Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz

Schwerpunktthema: Rede

München, , 14. Februar 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 14. Februar die Münchner Sicherheitskonferenz mit einer Rede eröffnet: "Unter allen Gefährdungen, die ich für Deutschland erkennen kann, sehe ich keine größere als die, dass unsere deutsche Erzählung von der Zukunft ohne das geeinte Europa auskommt. Ob aus mangelnder Einsicht, aus Gleichgültigkeit oder bei manchen vielleicht sogar aus Absicht."


Die Welt ist heute eine andere als 2014. Vor genau sechs Jahren nämlich habe ich in diesem Saal darüber gesprochen, was Deutschlands außenpolitische Verantwortung ist und wie sie sich konkret bewähren muss. Vieles hat sich seitdem verändert. Vor allem aber, und das ist vermutlich der Grund für das Konferenzthema in diesem Jahr, vor allem aber ist das selbstverständliche Wir des Westens heute offenbar nicht mehr ganz selbstverständlich. Das gilt im Inneren unserer Gesellschaften, aber auch in den existenziellen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, denen sich diese Konferenz widmet.

Da Sie mich nun kaum eingeladen haben werden, um die diplomatischen Fäden weiterzuspinnen, die ich damals ausgelegt habe, will ich darüber sprechen, wie sich diese Welt von Deutschland aus heute darstellt. Ich bin kein Stammgast mehr in dieser Runde, und Diplomatie ist nicht mehr mein Kerngeschäft. Deshalb werden Sie mir meine deutlichen Worte an manchen Stellen hoffentlich nicht nur nachsehen, sondern sie womöglich auch erwarten.

Wir erinnern in diesem Jahr an das Ende des zerstörerischsten aller Kriege vor fünfundsiebzig Jahren. Ein Krieg, den Deutschland entfesselt und vor allem im Osten Europas als Vernichtungskrieg geführt hat. Vor zwei Wochen haben wir in Yad Vashem und dann in Auschwitz der Befreiung des mörderischsten aller Konzentrationslager vor fünfundsiebzig Jahren gedacht. Das innere und äußere Gesicht des heutigen Deutschland ist ohne diesen Krieg und ohne Auschwitz nicht vorstellbar. Der deutsche Blick auf die Welt ist ohne diese Erfahrungen nicht zu erklären.

Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt. Aber das kann ich nicht sagen; das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten – das waren meine Worte vor wenigen Tagen in Yad Vashem. Heute zeigen sich auch bei uns die bösen Geister der Vergangenheit in neuem Gewand: völkisches Denken, Rassismus, Antisemitismus. Auch das beginnt wieder öffentliche Debatten zu vergiften. So sind wir – in Deutschland, aber bei weitem nicht nur in Deutschland – miteinander aufs Neue gefordert. Wir sind gefordert, unser elementares Verständnis von der Würde eines jeden Menschen zu verteidigen und für unsere offenen Gesellschaften tatsächlich zu kämpfen!

Auf einen weiteren fünfundsiebzigsten Jahrestag schauen wir in 2020 zurück. Vor fünfundsiebzig Jahren fand in San Francisco die Gründungsversammlung der Vereinten Nationen statt. Die Katastrophe des übersteigerten Nationalismus hielt nicht nur für mein Land Lehren und Schlussfolgerungen bereit: eine gemeinsame Organisation aller Staaten, die Verantwortung für Frieden und Sicherheit übernehmen sollte; dann ein System freien Handels und finanziellen Beistands in den damals geschaffenen Institutionen von Bretton Woods. Eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte folgte, die alle Staaten auch im Umgang mit ihren eigenen Bürgern auf hohe Standards verpflichtete. Standards, die dann über die Jahrzehnte ergänzt wurden um bürgerliche, wirtschaftliche und soziale Rechte. Sicher, vieles davon blieb ein hehres Ziel, weit entfernt von der Wirklichkeit. Und doch: Was wir darauf aufgebaut haben an internationaler Ordnung, in Helsinki 1975 noch im Kalten Krieg, mit der Charta von Paris nach seinem Ende vor dreißig Jahren, all das bot Halt, Orientierung und war immer auch Hoffnung in einer lange anarchischen Staatenwelt.

Ich wünschte, sagen zu können: Wir haben auch als Staatengemeinschaft für immer aus der Geschichte gelernt, nach 1945, nach 1989. Aber ich fürchte, wir werden gerade Zeugen einer zunehmend destruktiven Dynamik in der Weltpolitik. Vom Ziel internationaler Zusammenarbeit zur Schaffung einer friedlicheren Welt entfernen wir uns von Jahr zu Jahr weiter. Die Idee der Konkurrenz der großen Mächte bestimmt nicht nur die Strategiepapiere unserer Tage. Sie prägt auch die neue Wirklichkeit, die Wirklichkeit rund um die Welt, und die Spuren lassen sich verfolgen bis in die endlosen, opferreichen Kriege im Mittleren Osten und in Libyen.

