Festveranstaltung "30 Jahre Deutsche Gesellschaft e. V."

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 14. Januar 2020

Der Bundespräsident hat am 14. Januar bei der Festveranstaltung "30 Jahre Deutsche Gesellschaft e. V." eine Ansprache gehalten: "Wir müssen heute wieder dafür sorgen, Mauern abzutragen und den Zusammenhalt zu stärken. Wir müssen wieder lernen, mit Argumenten für unsere offene Gesellschaft zu streiten und die liberale Demokratie gegen Anfechtungen zu verteidigen. Mit anderen Worten: Wenn es Ihren Verein nicht schon gäbe, man müsste ihn heute erfinden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Festveranstaltung "30 Jahre Deutsche Gesellschaft e. V." in der Nikolaikirche in Berlin.

Im Januar 1990 starten die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in ein Jahr des Übergangs. Die Friedliche Revolution hat die Mauer zum Einsturz gebracht, der Sturm der Stasi-Zentrale und die ersten freien Volkskammerwahlen stehen bevor, ein großer Wandel liegt in der Luft. Und nach fast vierzig Jahren der Trennung begegnen sich Deutsche aus Ost und West nun wieder, Frauen und Männer aus zwei deutschen Gesellschaften treffen aufeinander.

Einige von ihnen – Bürgerrechtlerinnen und Politiker, Schriftstellerinnen und Künstler, Wissenschaftler und Unternehmer – gründen hier in der Berliner Nikolaikirche einen Verein, um die deutsch-deutschen Beziehungen zu fördern, wie es damals noch sehr diplomatisch heißt. Ihnen allen ist bewusst, was Willy Brandt später in einem berühmten Satz zusammenfassen wird: Mauern in den Köpfen stehen manchmal länger als die, die aus Betonklötzen errichtet sind.

Menschen aus Ost und West zusammenbringen, die Teilung überwinden, Vorurteile abbauen, ein gutes Miteinander in Deutschland und Europa fördern – das sind die Ziele der Gründerinnen und Gründer. Die Deutsche Gesellschaft ist der erste gesamtdeutsche Verein, der nach dem Fall der Mauer entsteht, und er ist bis heute ein Symbol für das Zusammenwachsen zweier Gesellschaften. Es ist schön, heute Vormittag bei Ihnen zu sein, hier an diesem historischen Ort. Deshalb danke ich ganz herzlich für die Einladung!

Der Weg ist frei, also gehen wir ihn! – unter diesem Motto rief Ihr Verein 1990 zum Sommer der Begegnung auf. Er bat Familien aus Westdeutschland, die eine Möglichkeit haben, einen jungen Gast aus der DDR für zwei oder drei Wochen bei sich aufzunehmen, sich schriftlich oder telefonisch bei ihr zu melden. Ich glaube, erst heute, dreißig Jahre danach, können wir wirklich ermessen, wie wichtig solche Begegnungen damals waren und wie wichtig sie heute immer noch sind, nicht nur zwischen Menschen aus östlichen und westlichen Bundesländern.

Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie den Weg der Begegnung seit 1990 weiter gegangen sind, dass Sie nichts verloren haben vom Schwung der Aufbruchszeit. Seit dreißig Jahren schafft die Deutsche Gesellschaft Räume, in denen Bürgerinnen und Bürger über politische und gesellschaftliche Fragen diskutieren können. Seit dreißig Jahren bringt sie die unterschiedlichsten Menschen zusammen, unabhängig von Herkunft, politischer Richtung oder religiösem Bekenntnis.

Sie alle helfen mit, dass unsere deutsche Gesellschaft miteinander im Gespräch bleibt, und Sie helfen mit, dass die deutsche Gesellschaft noch mehr ins Gespräch kommt mit Europa und der Welt. Dafür meinen ganz herzlichen Dank!

Gestern vor dreißig Jahren, bei der Gründungsfeier Ihres Vereins hier in der Nikolaikirche, hat der Regisseur und Publizist Konrad Weiß gesagt: Sorgen wir dafür, dass unsere Deutsche Gesellschaft nie zur geschlossenen wird. Das war auf Ihren Verein bezogen, aber ich glaube, diese Aufgabe ist heute auch für die deutsche Gesellschaft als Ganzes aktueller denn je.

Denn wir erleben ja, wie sich neue Mauern aufgetan haben in unserem Land und auch in Europa, wie Menschen sich abwenden von der ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft, wie Ralf Dahrendorf einmal gesagt hat. Wir müssen heute wieder dafür sorgen, Mauern abzutragen und den Zusammenhalt zu stärken. Wir müssen wieder lernen, mit Argumenten für unsere offene Gesellschaft zu streiten und die liberale Demokratie gegen Anfechtungen zu verteidigen. Mit anderen Worten: Wenn es Ihren Verein nicht schon gäbe, man müsste ihn heute erfinden.

Der Deutschen Gesellschaft ist es nie darum gegangen, selbst im Scheinwerferlicht zu stehen oder sich lautstark ins politische Tagesgeschäft einzumischen. Ihr Verein will das Gespräch in Ruhe fördern, den Austausch jenseits vordergründiger Medienaufmerksamkeit und außerhalb der parteipolitischen Konkurrenz, wie es in Ihrer ersten Pressemitteilung hieß.

