Gedenkfeier des Landes Brandenburg für Manfred Stolpe

Schwerpunktthema: Rede

Potsdam, , 21. Januar 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei der Gedenkfeier des Landes Brandenburg für Bundesminister a.D. Manfred Stolpe in der Potsdamer Nikolaikirche am 21. Januar eine Ansprache gehalten: "Wir trauern um einen, der von sich selbst kein Aufheben machte und doch ein Großer war. Wir trauern um einen Brückenbauer, einen Meister des Dialogs, um einen Freund. Nicht nur seine Kirche, nicht nur Brandenburg, nicht nur Ostdeutschland, unser ganzes geeintes Land hat ihm viel zu verdanken!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Gedenkfeier des Landes Brandenburg für Bundesminister a. D. Manfred Stolpe in der St. Nikolaikirche in Potsdam.

Es wäre noch so viel zu fragen gewesen, noch so viel zu sagen gewesen. Vorbei!

Wir sind hier versammelt, um Abschied zu nehmen, in Schmerz und Trauer um Manfred Stolpe. Wir trauern, ja, wir trauern um eine politische Persönlichkeit. Doch wir erinnern uns in dieser Stunde auch an einen Menschen, der viele von uns tief beeindruckt hat, der viele geprägt hat, dem sich viele von uns – auch ich mich – sehr nahe gefühlt haben.

Am Ende seines Lebens, liebe Ingrid Stolpe, griff die schwere Krankheit grausam nach ihm. Ertragen musste Manfred Stolpe nicht nur den Verlust der Stimme. Die Kräfte waren einfach erschöpft. Die Haltung, ja Selbstbeherrschung, mit der er sein Los auf sich nahm, können nur die Nächsten in der Familie ganz ermessen, die, die ihn bis zuletzt begleitet haben. Auch diese Kraft, Eure Kraft, verehrte Angehörige, einen kraftlos Gewordenen zu halten, sie ist bewunderungswürdig.

Man mag es als Zumutung des Schicksals empfinden oder als Prüfung eines Christenmenschen, dass ausgerechnet der Mann sich selbst zuletzt so sehr abstützen musste, dessen Lebensmaxime es war, anderen Halt und Hoffnung zu geben, dass ausgerechnet er stimmlos wurde, der zeit seines Lebens mit seinem Wort und seiner so unverwechselbaren Stimme wirkte wie nur wenige andere. Wenn wir heute nicht nur dem Amtsträger und Politiker, sondern auch dem Menschen gerecht werden wollen, der Manfred Stolpe war, dann müssen wir den Menschen sehen, dann müssen wir erkennen, dass der scheinbar Unerschütterliche eben doch erschütterbar war, wie diejenigen wissen, die ihn näher kannten Für mich nimmt das seinen Verdiensten nichts. Im Gegenteil, es verleiht ihnen zusätzliche Wärme und Würde.

Die Erschütterungen unserer Zeitgeschichte gingen mitten durch das Leben von Manfred Stolpe hindurch. Was Historiker als das Zeitalter der Extreme kennzeichneten, prägte die mehr als acht Jahrzehnte seines Lebens. 1936 in Stettin als Sohn einer Postbeamtin und eines Kaufmanns hineingeboren in die NS-Zeit und in den deutschen Vernichtungskrieg; als Flüchtlingskind nach Greifswald gekommen; als Schüler 1953 konfrontiert mit der blutigen Niederschlagung des Arbeiteraufstands in der DDR; 1961 als junger Jurist in Diensten der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Zeitzeuge des Mauerbaus, der nachts rollenden Armeelaster und Panzer; unter dem Eindruck auch der unterdrückten Reformbewegungen von 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei; Zeitzeuge des Kalten Krieges und der deutschen Teilung – es waren die Erfahrungen von Gewaltherrschaft, von fanatischen Ideologien und Menschenverachtung, die dieses Leben begleiteten.

In einer Zeit der Extreme zeigte sich Manfred Stolpes humane Gegenwehr darin, nicht selbst den extremen Kräften noch Nahrung zu geben. In einer Zeit der Kriege und Kriegsgefahren wurde es ihm zur politischen Pflicht, sich für den Ausgleich und die friedliche Verständigung einzusetzen. Im Rückblick, in seinem 75. Lebensjahr, zog er Bilanz über das, was ihm das Wichtigste war: Jahrzehntelang, sagte er, habe ich versucht, Gespräche zu fördern, Zuspitzungen zu verhindern, Gewalt abzuwenden, die den Menschen zu überwältigen und zu zerbrechen drohen.

