Verleihung des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Mario Draghi

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 31. Januar 2020

Der Bundespräsident hat am 31. Januar bei der Verleihung des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Mario Draghi eine Rede gehalten: "Sie mussten mit den Instrumenten einer Zentralbank in einer Zeit handeln, als es kein entwickeltes europäisches Instrumentarium zur Krisenintervention gab. Sie mussten in einem Szenario handeln, für das es kein europäisches Drehbuch gab. Ein Szenario, in dem Abwarten keine Option war. Und Sie haben gehandelt."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Mario Draghi in Schloss Bellevue.

Wäre dies heute eine Pressekonferenz nach einer EZB-Ratssitzung und keine Ordensverleihung beim Bundespräsidenten, dann würde Folgendes passieren: Kaum betreten Sie den Raum, lieber Herr Draghi, würden einige Marktbeobachter im Spaß versuchen, von der Farbe Ihrer Krawatte die Zinsentscheidung abzuleiten. Blaue Krawatten – so die Vermutung – deuteten auf sinkende Zinsen, rote Krawatten auf eine restriktive Geldpolitik hin. Es wurden also Formeln aufgestellt, Zahlen gewälzt, Studien betrieben, bis herauskam: alles Humbug.

Das ist kein Wunder: Geldpolitische Entscheidungen sind natürlich keine Frage der Farbe der Krawatte, sondern des Mandats der Europäischen Zentralbank. Preisstabilität ist oberste Aufgabe der EZB – stabile Preise für über 340 Millionen Menschen in der EU, stabile Preise für 83 Millionen Deutsche.

Wir haben in Deutschland Hyperinflation, massive Deflation und deren zerstörerische Konsequenzen erlebt Diese Erfahrungen wirken nach und übermitteln sich über Generationen. Diese Erfahrungen sind der Grund für die hohe Sensibilität der Deutschen in Fragen der Preisstabilität. Deshalb hat das Mandat der EZB für uns Deutsche eine besondere Bedeutung.

Die EZB erfüllt diesen Auftrag seit über zwanzig Jahren. In wahrhaft schwierigen Zeiten für die europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik haben Sie, lieber Herr Draghi, sich dieser Kernaufgabe der EZB mit viel Engagement und Erfolg gewidmet. Zeiten – das sollten wir nicht vergessen –, in denen der Zusammenhalt der Eurozone mehr als einmal bedroht war. Sie haben bewahrt, was andere aufzugeben bereit schienen. Niemand mag sich vorstellen, wo Europa heute stünde, wenn nicht nur das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen hätte, sondern gleichzeitig die Eurozone zerbrochen wäre. Sie haben sich mit aller Kraft und ja, auch unter Inkaufnahme von Risiken dagegen gestemmt.

Und deswegen, verehrter Herr Draghi, freue ich mich, Sie heute mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland auszuzeichnen. Herzlich willkommen im Schloss Bellevue!

Ich jedenfalls halte den Bundesverdienstorden für die weit passendere Auszeichnung als die Pickelhaube, die Ihnen zu Beginn Ihrer Amtszeit überreicht worden ist. Die Pickelhaube steht für eine Zeit, in der Europa am deutschen Wesen genesen sollte. Heute sind wir zum Glück weiter: Deutschland versteht sich als Teil dieses gemeinsamen Europa, als Teil einer Union von Partnern mit gleichen Rechten und Pflichten.

Genau diesem gemeinsamen Europa ist der EZB-Präsident verpflichtet. Er ist kein Sachwalter eines einzelnen nationalen Interesses, sondern muss das gemeinsame europäische Interesse in geldpolitischen Fragen wahren. Dieser Grundsatz stand ganz am Anfang bei Gründung der EZB Pate. Wir wissen in Deutschland auch: Deutsche Interessen lassen sich nicht ohne und schon gar nicht gegen die Interessen unserer europäischen Nachbarn denken. Diese Lehre aus der deutschen und der europäischen Geschichte findet sich sogar in der Präambel des Grundgesetzes wieder.

Lieber Herr Draghi, diesem vereinten Europa haben Sie Ihr Lebenswerk gewidmet. Sie gehörten damals im italienischen Tesoro zu den Vätern des Euro. Als Gouverneur der Banca d’Italia und später als Präsident der Europäischen Zentralbank haben Sie Ihre unbestrittene geldpolitische Expertise in den Dienst der europäischen Einigung gestellt.

Der Weg zur gemeinsamen Währung war von Hindernissen gesäumt und mancherorts mit viel Skepsis begleitet. Wir haben die öffentliche Debatte auch in Deutschland bei Umstellung der nationalen Währungen auf den Euro noch alle in Erinnerung. Aller damaligen Skepsis zum Trotz ist heute der Euro ein wertvolles und unumkehrbares Symbol des europäischen Zusammenwachsens.

