Heimatabend mit Beiträgen aus Musik, Literatur, Theater und Film

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 6. Februar 2020

Bundespräsident Steinmeier hat am 6. Februar zu einem Heimatabend mit Beiträgen aus Musik, Literatur, Theater und Film in Schloss Bellevue eingeladen. In seiner Ansprache zu Beginn des Abends sagte er: "Ich finde es ermutigend, dass eine Mehrheit in unserem Land Heimat als etwas versteht, das uns verbindet – und nicht etwas, das uns trennt. Und deshalb: Lasst uns Heimat nicht denen überlassen, die den Begriff missbrauchen, um andere davon auszuschließen!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Kulturabend zum Thema Heimat im Großen Saal von Schloss Bellevue.

Manche von Ihnen werden sich vielleicht gewundert haben über die Einladung heute Abend hierher. Denn es soll heute um ein wahrlich sehr deutsches Wort gehen: Heimat. Ich kann Ihnen versprechen, romantisch getümelt und geraunt wird heute nicht.

Heimat, dieses so deutsche Wort, das viele Sprachen in Europa gar nicht kennen, ist schillernd und schwer zu fassen. Und diejenigen, die sich um das Thema ein bisschen gekümmert haben, die wissen: Heimat hatte in Deutschland, in der deutschen Geschichte immer wieder Konjunktur, bis der Begriff ein für allemal diskreditiert schien. Heimat, für Martin Walser war das noch der schönste Name für Zurückgebliebenheit. Edgar Reitz, dem wir das große Filmepos Heimat verdanken, und das zu einer Zeit, alsHeimatauch nicht gerade en vogue war, dieser Edgar Reitz bezeichneteHeimatals einen Sehnsuchtsbegriff, als Schlachtfeld der Gefühle. Und der Film, den viele von Ihnen kennen, lief auf der ganzen Welt unter dem Titel Heimat. Eher einen Zustand im Kopf nennt Heimat der Regisseur Fatih Akin. Heimat, würde Theodor Fontane sagen, ist ein weites Feld.

Heute erlebt Heimat ein Revival. Bücher erscheinen zu diesem Begriff, er ist Filmstoff, und wir haben einen Heimatminister. Und ich bin überzeugt: Wer sich nach Heimat sehnt, der ist ganz und gar nicht von gestern. Im Gegenteil: Heimat, das ist etwas Positives, etwas, das Zusammenhalt stiften kann, das gemeinsame Zukunft möglich macht. Gerade deshalb habe ich, kurz nach der letzten Bundestagswahl, einer Wahl, die tiefe Gräben in der Gesellschaft offenbart hat, diesen Begriff ins Zentrum meiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit gestellt. Doch leider ist mein Eindruck: Heimat ist wieder zum politischen Kampfbegriff geworden.

Daher will ich heute zum Auftakt noch einmal aufs Neue fragen: Was also ist Heimat? Ist es der vertraute Ort der Kindheit, verbunden mit Menschen, mit Gerüchen, Landschaften, Essen, Dialekt? Oder ist es der Ort, an dem man lebt und zu Hause ist? Ist es Sprache? Ist Heimat eine politische Kategorie oder ein Gefühl? Existiert Heimat nur in der Erinnerung? Und kann der Mensch nur eine Heimat haben?

Heimat, das haben viele von Ihnen erfahren, Heimat lässt sich heute auch anders schreiben: mit ai, mit ey, mit ay. Haymat mit ay, das spielt mit unserem deutschen Wort Heimat und dem türkischen Wort hayat für Leben, und das ist auch der Titel eines Buches von Kristina und Firat Kara, das ich mit großem Interesse gelesen habe. Und ich darf die beiden heute Abend hier ganz herzlich begrüßen.

Mir ist zuweilen so
als ob das Herz in mir zerbrach.
Ich habe manchmal Heimweh.
Ich weiß nur nicht, wonach.

Mascha Kaléko schrieb in ihrem Emigranten-Monolog über Heimweh. Heimweh, auch so ein deutsches Wort. Vor allem aber schrieb sie über eine schmerzhafte, eine existenzielle Erfahrung: den Verlust der Heimat, den Verlust Sprache. Meine deutschen Wörter haben keine Kindheit, so hat es die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar ausgedrückt. Und ich darf auch sie ganz herzlich bei uns begrüßen!

Was Heimat ist, versteht man oft erst, wenn man sie verlässt oder wenn sie einem genommen wird, und das ist eine Erfahrung, die so alt ist wie die Menschheit. Aber Menschen haben auch immer anderswo eine neue Heimat gefunden. Eine Erfahrung, die sicher viele hier auch gemacht haben.

Heute sind die Menschen mobiler als jemals zuvor. Aber viele empfinden die Welt auch als bleibend fremden Ort. Viele sind verunsichert vom Tempo der Globalisierung, der Digitalisierung. Und das mag Sehnsucht nach Heimat neu wecken, die Sehnsucht, sich stärker zu verorten, da, wo man sich auskennt, wo man sich geborgen fühlt. Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde, hat Karl Jaspers gesagt. Verstehen und verstanden werden, das möchte jeder in unserem Land – und zwar zu Recht! Die, die schon seit Generationen hier leben, aber auch die, die neu hinzugekommen sind.