Russland, zu Recht oder zu Unrecht gekränkt und entfremdet, hat nicht nur ohne Rücksicht auf das Völkerrecht die Krim annektiert. Es hat militärische Gewalt und die gewaltsame Verschiebung von Grenzen auf dem europäischen Kontinent wieder zum Mittel von Politik gemacht. Unsicherheit und Unberechenbarkeit, Konfrontation und Verlust von Vertrauen sind die Folge.

China ist im Zuge seines eindrucksvollen Aufstiegs auch in den internationalen Institutionen ein wichtiger Akteur geworden, unverzichtbar für den Schutz globaler öffentlicher Güter. Zugleich akzeptiert es das Völkerrecht auch nur selektiv, wo es den eigenen Interessen nicht zuwiderläuft. Sein Vorgehen im Südchinesischen Meer verstört die Nachbarn in der Region. Sein Vorgehen gegen Minderheiten im eigenen Land verstört uns alle.

Und unser engster Verbündeter, die Vereinigten Staaten von Amerika erteilen unter der jetzigen Regierung selbst der Idee einer internationalen Gemeinschaft eine Absage. Als ob eine Haltung jeder ist sich selbst der Nächste schon Weltpolitik sein könnte. Als ob an alle gedacht sei, wenn jeder an sich denkt. Great again – notfalls auch auf Kosten der Nachbarn und Partner. So hat es jedenfalls den Anschein.

Es ist ja wahr: Das Völkerrecht schützt vor allem die Kleineren. Die Großen tun, was sie können, die Kleinen erdulden, was sie müssen – nicht von mir, von Thukydides, über zweitausend Jahre alt, eine Aussage über die antike Staatenwelt. Sind das Recht und die Regeln also von überragender Bedeutung für die Kleinen, so sind sie für die Großen immer nur eine Option. Die Großen, so scheint es, so schien es, können auch anders bestehen.

Aber schaut man genau hin: So wahr ist es dann doch nicht. Ein solches Denken und Handeln schadet nämlich uns allen. Zum einen wirft es uns zurück in eine Zeit, in der jeder seine eigene Sicherheit auf Kosten der anderen sucht. Die Sicherheit des einen ist so immer die Unsicherheit des anderen. Wir fallen zurück in das klassische Sicherheitsdilemma, das wir alle kennen. Mehr Misstrauen, mehr Rüstung, am Ende weniger Sicherheit, das sind die zwangsläufigen Folgen. Bis hin zu einem neuen nuklearen Rüstungswettlauf, der nicht nur mehr Waffen, sondern vor allem mehr nuklear bewaffnete Mächte hervorbringen wird, mit allen Risiken für die ohnehin immer prekäre nukleare Stabilität. Hinzu kommen zahllose regionale Konflikte, die mittlere und kleinere Mächte nun selbst glauben ausfechten zu können, weil die Großen es mit den Regeln nicht mehr so genau nehmen und auch nicht länger als Garanten und Wächter der alten Weltordnung auftreten.

Aber das ist bei Weitem nicht der ganze Schaden. Dieser Rückzug auf ein eng verstandenes nationales Interesse hindert uns eben auch daran, gemeinsam voranzugehen und überzeugende Antworten zu entwickeln auf jene Fragen und Probleme, die keiner, auch nicht der größte Nationalstaat auf diesem Erdball, allein geben kann. Dieses Denken ist schlimmer als eine Rückkehr in die Vergangenheit, es ist schlimmer, weil es uns unserer Zukunft in dieser eng verflochtenen Welt beraubt. Es beschädigt die Institutionen und Instrumente, die wir notwendig brauchen, um die wirklich großen Menschheitsfragen anzugehen. Klimaschutz ist nur eines davon. Aber gerade beim Klimaschutz wird täglich sichtbarer: Die Folgen treffen eben nicht nur die Kleinen. Nationale Scheuklappen und Kurzsichtigkeit werden auch den Größten unter uns am Ende hohe Kosten auferlegen. Überall auf der Welt wird die Generation unserer Kinder und Kindeskinder einen hohen Preis bezahlen für Nichthandeln und für nationale Alleingänge, die gemeinschaftliches Handeln gegen Klimawandel unterlaufen.