Diese Ehrung gilt in dieser Stunde einer Person, die verbunden ist mit einer für Deutschland so wichtigen und unverzichtbaren Institution, der Europäischen Zentralbank. Deutschland ist stolz, der EZB in Frankfurt eine Heimat zu geben. Meine Vorgänger im Amt hatten bereits die Freude, Wim Duisenberg und Jean-Claude Trichet auszuzeichnen.

Aber diese Ehrung heute gilt nicht in erster Linie einer Institution, vor allem gilt diese Ehrung Ihnen ganz persönlich, lieber Mario Draghi. Sie mussten mit den Instrumenten einer Zentralbank in einer Zeit handeln, als es kein entwickeltes europäisches Instrumentarium zur Krisenintervention gab. Sie mussten in einem Szenario handeln, für das es kein europäisches Drehbuch gab. Ein Szenario, in dem Abwarten keine Option war. Und Sie haben gehandelt.

Sie haben in stürmischen Zeiten häufig selbst im Wind gestanden und den Euro und die Europäische Union zusammengehalten. Damit haben Sie sich um Europa verdient gemacht. Und damit haben Sie – das sage ich ganz bewusst – auch meinem Land einen großen Dienst erwiesen.

Die Krawattenanekdote zu Beginn verdeutlicht, welche Last auf den Schultern eines Zentralbankers ruht. Jedes Wort, jede Geste können Märkte ins Taumeln oder zum Abheben bringen. Nur wenige verstehen die Macht des Wortes, die Macht der Geste so gut wie Sie, lieber Herr Draghi.

Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. Ihre wirkmächtigsten Worte werden zwar häufig, aber meist nicht ganz vollständig zitiert. Denn oft wird Ihr Nebensatz über die Grenzen des Mandats vergessen, obwohl er genauso wichtig ist. Die Macht des Wortes hängt eben an der Macht des Rechts.

Deswegen empfinde ich den Spitznamen Super-Mario, den Ihnen einige Fans verpasst haben, als wenig zutreffend.

Erstens weiß ich, wie sehr Ihnen dieser Personenkult fernliegt. In unseren Begegnungen habe ich Sie als nachdenklichen Menschen kennengelernt, dem die tastende Suche nach dem Gemeinwohl und einer verantwortbaren Lösung alles bedeutet, der Probleme analytisch betrachtet und Handlungsoptionen abwägt; als jemanden, der – auch in Zeiten größter Anspannung – besonnen, aber entschieden handelt und sich dabei von einem klaren, einem europäischen Wertekompass leiten lässt.

Zweitens empfinde ich den Spitznamen als unpassend, weil Sie in Ausübung ihres Amtes zwar viel Gespür und Geschick benötigten, aber keine übernatürlichen Superheldenkräfte. Im Gegenteil: Neben großer Expertise und Erfahrung brauchten Sie zwei ziemlich irdische Dinge. Zum einen eine Grafik der Teuerungsrate. Zum anderen eine Ausgabe der EU-Verträge, die Rechte und Pflichten, kurz: das Mandat der EZB genau festlegen.

Auf dieser Grundlage haben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen im EZB-Rat gemeinsam die Ihnen notwendig scheinenden Entscheidungen getroffen. Mit Blick auf die Inflationsrate, die eben meist deutlich unter der EZB-Definition von Preisstabilität lag. Und mit Blick auf die EU-Verträge, deren Einhaltung der Gerichtshof der Europäischen Union mehrfach überprüft und bestätigt hat.

Wir alle wissen um die unterschiedlichen geldpolitischen Traditionen in Europa. Umso eindrücklicher war mein Besuch einer EZB-Ratssitzung, bei der ich erleben durfte, mit welch großer Expertise und Ernsthaftigkeit, vor allem aber in welchem gegenseitigen Respekt alle Mitglieder unter Ihrem Vorsitz um die angemessene geldpolitische Strategie gerungen haben – übrigens jenseits aller vermeintlichen oder unterstellten nationalen Interessen, sondern im gemeinsamen, im europäischen Interesse.

Unterschiedliche Einschätzungen sind angesichts der komplexen Wirkungskanäle der Geldpolitik geradezu unvermeidlich, und hitzige Diskussionen unter Entscheidungsträgern sind kein Zeichen von Schwäche, sondern dass sie ihren Job ernst nehmen.

Die Geldpolitik ist eben keine Naturwissenschaft. Und deswegen ist Geldpolitik zwar immer datengetrieben und faktenbasiert, aber sie funktioniert nicht ohne den Ermessensspielraum einer starken, einer unabhängigen Institution. Unsere europäischen Demokratien haben sich aus sehr guten Gründen entschieden, die Geldpolitik einer unabhängigen Zentralbank anzuvertrauen. Und eine funktionierende Zentralbank ist unabhängig oder sie ist nicht. Es gibt keine selektive Unabhängigkeit, je nachdem, ob man mit den Entscheidungen einverstanden ist oder nicht.