Und ich glaube, gerade diese stille, aber deshalb nicht weniger wichtige Arbeit, gerade die historische und politische Aufklärung, die nachdenkliche und vernünftige Debatte – genau das ist es, was wir heute dringender denn je brauchen. Denn viele nutzen ja heute die unbeschränkte Möglichkeit, alles, was ihnen gerade durch den Kopf geht, in Nullkommanichts ins digitale Weltall hinauszusenden – häufig genug meinungsstark, aber wissensarm. Man schüttelt den Kopf, was alles öffentliches Interesse erregt, vor allen Dingen: was nicht. Man schüttelt den Kopf über das, was jeden Tag neue Empörungsstürme auslöst. Wir spüren, wie sich die Grenze des Sagbaren hin zum Unsäglichen merklich verschoben hat.

In Zeiten des medialen Dauerlärms und der öffentlichen Gereiztheit, der Verunsicherung und Ratlosigkeit müssen wir wieder das Zuhören lernen, das Mitdenken und das Argumentieren. Wir brauchen Neugier, Offenheit und Respekt im Umgang miteinander, wir brauchen die Bereitschaft, das Eigene am Anderen zu prüfen. Aber wir brauchen auch klare Grenzen gegenüber denjenigen, die die Regeln respektvollen Miteinanders absichtsvoll missachten, die Menschen ausgrenzen und verächtlich machen, die Hass gegen Andersdenkende und Andersgläubige schüren.

Die Deutsche Gesellschaft trägt mit ihrer Arbeit zur Verständigung bei, sie belebt den vernünftigen Diskurs und den konstruktiven Streit, aber sie stärkt gleichzeitig auch die Wehrhaftigkeit der liberalen Gesellschaft gegen ihre Feinde. Und dafür meinen ganz besonderen Dank!

In den vergangenen dreißig Jahren haben Sie sich einer Fülle von Aufgaben und Themen gewidmet. Besonders dankbar bin ich Ihnen dafür, dass Sie die Erinnerung an die deutsche Diktatur- und Demokratiegeschichte wachhalten. Denn wenn unsere Demokratie eine gute Zukunft haben soll, davon bin ich überzeugt, dann müssen wir auch gegen das Vergessen, das Verbiegen und Verleugnen unserer Geschichte kämpfen.

Das Jubiläum der Deutschen Gesellschaft steht am Beginn eines großen und zum Teil schwierigen Gedenkjahres, das uns Licht und Schatten der deutschen Geschichte in besonderer Art und Weise vor Augen führt. Wir erinnern uns an die Befreiung Europas vom Terror der Nationalsozialisten vor 75 Jahren. Wir erinnern uns an die Shoah und die Opfer des von Deutschen entfesselten Weltkrieges, an die Bombardierung deutscher Städte, an Flucht und Vertreibung. Wir erinnern uns an die Katastrophe der Teilung Europas und zugleich an das große Glück der deutschen Einheit vor dreißig Jahren.

Ich bin der Deutschen Gesellschaft dankbar, dass sie die Erinnerung an die dunklen und an die hellen Seiten der deutschen Geschichte auch jenseits von Gedenktagen wachhält. Denn die Erinnerung schafft erst das Bewusstsein, dass sich der Kampf für Freiheit und Demokratie nie erledigt hat, dass wir ihn immer wieder aufs Neue führen müssen. Und die Erinnerung an die mutigen Frauen und Männer, die in Deutschland immer wieder aufgestanden sind für ein besseres Leben in einem besseren Land, diese Erinnerung ist auch eine Quelle, aus der wir Kraft schöpfen können, um die großen Herausforderungen unserer Zeit selbstbewusst anzupacken.

Ich finde, wir können stolz darauf sein, was Sie als Deutsche Gesellschaft – großes D –, aber vor allem auch, was wir als deutsche Gesellschaft – kleines d – in den vergangenen dreißig Jahren gemeinsam geschafft haben, die Bürgerinnen und Bürger in Ost und West, allen Schwierigkeiten und auch allen Rückschlägen zum Trotz: den wirtschaftlichen Aufstieg vom kranken Mann Europas zu einem seiner Zugpferde, die Währungsunion, die Osterweiterung der Europäischen Union, die Solidarität und Entschlossenheit in der Finanz- und Wirtschaftskrise, nicht zuletzt die Aufnahme von mehr als einer Million Flüchtlingen in den Jahren 2015 und 2016. Ich finde, alles zusammengenommen eine gewaltige Leistung der gesamten Gesellschaft, die nur gemeinsam möglich war.

Der Weg ist frei, also gehen wir ihn! – dieser Satz steht für die Aufbruchsstimmung von 1990. Heute, dreißig Jahre danach, ist diese Stimmung bei manchen in unserem Land in Enttäuschung, Frust, bei manchen sogar in sichtbare Wut umgeschlagen. Umso wichtiger, dass wir uns daran erinnern, was wir gemeinsam bewegt haben. Umso wichtiger, dass wir unseren Weg gemeinsam weitergehen. Umso wichtiger, dass wir etwas von dem Mut, etwas von der Zuversicht, etwas von dem Selbstbewusstsein jener Zeit vor dreißig Jahren in unsere Zeit heute holen!

Dafür werden wir Sie brauchen – die Deutsche Gesellschaft und ihre Engagierten. Ich gratuliere zum Vereinsjubiläum und wünsche der Deutschen Gesellschaft eine gute Zukunft.

Danke schön.