Darum muss es uns so tief beunruhigen, was in diesem fünfundsiebzigsten Jahr des Kriegsendes für alle sichtbar wird: dass die Institutionen und Autoritäten, die uns doch eigentlich helfen sollten, unsere verschiedenen Traditionen und Interessen zu überbrücken und in tragfähige Kompromisse zu übersetzen, dass gerade die Autorität dieser Institutionen mutwillig geschwächt wird. Dadurch, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in zentralen Fragen blockiert ist; dadurch, dass vereinbarte und ratifizierte Abkommen einfach aufgekündigt werden; dadurch, dass Streitschlichtungsgremien gelähmt werden, indem keine neuen Richter ernannt werden, kurz: dass Vertrauen aufs Spiel gesetzt und zerstört wird, das Jahre und Jahrzehnte braucht, um wieder aufgebaut zu werden. Das ist kein neues Denken, das will ich Ihnen sagen, sondern ein Rückfall in das Denken von vorgestern. Und erlauben Sie es mir zu sagen: Es ist brandgefährlich.

Ich weiß wohl, dass die internationale Gemeinschaft nichts Selbstverständliches ist. Sie ist in den meisten Fragen mehr Ziel als Wirklichkeit. Dennoch, ich bleibe überzeugt: Die Idee einer internationalen Gemeinschaft ist nicht von gestern. Wir leben nämlich als erste Generation in einem Zeitalter, in dem der Mensch die Lebensbedingungen auf dem Planeten irreversibel verändern kann. In diesem Zeitalter führt uns der Rückzug ins Nationale in eine Sackgasse, in eine wirklich finstere Zeit. Die Idee einer globalen Ordnung allein – und nur die – bietet die Chance, auf die Herausforderungen des Anthropozän überzeugende Antworten zu formulieren. Deshalb müssen wir uns weiter um die Schaffung, um die Fortentwicklung einer übernationalen Rechtsordnung bemühen. Es wäre gefährlich für uns alle, Große wie Kleine, diese Ambition aufzugeben oder sie achselzuckend als idealistisches Hirngespinst beiseitezuschieben. Und wenn Sie es mir nicht glauben, dann glauben Sie es Henry Kissinger. Der hat schon vor Jahren die Summe seiner Erfahrungen gezogen und gesagt, die Welt von heute braucht ein Ordnungskonzept, das über die Perspektiven und Ideale der einzelnen Regionen und Nationen hinausweist. Kürzer, besser und moderner lässt sich die Aufgabe heutiger Außen- und Sicherheitspolitik nicht beschreiben. Genau darum geht’s.

Jetzt nach Deutschland: Viele Deutsche blicken heute irritiert, beunruhigt und besorgt auf die internationale Politik. Gerne denken wir dann, wir Deutschen, wenn alle nur so vernünftig wären wie wir, dann wäre alles gut. Das allerdings, das weiß ich, ist natürlich zu einfach. Auch Deutschland ist in dieser Zeit auf die Probe gestellt.

Wir feiern in diesem Jahr dreißig Jahre Wiedervereinigung. Ein unerhörtes und unerwartetes Glück damals, noch dazu verbunden mit der Wiedervereinigung des durch den Eisernen Vorhang getrennten Europas. Felix Germania – im Einklang mit der Welt, umgeben von Freunden, gesichert in der globalen Pax Americana, so war das. Und es ist dieser Rahmen, der vor unseren Augen zu zerfallen droht. Noch ist offen, was an seine Stelle treten wird. Aber klar ist, dass die Hoffnung, andere werden es für uns schon irgendwie lösen, dass sich diese Hoffnung für die Deutschen jedenfalls nicht erfüllen wird.

Deutschland ist zum ersten Mal in seiner Geschichte nur noch von Freunden umgeben. Das stimmt. Und es ist unser Glück. Aber Glück kann manchmal auch blind machen. Dieser wahre Satz aus den neunziger Jahren hat uns bisweilen blind gemacht dafür, dass unsere Nachbarn die Welt anders sehen als wir, dass sie näher an ganz akuten Konfliktherden liegen, dass sie sich existenziell bedroht fühlen.

Wir Deutsche, wir halten uns, vielleicht wie andere auch, gern für die besten Europäer. Wir bescheinigen uns besondere Großzügigkeit gegenüber den Partnern und besondere Rücksichtnahme auf deren Interessen. Wir glauben auch gern, dass wir die Lektionen der europäischen Geschichte selbst am gründlichsten gelernt haben. Aber wenn wir heute auf die Europäische Union schauen, dann beobachten wir wirtschaftliche Divergenz statt Konvergenz. Dann sehen wir politische, zunehmend auch ideologische Gräben innerhalb der Europäischen Union. Europa, wenn ich es richtig sehe, ist nicht enger zusammengerückt. Und vermutlich tragen auch dafür die Verantwortung nicht nur alle anderen.

