Diskussionsveranstaltung "Gemeinsam gegen Hass und Gewalt – Kommunalpolitiker nicht allein lassen!"

Schwerpunktthema: Rede

Zwickau, , 10. März 2020

Der Bundespräsident hat am 10. März gemeinsam mit der Oberbürgermeisterin von Zwickau zu einer Diskussionsveranstaltung "Gemeinsam gegen Hass und Gewalt – Kommunalpolitiker nicht allein lassen!" ins Zwickauer Rathaus eingeladen. Zu Beginn sagte er: "Wir brauchen all die Menschen, die bereit sind, Verantwortung vor Ort zu übernehmen und zu tragen. Sie sind das Fundament, auf dem das Gebäude der Demokratie ruht."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Diskussionsveranstaltung mit dem Titel "Gemeinsam gegen Hass und Gewalt – Kommunalpolitiker nicht allein lassen!"

Mein erster Dank gilt heute der Stadt Zwickau. Als Sie, liebe Frau Oberbürgermeisterin, 2018 bei uns in Berlin zu Gast waren und wir über die Lage bedrohter Amts- und Mandatsträger in Kommunen gesprochen haben, wollten wir bei der bedrückenden Analyse nicht stehenbleiben. Wir wollten Kontakt halten und Unterstützung finden. Vor zwei Jahren noch, bei geringerer öffentlicher Sensibilität, war das kein leichtes Unterfangen.

Ein Jahr später wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke ermordet, und auf das Entsetzen folgten intensive, wichtige Debatten – auch erneut bei uns in Bellevue mit einer ganzen Reihe von Bürgermeistern und Gemeinderäten, die Hass und Bedrohung am eigenen Leib erfahren hatten. Viele Journalisten konnten kaum glauben, welche Anfeindungen landauf, landab schon gang und gäbe waren. Die Diskussionen darüber sollten nicht versanden, weshalb wir uns damals zu einer Fortsetzung hier im Rathaus verabredet haben.

Binnen nur weniger Monate folgten weitere Attentate, weitere Opfer: zwei Tote in Halle und nur eine Holztür, die ein Blutbad in einer voll besetzten Synagoge verhindern konnte; zehn Tote in Hanau und so viele Verwundete – an Körper und Seele –, für die nach dieser rassistischen Terrortat nichts mehr ist wie zuvor; neunzig Verletzte einer Tat in Volkmarsen, deren Hintergrund wir noch nicht genau kennen.

Es gibt keinen Zweifel mehr: Deutschland hat ein massives Problem mit Hass und Gewalt. Es zeigt sich nicht flächendeckend in den Kriminalstatistiken, aber es offenbart sich mit Vorfällen, die uns wahrlich alarmieren müssen. Dazu gehören rechtsextremistische Verschwörungen, wie sie hier in Sachsen mit Revolution Chemnitz aufgedeckt wurden. Dazu gehören Netzwerke, die sich – wie bei der jüngsten Razzia gesehen – über mehrere Bundesländer erstrecken oder ihre Wurzeln einst im Ausland hatten. Aber dazu gehören auch, und deshalb sind wir heute hier, Hass und Gewalt ganz unmittelbar vor der eigenen Haustür, in Ihrer eigenen Bürgersprechstunde, meine Damen und Herren.

Das Spektrum dabei ist denkbar weit. Es reicht von Verunglimpfungen per E-Mail bis hin zu dem, was eindeutig in die Hände des Verfassungsschutzes gehört. Die Angriffe sind mal ideologisch, mal einfach von rasender Wut getrieben. Und sie betreffen Vertreterinnen und Vertreter aller Parteien, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, Menschen mit und ohne religiöse Überzeugung, Menschen im Osten wie im Westen unseres Landes. So unterschiedlich die Phänomene im Einzelnen sind, sie gedeihen in demselben gefährlichen Klima, das die Rathäuser und Parlamente genauso wie die Schulhöfe und Internetforen erreicht hat. Ein Klima der Empörung und Enthemmung, ein Klima der Herabsetzung und des Hasses, ein Klima, das wir nicht länger hinnehmen dürfen.