Es gibt andere Menschen, auch heute hier in der Nikolaikirche, die berufener sind als ich, um über die Tätigkeit des Konsistorialpräsidenten der Evangelischen Kirche in der DDR zu sprechen. Und würden all jene sprechen, die diese Zeit selbst erlebt haben, würde wohl der heftige Widerstreit der Auffassungen, den es nach 1990 gegeben hat, wieder aufscheinen. Diese Auseinandersetzung wurde um eine Telefonnummer geführt. Eine Nummer, die viele als Versicherung bei sich trugen für den Fall, dass der SED-Staat nicht mehr nur misstraute und bespitzelte, sondern bedrohte und verhaftete. Eine Nummer, zu der Menschen griffen, die der Kirche verbunden und deshalb dem Staat verdächtig waren, Bürger, die es wagten, Freiheiten zu fordern, oder die ganz einfach einen Ausreiseantrag stellten. Und es war, Sie wissen es, der Telefonanschluss von Manfred Stolpe.

Man wusste sehr genau, dass diese Telefonnummer nicht zu einem Theologen oder Seelsorger führte. Sie führte zu einem Juristen in der Kirchenleitung, der in sehr weltlichen Dingen etwas tun konnte. Dass Manfred Stolpe geholfen hat, dass er die Zulassung zu Abitur und Studium, die Abwendung von Haft und Repressalien, auch die Erlassung einer Einberufung zur Volksarmee bewirken konnte, das alles ist vielfach bezeugt. Zu welchem Preis er dies getan hat, darüber wurde gestritten. Auch unter denen, die seine Hilfe in Anspruch nahmen, gab es während und nach der Friedlichen Revolution Streit und Unsicherheit: Fragen über seine Kontakte zur Staatssicherheit, Unbehagen über seine Verschwiegenheit, über die Vorwürfe der Medien.

Unsicherheit gab es. Und doch können wir in dieser Frage Orientierung gewinnen. Nicht nur, weil ein Untersuchungsausschuss, weil Aktenauswertung, Gerichtsurteile und weil die Kirche selbst zu dem Ergebnis kamen, dass Manfred Stolpe ein Mann der Kirche war und geblieben ist. Sondern auch und gerade, weil es von denen, die gegen das SED-Regime standen und die wirklich um Verstehen bemüht sind, ebenso ausgewogene wie klare Worte gibt. Dazu gehört die Anerkennung der Tatsache, dass für die menschliche Hilfe, die Manfred Stolpe geben konnte, das Zwiegespräch mit dem lieben Gott nicht ausreichte, sondern dass es erforderlich war, mit dem Unrechtsregime selbst zu verhandeln.

Die Möglichkeit zu helfen, die ihm oft genug eine Last war, er hat sie getragen und die Verantwortung, die damit verbunden war, auch. Er hat oft mit sich gerungen. Und er hat unter den Vorwürfen gelitten. An diejenigen, die unerbittlich waren in ihrem Urteil über ihn, hat Manfred Stolpe im Rückblick gesagt: Ich will bekennen, dass ich in den Wochen des Jahres 1989, als alles auf Messers Schneide stand, oft mehr Sorge als Zuversicht hatte. Es gab andere, die entschiedener auf den Wandel drängten und den Staatsorganen die Stirn boten – wir schulden ihnen größten Respekt und Dank.

In einer Zeit der Extreme die Zuspitzung zu vermeiden, die Gewalt abzuwenden, den Menschen zu schützen, das war sein Credo. Und wer wollte in Abrede stellen, dass auch diese friedliche Seite der Revolution von 1989 ein historisches Beispiel gab, das einzig in der deutschen Geschichte ist!

Im dreißigsten Jahr der Deutschen Einheit sind wir erneut und vielleicht unerwartet mit dem Erbe der deutschen Geschichte konfrontiert. Manchmal scheint es, als würden menschenfeindliche Ideologien, als würde der Nationalismus, als würden Wut, Rachsucht und Gewalt, die wir überwunden geglaubt haben, wiederkehren. Manchmal auch scheint es, als würden die Gräben in der Gesellschaft wieder tiefer. Wir lernen, unsere Demokratie unter diesen Angriffen noch einmal neu zu sehen. Nicht als selbstverständliche Ordnung, sondern immer auch als gefährdetes Gut, um das wir uns sorgen und für das wir uns mit aller Kraft einsetzen müssen.

Vielleicht haben wir zu schnell ad acta gelegt, was in den Jahren nach 1990 als fundamentaler sozialer Umbruch in Ostdeutschland, aber eben auch als grundlegender Wandel der alten Bundesrepublik zu verdauen war. Manfred Stolpe war in diesen Jahren als erster Ministerpräsident und Gründervater des Landes Brandenburg ein Politiker von unverzichtbarer Bedeutung für die Identität der Brandenburger. Aber er war natürlich sehr, sehr viel mehr. Man hat ihm ab Mitte der 1990er Jahre, als er Brandenburg mit absoluter Mehrheit regierte, halb ironisch, halb respektvoll den Titel eines Präsidenten Ost zugeschrieben. Er wurde sehr rasch eine politische Persönlichkeit von überragender Bedeutung für die innere Einheit unseres ganzen Landes.