Deshalb ist die Frage, die auch wir uns stellen: Handeln wir wirklich immer so, wie es unser Reden von der Schicksalsgemeinschaft Europa eigentlich erfordern würde? In der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Oder in Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion? In vielen dieser Fragen gehen die Eigen- und Fremdwahrnehmung auseinander. Deutschland glaubt oft, hilfsbereit und solidarisch zu handeln, während andere uns vorwerfen, eher nationale Interessen zu verfolgen. Das gilt für den Umgang mit äußeren Bedrohungen ebenso wie für Fragen der Solidarität und der Konsensbildung innerhalb der Europäischen Union.

Und es sind nicht nur innere Differenzen, die Europa zu schaffen machen. Anders als früher können wir im Jahr 2020 nicht mehr davon ausgehen, dass die großen Mächte ein Interesse an einer gelingenden europäischen Integration haben. Im Gegenteil, wenn ich es zuspitzen darf, jeder der großen Spieler sucht seine eigenen Vorteile, notfalls auch auf Kosten der Einheit Europas – und das ist keine gute Entwicklung für uns.

Ich sage umgekehrt: Dieses Europa aber darf nicht scheitern. Denn was ist Deutschlands nationales Interesse heute, dreißig Jahre nachdem das wichtigste Staatsziel, das der Wiedervereinigung, Wirklichkeit geworden ist? Und die Antwort für uns Deutsche ist eigentlich unverändert in unserer Verfassung, in unserem Grundgesetz zu finden: als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.

Europa ist für Deutschland eben nicht nur nice to have und nicht nur wichtig, wenn andere Partnerschaften verblassen. Es ist unser stärkstes, unser elementarstes nationales Interesse. Für heute und für morgen gilt: Europa ist der unabdingbare Rahmen für unsere Selbstbehauptung in der Welt. Europa ist und bleibt fünfundsiebzig Jahre nach dem Ende des Krieges zugleich die einzig gelungene Antwort auf die Herausforderungen unserer Geschichte und der Geographie. Scheitert das europäische Projekt, dann stehen die Lehren der deutschen, aber vielleicht auch der europäischen Geschichte auf dem Spiel.

Beides zusammengenommen macht Europa für uns so existenziell wichtig. Erst in und durch Europa hat Deutschland das Schwanken in Jahrhunderten zwischen enthemmter Machtpolitik und kultureller Hybris überwunden. Dieses geeinte Europa wird nur überleben, wenn wir es als konkretesten Ort deutscher Verantwortung begreifen. Und ich sage ganz offen auf dieser Sicherheitsfragen gewidmeten Konferenz: Unter allen Gefährdungen, die ich für Deutschland erkennen kann, sehe ich keine größere als die, dass unsere deutsche Erzählung von der Zukunft ohne das geeinte Europa auskommt. Ob aus mangelnder Einsicht, aus Gleichgültigkeit oder bei manchen vielleicht sogar aus Absicht.

Die Frage, die Sie zu Recht stellen: Was folgt daraus? Wie sollen wir Europa und der Welt dann gegenübertreten? Wir brauchen, das ist mein Rat an uns selbst, wir brauchen vor allem eine mentale Anpassung an eine sich verändernde, an eine neue Wirklichkeit. Sonst verlieren wir unsere Anschlussfähigkeit in Europa und damit auch unsere Gestaltungsfähigkeit. Der realistische Blick auf die Welt, für den ich werbe, redet nicht der Resignation das Wort, erst Recht nicht dem Zynismus, sondern ich werbe für Realismus und Neugier, gelegentlich auch etwas Demut.

Gerade in Deutschland haben wir mit vermeintlich guten Gründen geglaubt, dass sich nach dem Ende des Kalten Krieges die Welt um die europäische Sonne dreht. Dass das Erbe der europäischen Aufklärung eigentlich der Fluchtpunkt jeder gesellschaftlichen Entwicklung sein muss und einige vielleicht nur etwas verzögert ankommen. Aber manche dieser Annahmen haben sich, das wissen wir, als zu optimistisch erwiesen. Sie haben uns zu Selbstüberschätzung verleitet. Zu einer Haltung, die sich zu oft in moralischen Verurteilungen erschöpft. Einer Haltung, in der moralisch begründete Positionen uns manchmal den Blick auf die Notwendigkeit und die tatsächlichen Möglichkeiten unseres Handelns eher verstellen als öffnen. Eine wichtige Lektion liegt dabei in der Einsicht in die Begrenztheit auch unserer Möglichkeiten – und daran dennoch nicht zu verzweifeln. Als Deutschland und als Westen können wir die Welt nicht nach unserem Bilde gestalten. Folglich dürfen wir unsere Außenpolitik nicht mit zu viel Heilserwartung überfrachten. Aber mit Demut meine ich alles andere, wirklich alles andere als Scheu vor der Verantwortung. Im Gegenteil: Aufgabe kluger Außenpolitik ist es und muss es sein, durch Mut und Tatkraft Kriege zu verhindern, Konflikte zu entschärfen, Leid zu lindern. Aufgabe der Außenpolitik ist es auch, die normative Verständigung zum Schutz der menschlichen Lebensgrundlagen zu suchen – ohne zu erwarten, jemals global vollständigen Gleichklang erreichen zu können.

