es bedeutet und wohin es führt, wenn die Würde des Menschen, wenn der Mensch selbst nichts mehr gilt. Wir wissen um diese Geschichte. Wir wissen um die Zerstörung der Demokratie, die Beseitigung bürgerlicher Freiheiten und aller Sicherheiten des Rechtsstaats, um Rassenhass, Verfolgung, Folter, millionenfachen Mord. Die Erfahrung der Shoah ist in das Bekenntnis des Artikels 1 Grundgesetz nicht nur eingegangen – sie ist sein Kern.

Der Anschlag in Halle hat mich fassungslos gemacht und zornig zugleich. Zornig, weil allein eine Synagogentür dem Angriff auf die Gemeinde standhalten musste. Weil eine Tür der letzte Schutz, die letzte Barriere zwischen entfesseltem Hass, Gewalt, giftiger Ideologie und einer jüdischen Gemeinde war.

Nach diesem mörderischen Angriff, einem Angriff, der zwei Menschen das Leben kostete, will ich nicht länger darüber diskutieren müssen, ob es notwendig ist, jüdische Einrichtungen an hohen Feiertagen mit Polizei zu schützen.

Es ist notwendig. Das ist traurig genug. Der Staat aber hat dieser Notwendigkeit ohne Wenn und Aber entschlossen Rechnung zu tragen.

Aber wer bei dieser Notwendigkeit endet, greift zu kurz, viel zu kurz.

Wir haben es mit einem ideologischen Gift zu tun, mit einem Übel, das sich immer neue Gewänder überwirft und neue Koalitionen eingeht – immer schon im Bund mit Nationalismus und Rassismus, aber auch anschlussfähig an andere Ideologien und Moden: an Frauenfeindlichkeit, Homophobie, an Muslimfeindlichkeit wie auch an Islamismus, an Teile der Rapperszene und Rechtsrock. Es reicht nicht, sich nur angewidert abzuwenden.

Wir müssen immer wieder klar und deutlich sagen: Antisemitische Äußerungen sind kein Bürgerrecht. Und es fällt auch nicht unter das Recht auf freie Meinungsäußerung, antisemitische oder antizionistische Parolen als Kritik an der Politik Israels zu deklarieren. Antisemitismus ist keine Meinung, er ist ein Ressentiment, egal in welcher Form und aus welcher Ecke er sich äußert. Vogelschiss, Schlussstrich, Schuldkult gehören ebenso in diese Kategorie wie der immer wiederkehrende verleumderische Mythos einer jüdischen Weltverschwörung. Nichts davon darf in diesem Lande unwidersprochen bleiben! Diesem Hass und diesem Ressentiment müssen alle widersprechen. Auch und vor allem diejenigen unter uns, die nicht Ziel dieses Hasses sind, müssen laut und vernehmbar widersprechen. Denn wenn wir schweigen, wenn wir nicht verhindern, dass die Atmosphäre in unserem Land weiter vergiftet wird, kann jeder und jede das nächste Ziel werden – das lehrt uns die Geschichte.

699 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund, darunter 22 Gewalttaten, in diesem Jahr allein in den Monaten Januar bis Juni – das ist beschämend. Noch beschämender wäre es, wenn diese Statistik folgenlos bliebe.

Die Zahl derer, die sich hörbar und sichtbar gegen Antisemitismus auflehnen, die ihn bekämpfen, in den Medien, im Plenum des Deutschen Bundestages ebenso wie auf Schulhöfen und in Klassenzimmern, die kann größer werden, nein, die Zahl derer, die widersprechen, muss größer werden!

Wer diesen Rechtsstaat will, wer unter seinem Schutz leben will, der muss bereit sein, für jeden einzustehen, der in seiner Würde bedroht ist, und zwar immer und überall dort, wo wir zu Zeugen solcher Angriffe werden. Der muss antisemitische und rassistische Äußerungen zurückweisen, Beleidigungen widersprechen, Vorurteilen entgegentreten.