Warum das so war, das erklärt sich nicht allein aus der Zeit vor 1989. Ausschlaggebend war vielmehr, dass er nicht nur mit dem Kopf verstand, sondern mit dem Herzen spürte, spürte, was das Schockartige des sozialen Umbruchs für die zahllosen Menschen bedeutete, die nun ihren Arbeitsplatz verloren. Er berichtete einmal, wie er von der damaligen Bundesregierung hörte, man müsse sich nicht sorgen, niemand müsse unter der Brücke schlafen, die Sozialhilfe würde alle auffangen, und wie er – gemeinsam mit Regine Hildebrandt – dagegen anredete und warnte, die Selbstachtung der Menschen steht auf dem Spiel.

In diesen Jahren kämpfte Manfred Stolpe nicht einfach nur um Ansiedlungen und Arbeitsplätze. Er kämpfte um das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen im geeinten Land. Zuerst der Aufstieg in die Freiheit, das Aufatmen, (…). Dann dieser beängstigende Sturzflug des Ostens in die Deutsche Einheit, so beschrieb er selbst die politische Herausforderung. Oder in anderen Worten, auch von ihm: Die Sieger der Revolution drohten zu Verlierern der Einheit zu werden!

Dieses Urteil ist heute, dreißig Jahre später, gewiss ein anderes. Der wirtschaftliche Aufbau war gewiss nicht mit den unsichtbaren Händen des Marktes allein zu bewerkstelligen. Es bedurfte mehrerer Solidarpakte und enormer öffentlicher Investitionen, um die Massenarbeitslosigkeit zu überwinden. Arbeit und Einkommen sind auf weit höherem Niveau neu entstanden. Dennoch möchte ich uns die warnenden Worte Manfred Stolpes in Erinnerung rufen. Die erlebten Brüche in den Biografien lassen sich, so sagt er, aus dem eigenen Leben nicht einfach herausschütteln. Erlebte Ungerechtigkeiten kann die Statistik des Wohlstandsgewinns nicht einfach ungeschehen machen. Verletzungen wirken nach. Sie gehen sogar von einer Generation auf die nächste über. Wir müssen diese Geschichten heute stärker zu Gehör bringen. Denn die ostdeutschen Geschichten sind noch immer kein so selbstverständlicher Teil unseres gesamtdeutschen Wir geworden. Wir können es im dreißigsten Jahr der Einheit als ein Vermächtnis von Manfred Stolpe begreifen, genau dies zu ändern.

Auch die Zeit nach der Friedlichen Revolution mit ihren Brüchen, Verwerfungen und Neuanfängen zählt zu den Erschütterungen, für die Manfred Stolpe ein geradezu seismografisches Gespür hatte. Auch und vielleicht vor allem in diesen Jahren erwies sich sein geduldiges, hartnäckiges Vermögen, Brücken zu bauen, als politisch notwendig, ich würde sogar sagen unverzichtbar.

In diesen Jahren habe ich ihn kennengelernt. Und ich habe ihm auch persönlich viel zu verdanken. Von Manfred Stolpe, der sehr aufmerksam, sehr lebensnah erzählen und erklären konnte, habe ich viel über den Teil Deutschlands gelernt, in dem ich selbst nicht aufgewachsen bin.

Zu diesen Jahren gehörten auch nächtelange Verhandlungen, ein strapaziöses Ringen um Regierungskoalitionen, Fördertöpfe und Finanzmittel. Ein Ringen bis in die Morgendämmerung. Eine Seite belehrte die andere, bis zur körperlichen Erschöpfung. In solchen Momenten haben wir Manfred Stolpe am Verhandlungstisch erlebt. Nerven zeigte er nicht. Müdigkeit kannte er nicht. Er vermittelte Vertrauen. Er hörte zu, er fragte, er stritt, ohne zu verletzen, er konnte warten mit seinem Argument, und manchmal – die, die ihn kennen, wissen, was ich meine – brummte er auch nur. Und was niemand für möglich gehalten hatte, trat ein – wir fanden zusammen am Verhandlungstisch.

Mit Manfred Stolpe geht jemand, der uns fehlen wird. Ein Ostdeutscher, der den Ostdeutschen Mut machte und der Menschen aufrichten konnte. Ein Ostdeutscher, der Westdeutschland verstand. Einer, der sich stets treu war, der sich nie vordrängte, der ausreden ließ, der neugierig blieb. Wir trauern um einen, der von sich selbst kein Aufheben machte und doch ein Großer war. Wir trauern um einen Brückenbauer, einen Meister des Dialogs, um einen Freund.

Nicht nur seine Kirche, nicht nur Brandenburg, nicht nur Ostdeutschland, unser ganzes geeintes Land hat ihm viel zu verdanken!

Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung, schreibt Dietrich Bonhoeffer. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich. Lieber Manfred, Du hast uns mit Deinem Leben reich beschenkt.