Die zweite Tugend, die wir Deutschen wiederentdecken sollten, ist die Neugier. Wenn vermeintlich alle so werden – oder wenigstens werden wollen – wie wir, dann könnte man ja denken, was kümmern uns dann die Eigenheiten, ihre Geschichte und Traditionen, Ängste und Prioritäten der anderen? Heute, in einer Zeit, in der Innen und Außen in allen Gesellschaften sich gegenseitig durchdringen, in der innenpolitische Debatten die außenpolitischen Spielräume bestimmen, müssen wir uns viel stärker wieder interessieren für das, was unsere Partner, unsere Wettbewerber und ja, auch unsere Gegner antreibt, was ihren Ehrgeiz ausmacht, aber auch, woraus sich auch ihre Ängste speisen.

Es stimmt ja, unzählige Deutsche engagieren sich für internationale Zusammenarbeit. Ich bin auf vielen Reisen Zeuge geworden von viel persönlichem Engagement gegen Armut und Ungleichheit und für eine bessere Welt. Das gilt natürlich insbesondere für die junge Generation. Und doch, was mir in vielen unserer nationalen Debatten fehlt, ist der wirklich offene Blick nach außen, ist die Anstrengung des Verstehenwollens. Stattdessen wird die zwar sehr menschliche, aber doch wirklichkeitsfremde Sehnsucht nach Eindeutigkeit oft dann mit schlichten Schwarz-Weiß- oder Freund-Feind-Schemata bedient: Andere machen es anders als wir – also falsch. Ich rate gewiss nicht zu Naivität und Blauäugigkeit. Aber Konflikte lassen sich nicht lösen, ohne die Perspektive und die Interessen des Gegenübers zu kennen, gerade dort, wo sie den eigenen Vorstellungen entgegenstehen. Anders ist ein Nuklearabkommen auch künftig mit dem Iran nicht zu verhandeln, anders ist auch keine Befriedung in der Ostukraine hinzukriegen. Man muss viele Hände schütteln, wenn man Frieden in Libyen schaffen will, und das sind nicht nur saubere Hände. Wer den Terror im Sahel bekämpfen will – und da hat Deutschland einige Jahre Erfahrung in Mali –, der kann das nicht auf die Frage Militär ja oder nein? reduzieren, sondern muss sich für erfolgreiche Stabilisierung vor allem den komplizierten Konfliktursachen vor Ort zuwenden. Anders ist Konfliktlösung, geschweige denn Verständigung nicht zu erreichen.

In dieser Haltung von Realismus, Offenheit und Neugier auf das Denken der anderen sollte Deutschland sich der größten Verantwortung zuwenden, die unserem Land zukommt, nämlich das geeinte Europa zusammenzuhalten.

Sicherheitspolitisch sehe ich unser Land in einer doppelten Verantwortung. Für Deutschland ist die Entwicklung einer verteidigungspolitisch handlungsfähigen EU ebenso unabdingbar wie der Ausbau des europäischen Pfeilers in der NATO. Vielfach wird die Zukunft so beschrieben, als müsse sich Deutschland für das eine oder das andere entscheiden. Ich hielte das offen gesagt für strategische Kurzsichtigkeit.