An all diesen Orten, in all diesen Momenten braucht es jetzt vor allem unser gemeinsames, klares Nein. Niemand darf mehr sagen: Das betrifft mich nicht. Und niemand darf mehr schweigen. Ich finde, die sogenannte schweigende Mitte war zu lange ruhig, obwohl wir wissen: Sie existiert, es gibt sie, diese Mehrheit von Menschen in unserem Land, die friedlich zusammenleben will und Gewalt eindeutig verurteilt. Aber genau diese Mehrheit muss eben lauter werden.

Ich bin sehr dankbar, dass heute vom Achtklässler bis zum über Achtzigjährigen so viele gekommen sind. Unsere Botschaft heißt: Wir bleiben nicht still. Wir stellen uns gemeinsam gegen den Hass.

Lassen Sie mich dort beginnen, wo Sie, liebe Kommunalpolitiker, Ihre Arbeit tun – in Reinsdorf oder Sindelfingen, all den Orten, aus denen Sie heute angereist sind. Dort sorgen Sie dafür, dass Glasfaserkabel verlegt oder Integrationsbeiräte angehört werden. Sie gratulieren dem Mittelständler zum Betriebsjubiläum oder der A-Jugend zur Meisterschaft. Sie sind fast überall, vor allem da, wo man Sie braucht. Und das, was Ihre Arbeit so wertvoll und unverzichtbar macht – die Bürgernähe –, genau das begründet auch Ihre Verwundbarkeit.

In den allermeisten Fällen haben Sie keinen Personenschutz und keine gepanzerten Fahrzeuge. Die Ehrenamtlichen von Ihnen haben auch keine eigene Fachabteilung, die sie beraten könnte. Und wenn es hart auf hart kommt, stehen Sie ganz allein auf dem Bürgersteig. Was mir Betroffene erzählen, reicht vom Eierwurf über Fäkalien im Briefkasten bis hin zu Fällen wie dem, wo der Galgen im Vorgarten einer Bürgermeisterin bereits aufgestellt war. Viele Täter bleiben anonym oder äußern sich aus der Distanz. Andere brüllen frei heraus, was oder wen sie weghaben wollen.

Natürlich gab es auch früher Vorkommnisse, Streit mit dem Bürgermeister am Stammtisch, das ist ja nichts Neues, gelegentlich auch die Prügelei im Bierzelt. Jüngst jedoch haben die Übergriffe ein Ausmaß und eine Häufigkeit erreicht, die für mich nur eine Schlussfolgerung erlauben: Wir dürfen nicht zulassen, dass Kommunalpolitikerinnen und -politiker in unserem Land zu Fußabtretern der Frustrierten werden. Wir brauchen all die Menschen, die bereit sind, Verantwortung vor Ort zu übernehmen und zu tragen. Sie sind das Fundament, auf dem das Gebäude der Demokratie ruht. Deshalb: Wir müssen Zivilität verteidigen, Anstand und Vernunft zurückgewinnen.

Das wird nicht über Nacht gelingen, wer wüsste das besser als Sie. Da gibt es den Reichsbürger, der auf offener Straße mit seinen Waffen prahlt. Aber da gibt es auch die früher ganz unauffälligen Nachbarn, den Hausbesitzer, der auf dem Amt wegen seiner Anliegerkosten ausrastet, oder den Untermieter, der im Jobcenter plötzlich sein Messer zieht. Zu viele, die sich nie selbst engagieren, aber über die schimpfen, die sich engagieren für die Stadt oder für die Region.

Wenn ich von Bedrohungen in der Kommunalpolitik rede, denke ich auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen, die Selbstverteidigungskurse besuchen, besuchen müssen, oder wegen Erschöpfung aufgeben. Nicht alle sind so hart betroffen, aber Sie alle erleben es in Ihrem Alltag, dass die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen sich immer weiter verschiebt. Und die Grenze des daraus folgenden Handelns für manche offenbar auch.

Nur ein kleiner Teil dieses ganzen Panoramas geht in polizeiliche Statistiken ein, wird nach Straf- oder Zivilrecht geahndet. Weil gar nicht erst Anzeige erstattet wird. Weil keine Zeugen da sind. Oder weil kein gesetzlicher Tatbestand greift.