Das schließt Kritik nicht aus. Natürlich ist Kritik an einer unabhängigen Zentralbank und an den handelnden Personen möglich. Sie ist zur Wahrung ihrer Rechenschaftspflicht und als Gegenstück ihrer Unabhängigkeit sogar nötig. Aber bitte in einer sachlichen Debatte mit Respekt und Anstand.

Zu oft fielen Respekt und Anstand gegenüber Ihnen, lieber Herr Draghi, Klischees zum Opfer. Viele der an die EZB gerichteten Vorwürfe waren ausschließlich an Gruppeninteressen orientiert oder selbst widersprüchlich. Oder wie Sie, liebe Frau Schnabel, es formuliert haben: Einige in Deutschland haben es sich sehr leicht gemacht und die EZB zum Sündenbock erklärt.

Mich besorgt das leichtfertige Fingerzeigen auf Frankfurt. Wir haben nur eine EZB. Deutschland braucht die EZB – und die EZB braucht Deutschland.

Deswegen hoffe ich, dass wir wieder zu einer Auseinandersetzung finden, die ernst und deutlich in der Sache ist, aber sachlich bleibt. Eine Debatte, die nicht ausschließlich von denen geführt wird, die Niedrigzinsen in den Vereinigten Staaten gut und in Europa schlecht finden, oder gleichzeitig für die Sparer schlecht und die Bauwirtschaft gut finden. Ich wünsche mir, dass es gelingt, die Missverständnisse – und ja: auch die gelegentliche Sprachlosigkeit – zwischen der EZB und der deutschen Öffentlichkeit zu überwinden.

Das fordert die EZB, die eigene Politik zu erklären. Und das erfordert von der Öffentlichkeit die Bereitschaft, sich mit diesen Argumenten auseinanderzusetzen.

Denn es geht um viel. Es geht um das Vertrauen in unsere Währungshüter. Es geht um das Vertrauen in unsere gemeinsame Währung. Es geht um das Fundament unseres Wohlstands.

Der Euro hat diesen Wohlstand gemehrt – auch in Zeiten niedriger Zinsen. Zinsen, die – wie die FAZ so treffend formuliert hat – eben nicht vom Amt kommen, sondern im Kern vom Markt bestimmt werden.

Allerdings kann – und das haben Sie, lieber Herr Draghi, immer wieder betont – Geldpolitik immer nur eine Stellschraube für eine gelungene Wirtschafts- und Finanzpolitik sein. Die richtungsweisenden politischen Entscheidungen müssen von demokratisch gewählten Regierungen gefällt werden.

Sie, verehrter Herr Draghi, haben die Herausforderungen immer klar benannt: Dazu gehören eine verantwortliche Haushaltsführung und Investitionen in die Zukunft. Dazu gehören mutige Strukturreformen. Und dazu gehört auch, dass wir den Weg, den wir in Maastricht beschritten haben, zu Ende gehen – also die nächsten Schritte machen auf dem Weg hin zur Vervollständigung der Wirtschafts- und Währungsunion. Sie, verehrte Frau Bundeskanzlerin, haben bei der Verabschiedung von Herrn Draghi in Frankfurt insbesondere auf die nötigen weiteren Schritte in der Banken- und Kapitalmarktunion hingewiesen. Und ich füge hinzu: Kommen wir hier nicht voran, dann werden auch die Nachfolger von Herrn Draghi bei künftigen europäischen Krisen wieder in der schwierigen Situation sein, ohne die nötigen Vorgaben weitgehend auf sich allein gestellt zu sein.

Nur wenn wir den Euro krisenfester machen – und nur dann –, gelingt, was Mervyn King, der frühere Gouverneur der Bank of England, als Idealbild einer Zentralbank zeichnete: A successful central bank should be boring – rather like a referee whose success is judged by how little his or her decisions intrude into the game itself.

Aber ob Ruhe auf dem Platz einkehrt, liegt nicht allein in der Hand der Notenbank. Es liegt an den Spielern auf dem Rasen, den demokratisch gewählten Regierungen. Frau Bundeskanzlerin, ich denke, ich spreche im Namen aller, wenn ich Ihnen für die weiteren Verhandlungen zur Vertiefung der Währungsunion eine glückliche Hand und viel Erfolg wünsche. Für Deutschland. Für Europa!

Lieber Herr Draghi, Ihr Herz hängt an diesem gemeinsamen Europa. Diesem vereinten Europa haben Sie mit Herz und Hand gedient. Und damit haben Sie Deutschland einen großen Dienst erwiesen.

Dafür danke ich Ihnen, und dafür zeichne ich Sie mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland aus.

Meinen herzlichen Glückwunsch!