Um es ganz klar zu sagen: Wenn wir dieses Europa auch in Fragen der Sicherheit zusammenhalten wollen, dann reicht es nicht, allein die Europäische Union sicherheitspolitisch und militärisch stärker zu machen, sondern wir müssen, das ist meine Überzeugung, auch weiter in die transatlantische Bindung investieren. Oder ich könnte es mit den Worten des französischen Staatspräsidenten sagen: Es geht nicht darum, ob wir uns mit oder ohne Washington verteidigen wollen. Die Sicherheit Europas gründet auf einem starken Bündnis mit Amerika. Und hinzu kommt: Viele unserer mittel- und osteuropäischen Partner sehen ihre existenzielle Sicherheit dort und vor allem dort in der transatlantischen Bindung aufgehoben. Die Europäische Union allein kann die Sicherheit aller Mitglieder bei allen Fortschritten, die es gibt und die ich nicht bestreite, noch auf lange Sicht nicht garantieren. Und auf die EU allein zu setzen, hieße, Europa in die Spaltung zu treiben. Umgekehrt gilt aber auch: Nur ein Europa, das sich selbst glaubwürdig schützen will und kann, nur ein solches Europa wird die USA in der Allianz halten. Diese Einsicht fehlt mir in manchen der bei uns, aber auch anderswo in Europa geführten Debatten. Es ist Teil unserer deutschen Verantwortung, die Sorgen und Interessen der Völker Mitteleuropas ernst zu nehmen, ihnen Gewicht beizumessen und danach zu handeln. Zugleich gilt, unabhängig davon, wie und wo wir die Ursachen sehen: Mit einer zunehmenden Entfremdung von Russland kann und darf Europa sich auch nicht dauerhaft abfinden. Wir brauchen ein anderes, ein besseres Verhältnis der EU zu Russland und Russlands zur EU. Aber ich sage es deshalb hier, weil das notwendige Nachdenken über unser künftiges Verhältnis zu Russland eben nicht ohne oder auf Kosten der Staaten und Völker Mitteleuropas stattfinden kann. Aber dieses Nachdenken muss eben stattfinden, und dafür plädiere ich.

Für die USA, auch das muss gesagt sein, ist Europa nicht mehr so zentral wie früher. Wir müssen uns vor der Illusion hüten, dass das schwindende Interesse der USA an Europa allein auf die gegenwärtige Administration zurückzuführen ist. Dieser Vorwurf der Europäer wäre nicht gerechtfertigt. Denn wir wissen: Diese Verschiebung hat früher begonnen, und sie wird auch nach dieser Administration weitergehen. Das neue Gravitationszentrum amerikanischer Interessen, oder ich sollte vielleicht sagen amerikanischer Herausforderungen, liegt in Asien.

Aber was ich gerne sagen will bei dieser Gelegenheit: Wir in Deutschland, wir hoffen auf ein Amerika, das die Europäische Integration wieder – wie so lange in den letzten Jahrzehnten und zu Recht – als ein überaus wertvolles und vor allen Dingen uns gemeinsam verbindendes Projekt sieht. Darauf kommt es an. Dafür werbe ich bei meinen Reisen in die USA und bei vielen Begegnungen mit Amerikanern in Deutschland. Und ich freue mich über die starke amerikanische Delegation, die auch in diesem Jahr nach München gekommen ist zu diesem Forum, das immer ein Ort transatlantischer Debatte war.

Deutschland muss mehr beitragen für die Sicherheit Europas, auch innerhalb der Nato, und das auch finanziell. Das Bündnis hat sich dafür auf ein gemeinsames Ziel verständigt. Ich halte die Anstrengung, es zu erreichen, für richtig und notwendig. Aber seien wir ehrlich, auch in diesem Forum – seien wir ehrlich: Auch wenn alle in Europa, auch Deutschland deutlich mehr ausgeben würde als 2 Prozent seines Bruttosozialprodukts für Verteidigung, könnten wir die Erosion der internationalen Ordnung, deren Zeuge wir in diesen Jahren werden, noch nicht aufhalten oder gar umkehren. Nochmals, kein Missverständnis: Ich kritisiere nicht den Maßstab. Ich kritisiere nicht die zwei Prozent. Im Gegenteil. Ich finde es richtig. Aber hüten wir uns doch davor, ihn allein zum bestimmenden Maßstab für die Friedlichkeit und Sicherheit unserer Zukunft zu machen. Den Verlust von Diplomatie, von tragenden Säulen unserer Sicherheitsarchitektur, von Rüstungskontrollverträgen und internationalen Abkommen können wir nicht durch Panzer, Kampfjets und Mittelstreckenraketen kompensieren. Diese allzu simplen Debattenkategorien der jüngeren Vergangenheit sollten wir hinter uns lassen. Und auch, hoffentlich, auf dieser Konferenz. Im Gegenteil: Wenn wir nicht Wege zurück finden in die allgemeine Respektierung des Völkerrechts, wenn wir nicht die Beschädigungen einer Weltordnung reparieren, einer Weltordnung, die wir uns selbst gegeben haben, wenn wir nicht wieder lernen, die Sicherheit der anderen in die eigenen Sicherheitsstrategien zu integrieren, wenn wir Außenpolitik nicht genau auf diese Aufgaben orientieren, dann werden wir uns in einigen Jahren – zum Schaden aller – weltweit totrüsten. Hier einen anderen, klügeren Weg zu finden und zu beschreiten, das ist die Aufgabe aller, das ist unsere gemeinsame Verantwortung.