Nur: Verstehen und verstanden werden, das verlangt eines: Verständigung. Ich finde es ermutigend, dass eine Mehrheit in unserem Land Heimat als etwas versteht, das uns verbindet – und nicht als etwas, das uns trennt. Und deshalb: Lasst uns Heimat nicht denen überlassen, die den Begriff missbrauchen, um andere davon auszuschließen, die das Wir gegen die, gegen die anderen mobilisieren, die ausgrenzen, Hass und Zwietracht säen!

In Deutschland leben viele, die vor fünfundsiebzig Jahren Heimat verloren haben, viele, die seit den frühen sechziger Jahren neue Heimat gefunden haben, und viele, die in den letzten Jahren als Flüchtlinge gekommen sind. Das hat die deutsche Gesellschaft verändert. Ja, wir haben in den vergangenen Jahren heftig diskutiert, wer in unserem Lande willkommen ist und wie Integration gelingen kann. Und ja, diese Diskussionen sind anstrengend, aber sie sind notwendig in einer lebendigen Demokratie – solange wir sie mit Anstand und Respekt führen. Wir müssen sie auch deshalb führen, weil Zuwanderung kein einseitiger Prozess ist und unsere Gesellschaft nichts Statisches.

Zuwanderung, Integration, das verlangt jedem etwas ab. Denen, die neu hinzukommen, aber auch denen, die seit Generationen hier leben. Integration ist auch nicht umso besser gelungen, je weniger wir darüber diskutieren – eher ist das Gegenteil richtig.

Wir alle müssen aufeinander zugehen, wir müssen es aushalten, dass wir verschieden, mitunter sehr verschieden sind, dass wir aus verschiedenen Ländern kommen, dass wir unterschiedliche Lebensentwürfe, Religionen, Prägungen haben. Wir alle müssen Rücksicht nehmen aufeinander. Wir müssen das respektieren, was hinzugekommen ist, aber auch das, was schon da war! Und wir dürfen uns nicht immer stärker zurückziehen in die eigenen Lebenswelten oder – neudeutsch – Echokammern!

In Wahrheit ist es doch so, dass der Begriff Integration unsere Realität kaum noch richtig erfassen kann. Jedenfalls dann nicht, wenn darunter die Einordnung in eine kulturelle Gleichförmigkeit gemeint ist. In Wahrheit hat sich doch schon verändert, was deutsch bedeutet und was Deutschland ist. Wir sind ein Deutschland der vielen Kulturen, der neu entstehenden Kulturen – und wir wollen es sein!

Deshalb können wir nur gemeinsam den Ort, die Heimat schaffen, in der wir alle zusammenleben – in Freiheit und nach den Werten unseres Grundgesetzes –, die Heimat, in der wir – trotz aller Unterschiede – verstehen und verstanden werden. Ein solcher Ort ist anstrengend, ja, weil er sich aus so vielen, vielfältigen Geschichten zusammensetzt. Aber ich finde, gerade das macht die Stärke unseres Landes aus. Lassen Sie mich heute als Bundespräsident einen Wunsch äußern: Die Geschichten der Menschen, die zu uns gekommen sind, auch in Zukunft kommen, müssen viel stärker Teil unseres gemeinsamen Wir werden – so wie ich es mir dreißig Jahre nach Friedlicher Revolution und Mauerfall auch für die Geschichten der Ostdeutschen gewünscht habe.

Diese Geschichten, Ihre Geschichten, sie handeln oft, leider allzu oft von Ausgrenzung und alltäglicher Diskriminierung, von Ablehnung und fehlender Anerkennung, auch noch in der zweiten und dritten Generation – auch das haben die Autorinnen und Autoren in Haymat beschrieben. Dass Heimat mit der Anerkennung und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft beginnt, wird sichtbar, wo die Anerkennung fehlt, schreibt Bernhard Schlink. Von dieser fehlenden Anerkennung haben mir auch deutsch-türkische Nachbarn aus Moabit erzählt, das höre ich, wenn ich durchs Land reise, von Kindern und Enkeln von Einwanderern. Und viele – sicherlich auch viele hier im Saal heute Abend – treibt die Sorge um, dass Diskriminierung und Rassismus noch zunehmen werden. Womöglich ist Ihre Sorge in diesen Tagen noch ein bisschen größer geworden.

Wie sollte es auch nicht, wenn das Gift des Nationalismus wieder in unsere Debatten einzusickern beginnt, wenn einige versuchen, völkisches Denken wieder salonfähig zu machen, und wenn der demokratische Konsens gegen Antidemokraten brüchig zu werden droht.

Ich verstehe Ihre Sorge. Und ich wünsche mir mit Ihnen, dass die Stimmen gegen Hass noch lauter werden. Ich erwarte wie Sie, dass gewählte Parlamentarier, fünfundsiebzig Jahre nach dem Ende des NS-Regimes, ihre besondere Verantwortung für die Demokratie und eine menschenwürdige Gesellschaft wahrnehmen. Und ich wünsche mir, dass noch mehr Menschen sich vor die stellen, die ausgegrenzt, beleidigt oder angegriffen werden.