Wer aber die Grenzen des Rechts verschieben und wer den Hass salonfähig machen will, muss auf entschiedenen Widerstand treffen. Denn es sind unsere Grenzen. Es ist unser gemeinsames Zuhause. Die Mehrheit in diesem Land will in Frieden hier leben, wie es ihm oder ihr gefällt, und glauben, was er oder sie glaubt. Genau das, Toleranz, Pluralismus und Demokratie, das wollen und müssen wir bewahren in unserem Land!

Seit mehr als 1.700 Jahren gibt es jüdisches Leben an Donau und Rhein. Das Judentum gehört zu Deutschland, es hat immer die deutsche Geschichte mitgeschrieben und geprägt, vor und nach der Shoah. Dass die jüdische Gemeinschaft mit der Zuwanderung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wieder gewachsen ist, ist ein Geschenk für dieses Land.

Wie viel reicher unser Leben dadurch geworden ist, kann man wohl selten so eindrücklich erleben wie gerade hier beim jüdischen Gemeindetag. Dass Ihre Gemeinschaft wächst, ist für uns alle ein Gewinn. Ich freue mich über die Gemeinden, ich freue mich über ihren Beitrag zur Integration, über Ihr Engagement für ein Gemeinwesen, an dem wir alle teilhaben. Vor wenigen Wochen zum Beispiel, beim jüdischen Wohltätigkeitstag, dem Mitzvah Day, haben mehr als dreitausend von Ihnen in ganz Deutschland für gute Zwecke angepackt.

Was wir als jüdische Renaissance in Deutschland feiern, ist zu großen Teilen das Verdienst der jüdischen Gemeinden. Und es ist ein Dienst an allen Generationen, vom Kindergarten bis zur Altenpflege. Sie sorgen dafür, dass alle Zugang finden, zu religiösen und kulturellen Bildungsangeboten, vor allem aber einen Zugang zur jüdischen Gemeinschaft. Auch die Einrichtung einer jüdischen Militärseelsorge in der Bundeswehr ist eines dieser Zeichen. Der Erfolg solcher Arbeit ist nicht nur eine wachsende Gemeinschaft, sondern eine Gemeinschaft, die sich etabliert, die teilhat am kulturellen, am wirtschaftlichen, am gesellschaftlichen Leben in Deutschland, die wieder Teil der deutschen Gesellschaft und der Kultur dieses Landes ist. Besser kann Gemeindearbeit nicht gelingen.

Ich weiß, dass es auf diesem Weg immer wieder auch Hindernisse gibt, aber ich halte mich an Wladimir Kaminer, der schon vor vielen Jahren einmal gesagt hat, er könne sich stundenlang über deutsche Behörden aufregen. Aber wer die deutsche Verfassung gelesen habe – und er habe sie zu Hause in deutscher und in russischer Sprache –, der wisse, dass dieses Land nach guten Gesetzen regiert wird, die jeder vernünftige Mensch unterschreiben würde.

Es fällt mir nicht ein, ihm zu widersprechen! Wir verdanken Wladimir Kaminer wunderbare Beiträge zu einem immer knapper werdenden Gut: Humor, russisch-jüdischer – oder ist es jüdisch-russischer Humor? Wahrscheinlich von beidem etwas. Und er ist nur ein Beispiel unter vielen. Unsere Buchhändler und unsere Leser leben heute von und mit den Romanen und Erzählungen Katja Petrowskajas, Lena Goreliks, Alina Bronskys und Olga Grjasnowas, Dmitrij Kapitelmans, Friedrich Gorensteins und Oleg Jurjews.

Diesen vielstimmigen Chor vor Augen, würde ich mir wünschen, dass auch die Zahl der jüdischen Stimmen in der deutschen Politik zunähme. Wir brauchen Sie, wir brauchen Ihre Erfahrung. Sie sind ein Gewinn für die deutsche Politik. Sie sind eine Bereicherung für die offene Gesellschaft!

Ihr Vertrauen und unsere Gemeinschaft wachsen zu lassen, ist unser aller Aufgabe.

Meine Damen und Herren, ich bin froh, Sie hier zu wissen, zu Hause in Deutschland!

Vielen Dank.