Niemand darf sich bei der Suche nach einem besseren Weg verweigern. Aber die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen teilen als Ergebnis der Nachkriegsordnung ein besonderes Privileg, teilen aber auch eine besondere Verantwortung. Eine besondere Verantwortung nämlich für Frieden, Sicherheit und Abrüstung. Emmanuel Macron hat recht, wenn er mit seiner Initiative ihren Willen, ihr Handeln, das der ständigen Sicherheitsratsmitglieder, einfordert, um genau dieser Verantwortung wieder gerecht zu werden in dieser sich so dramatisch verändernden Welt. Und das ist dringlich, die Rückkehr zu diesen Aufgaben, denn die Vorrechte der P5 haben eine Berechtigung, solange diese als Bewahrer oder Förderer einer Weltordnung eintreten, die über die eigenen Interessen hinausgeht. Nicht aber, wenn sie dieser Ordnung gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen oder sie selbst in ihrer außenpolitischen Praxis ständig unterlaufen.

Deutschlands Verantwortung hat eine andere Grundlage. Aber auch an der müssen wir uns messen lassen. Was wir brauchen, ist neben besseren Fähigkeiten eine ehrliche Analyse der deutschen Sicherheitslage und ein glaubhafter Wille, zur Selbstbehauptung Europas tatsächlich beizutragen. Erst aus einer handlungsfähigen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik erwächst unser glaubwürdiger Beitrag zum Erhalt der internationalen Ordnung. Das militärische Instrument ist für unsere Sicherheit unverzichtbar, aber weder das erste noch das erfolgversprechendste, wenn es um diplomatische und politische Handlungsfähigkeit geht. Europa muss seine eigene Antwort formulieren auf die gewaltigen Verschiebungen der Macht- und Einflusssphären, die ich beschrieben habe, auf neue politische und militärische Schwergewichte auf der internationalen Bühne. Es muss eine wirklich europäische Politik gegenüber Russland entwickeln, die sich nicht auf verurteilende Statements und Sanktionen allein beschränkt. Es muss eine eigene Balance finden mit China zwischen sich verschärfender Systemkonkurrenz und notwendiger Zusammenarbeit und muss dabei, noch schwieriger, die vielen anderen starken Partner in Asien ernst nehmen. Es muss eigene Initiativen entwickeln, um die Konflikte an den Rändern unserer Union einzudämmen und zu befrieden, im Osten wie im Süden. Die diplomatische Initiative, die die Bundeskanzlerin und Außenminister Maas ergriffen haben, um Europas Interesse an einer Stabilisierung in Libyen zur Geltung zu bringen – natürlich gemeinsam und in Unterstützung der Vereinten Nationen –, ist, wie ich finde, ein wirklich gutes Beispiel dafür. Die Sahelregion im nördlichen Afrika braucht genauso viel Aufmerksamkeit. Die explosive Lage um den Iran im Mittleren Osten ohnehin, die Europa unmittelbar betrifft. Erlauben Sie mir zu sagen: Ich halte die Aufkündigung des Iranabkommens für einen Fehler. Der Mittlere Osten ist keineswegs sicherer, sondern eher ein noch gefährlicherer Ort geworden. Aber wir müssen mit den neuen Realitäten umgehen. Und die neuen Realitäten sagen mir: Es bleibt Aufgabe der Europäer, mit neuen Wegen und Initiativen dazu beizutragen, eine iranische Nuklearwaffe und einen nuklearen Rüstungswettlauf in der ganzen Region zu verhindern. An enormen Herausforderungen, das zeigt sich an diesen wenigen Beispielen, für europäische Außen- und Sicherheitspolitik fehlt es nicht.

Aber wir Deutsche müssen auch Antwort auf die Frage geben, wie wir mit unserem engsten Partner, mit Frankreich, ernsthaft und vertrauensvoll über die Fragen der europäischen Sicherheit sprechen, Fragen, die Staatspräsident Macron in seiner wichtigen Rede an der Pariser École de Guerre vor einer Woche aufgeworfen hat. Wir sollten seine Einladung zum Dialog aufgreifen! Das bedeutet aber auch, uns in Frankreichs Perspektive hineinzuversetzen und unseren eigenen Beitrag zu leisten zur Entwicklung einer gemeinsamen strategischen Kultur, ohne die Europa nicht wirklich als sicherheitspolitischer Akteur zusammenfinden wird.