Als Bundespräsident möchte ich Ihnen heute sagen: Sie alle gehören zu unserem Land! Ihre Geschichten gehören zu unserem Land!

Ich denke dabei an die Geschichten von Menschen, die vor Krieg und Zerstörung zu uns geflüchtet sind. Ich denke an Geschichten der vielen jungen Menschen, die zu uns kommen, um hier zu arbeiten oder zu studieren. Und ich denke an die Geschichten von Menschen, die wir lange, zu lange als sogenannte Gastarbeiter betrachtet haben, aus Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, aus der Türkei. Sie alle haben ganz entscheidend dazu beigetragen, dass unser Land zu Wohlstand gekommen ist. Und sie alle, die Kinder und Enkel haben unsere Gesellschaft, unsere Kultur, unsere Musik und Literatur, unsere Küche, unsere Lebensgewohnheiten, kurz, haben Heimat verändert. Sie haben Deutschland zu einem offeneren und vielfältigeren Land gemacht. Und dafür möchte ich Ihnen heute Abend herzlich danken!

Ihre Geschichten sind unsere Geschichte. Es sind die Geschichten von Menschen, die sich hier zu Hause fühlen, und das oft seit Generationen. Von Menschen, die sagen: Deutschland ist meine Heimat. Menschen, die aber vielleicht auch sagen, im Herzen habe ich noch eine Heimat, und diese Heimat liegt in der Türkei, in Italien und in Griechenland, in Russland und Polen, in Syrien, Irak, Afghanistan oder Somalia. Lassen Sie mich ganz klar sagen: Heimat gibt es auch im Plural.

Und deshalb freue ich mich jetzt auf einen ganz besonderen Heimatabend mit Ihnen!

Ich möchte Ihnen nun die Künstlerinnen und Künstler vorstellen, die den heutigen Abend gestalten. Und ich freue mich sehr, dass Sie alle den Weg zu uns gefunden haben!

Schon beim Hereinkommen haben Sie Musik gehört, die Ipek İpekçioğlu ausgewählt hat, und sie wird auch unseren Empfang gleich im Anschluss nebenan musikalisch begleiten. Ipek İpekçioğlu, Sie leben in Berlin und füllen als DJ rund um die Welt die Hallen und arbeiten auch als Autorin, Produzentin, Aktivistin. Wie schön, dass wir Sie für den heutigen Abend gewinnen konnten!

Dann werden wir gleich Cymin Samawatie mit ihrem Quartett Cyminology hören. Cymin Samawatie, Sie leben ebenfalls in Berlin, und Ihre Musik ist eine Begegnung zwischen Orient und Okzident, alte persische Weisen treffen auf Jazz. Freuen Sie sich darauf! Und herzlich willkommen!

Und als weiteren musikalischen Gast darf ich noch ganz herzlich Sultan Tunc begrüßen, bekannt als Rasta Baba, und seine Band. Lieber Sultan Tunc, auch Sie sind ein musikalischer Brückenbauer, den wir später gerne hören wollen.

Und ich freue mich, dass Sie, liebe Emine Sevgi Özdamar, heute hier sind. Sie werden uns Ihren Text Berlin, Stadt der Vögel lesen – Berlin, die Stadt, in die Sie zum ersten Mal als 18-Jährige gekommen sind und in der Sie heute leben und arbeiten. Ganz herzlich willkommen.

Wir werden auch Ausschnitte aus zwei Filmen sehen, die viele von Ihnen kennen: aus Almanya – Willkommen in Deutschland der Schwestern Yasemin und Nesrin Şamdereli. Herzlich willkommen. Und Soul Kitchen von Fatih Akin – übrigens auch so etwas wie ein Heimatfilm.

Herzlich willkommen auch lieber Dimitrij Schaad. Sie sind Schauspieler am Berliner Gorki Theater und werden uns in einem Ausschnitt aus dem Stück The Situation die Geschichte Ihrer Familie erzählen. Herzlich willkommen.

Und ich freue mich auch auf das Gespräch zum Thema Heimat, das Ijoma Mangold, kulturpolitischer Korrespondent der Zeit, moderieren wird. Lieber Herr Mangold, Sie haben mit 22 Jahren recht überraschend eine Heimat dazubekommen, die Ihres nigerianischen Vaters. Schön, dass Sie da sind!

Ihre Gesprächspartner sind neben Cymin Samawatie der Schauspieler Adam Bousdoukos, den viele aus den Filmen von Fatih Akin kennen – Sie sind auch einer der Hauptdarsteller in Soul Kitchen. Herzlich willkommen, lieber Herr Bousdoukos! Und ich freue mich auf jemanden, der nicht nur preisgekrönt, sondern einer der am stärksten beschäftigten Theaterregisseure in Deutschland ist: Ich freue mich auf Ersan Mondtag.

Sie haben es gehört bei der Vorstellung: Dieser Abend wird uns gemeinsam großen Spaß machen. Ich danke allen, die mitwirken! Nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen!

Danke!