Wir Deutsche müssen uns daran messen, ob es uns gelingt, das Spannungsfeld zwischen der wachsenden Verantwortung Deutschlands und der Einsicht in die Begrenztheit unserer eigenen Möglichkeiten nicht nur auszuhalten, sondern europäisch fruchtbar zu machen. Es geht nicht um ein Entweder-oder, um einmischen oder heraushalten. Und schon gar nicht geht es um Gefälligkeiten, die wir anderen erweisen sollen. Sondern, und das ist mir wirklich sehr ernst: Es geht um unser aufgeklärtes Eigeninteresse. Aus ihm erwächst die Verantwortung, um es deutlich zu sagen, nicht nur zu sagen, was wir unter Verweis auf die historischen Wurzeln von restriktiver Exportpolitik auf der einen Seite und Parlamentsarmee auf der anderen Seite, was wir alles nicht tun können. Wir müssen stattdessen klarer sagen, wo und was wir zur Stärkung des europäischen Pfeilers in der Sicherheitspolitik beitragen können. Dann und nur dann wird auch verstanden, wo unsere Grenzen sind.

Ist es uns wirklich ernst mit Europa? Dann darf in der Mitte Europas kein ängstliches Herz schlagen. Dann brauchen wir den Mut, den Inhalt unserer Verantwortung immer wieder neu, vor allem immer wieder auf der Höhe der Zeit neu zu vermessen.

Zum Schluss: Ich weiß aus vielen Gesprächen im Lande um das grundlegende und weit verbreitete Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Gewissheit. Das kann mit Blick auf die Welt von heute niemand versprechen, niemand, der ehrlich und offen analysiert, niemand, der weiß, was sich vor unseren Augen tut. Die Welt wird eher noch uneindeutiger werden, noch komplexer, noch widersprüchlicher.

Und ich weiß, das macht alles nicht einfacher. Ich weiß, dass schon jetzt viele Menschen, jedenfalls in Deutschland, Sorge haben, dass sich hinter dem Begriff der Verantwortung vor allem militärische Auslandseinsätze verbergen. Aber eine solche Gleichsetzung führt in die Irre. Verantwortung in der Welt von heute heißt vor allem anderen, sich der Wirklichkeit zu stellen, nicht fatalistisch zu werden und immer wieder nach praktischen Wegen zu suchen, die Welt zu verändern und zu verbessern. Wir müssen uns nur im Klaren sein, das muss uns klar sein in Deutschland: Das wird uns nicht aus einer Position der Schwäche gelingen. Deutschland aber kann seine Stärke nur aus der Gemeinsamkeit mit anderen ziehen. Deshalb und nur deshalb müssen wir zu dieser Stärke mehr beitragen.

Lassen wir uns also nicht von Angst und Sorge treiben. Franklin D. Roosevelt, der amerikanische Präsident, unter dem Amerika Europa befreite, hat damals gesagt: The only thing we have to fear is fear itself. Das gilt mit Blick auf die Zukunft unserer Demokratie im Innern. Das gilt auch für unsere Rolle in Europa und der Welt. Der offene Blick auf die Welt fördert auch Erstaunliches und immer wieder Ermutigendes zutage: Fortschritte im Kampf gegen Armut, Hunger und Kindersterblichkeit; Länder im Aufbruch wie Äthiopien; Gesellschaften, die sich nach langer Abschottung öffnen, wie Sudan oder Usbekistan; Millionen von Menschen in vielen Ländern dieser Welt, die nach Anerkennung und Würde verlangen, nach Teilhabe und nach Chancen für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.

Diesem tiefen menschlichen Verlangen gerecht zu werden, ist das normative Projekt, das den Westen einmal ausgemacht hat. Es steht Europa – und ich finde, insbesondere Deutschland – gut an, der Welt weniger missionarisch entgegenzutreten. Die Verwestlichung der Welt kann nicht unser politisches Programm sein. Aber das normative Projekt einer Welt, das die Würde des Menschen zum Maßstab staatlichen Handelns macht, wie es in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen vor fünfundsiebzig Jahren neben Frieden und Sicherheit als überragendes Ziel formuliert wurde, das die Stärke des Rechts über das Recht des Stärkeren stellt, das müssen und dürfen wir nicht aufgeben. Das ist das offene Projekt, das bleibt. Ohne geographische Grenzen. Ohne Hautfarbe. Wenn wir selbst es am Leben halten, unsere Ideen und Institutionen wieder mit Leben füllen, dann wird es weit über unsere Grenzen hinweg ausstrahlen und wieder stärkeres Beispiel geben können. Es wird Vertrauen aufbauen und neue Kraft entwickeln. Selbstbewusst, nicht sendungsbewusst. Das ist unsere Aufgabe, für unser Land, dazu beizutragen. Und wir werden das tun. Mit Realismus und Neugier, mit Tatkraft, Mut und Zuversicht.

Herzlichen Dank. Ich wünsche Ihnen eine gelingende Konferenz.