Viele Formen der Bedrohung liegen tatsächlich unter der Schwelle des Justiziablen. Doch sie liegen über der Schwelle dessen, was Menschen aushalten können, ohne irgendwann mürbe zu werden. Mit Sätzen wie ich weiß, wo Deine Tochter zur Schule geht wird auch für diejenigen, die lange ausgehalten haben, ein Limit erreicht. Einige Fälle von Rücktritten sind inzwischen bekannt geworden.

Deutlich höher wird allerdings die Zahl derer vermutet, die sich ohne Angabe von Gründen nicht zur Wiederwahl stellen, wenn ein kommunales Amt zu besetzen ist. Manche tun es still und heimlich, um nicht als gescheitert oder als Nestbeschmutzer in die Ortsgeschichte einzugehen. Andere haben Angst, ihre Situation mit medialer Öffentlichkeit zu verschlimmern.

Die Frage, in welcher Form man die Bedrohung von Kommunalpolitikern publik machen sollte, hat auch mich lange beschäftigt. Ich bin dem Deutschen Städtetag, dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund sehr dankbar, dass wir zusammen überlegt haben, was der richtige Weg sein könnte. Einerseits möchte man der Geltungssucht der Täter keine Bühne bereiten und damit gar Trittbrettfahrer animieren. Andererseits – und das ist meine tiefe Überzeugung – muss man Probleme benennen, auch öffentlich benennen, um sie zu lösen. Die Herausforderung, vor der wir hier stehen, bewältigen wir nur mit einer breiten Allianz, mit öffentlicher Unterstützung, deshalb das Wort gemeinsam auf der Einladungskarte.

Es stimmt mich zuversichtlich, wenn ich auf die vergangenen zwei Jahre zurückschaue, dass doch etwas in Bewegung gekommen ist. In meinem politischen Leben habe ich etliche Themenkonjunkturen erlebt, aber für die jüngste Entwicklung bin ich wirklich dankbar: Die Medien berichten seit vergangenem Sommer häufiger. Der Bundestag diskutiert gerade den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, der unter anderem eine Änderung von Paragraf 188 des Strafgesetzbuches vorsieht; Kommunalpolitiker würden damit künftig ausdrücklich als Personen des politischen Lebens geschützt. Auch gegen digitale Hetze will die Bundesregierung schärfer vorgehen, das Bundeskriminalamt baut eine zentrale Meldestelle für Hasspostings auf. Und in immer mehr Ländern werden spezialisierte Staatsanwaltschaften oder andere Anlaufstellen eingerichtet, wie wir nachher auf dem Podium hören werden.

Die Demokratie muss sich wehren können gegen ihre Feinde, und sie muss diese Wehrhaftigkeit auch zeigen.

Es wird dauern, bis die Maßnahmen in der Praxis greifen. Und vielleicht werden wir nächstes Jahr diskutieren, wo nachgelegt werden muss. Entscheidend ist jedoch: Es gibt eine große politische Übereinkunft, dass die nötigen Finanzen, die nötigen Strukturen bereitgestellt werden, um Hass und Gewalt wirksam zu begegnen. Und ich bin sicher, wir werden im Laufe der Zeit noch mehr Instrumente brauchen, um die strategisch angelegten Manipulationen im Netz aufzudecken und die, die im Schutz der Anonymität, mit Fake Accounts oder auf geschlossenen Kommunikationsplattformen ihr demokratiezerstörerisches Werk betreiben, zu entlarven.

Unser heutiges Podium soll auch diesen Prozess des Umgangs mit digitaler Hetze widerspiegeln, deshalb war es mir wichtig, dort nicht nur den Problemen Gehör zu verschaffen, sondern auch den Lösungen. Beispielhaft – beispielgebend, möchte ich sagen – haben wir je eine Stimme der Strafverfolgungsbehörden, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft eingeladen. Und wir haben Zeit eingeplant, um viele weitere aus dem Saal zu Wort kommen zu lassen, sei es mit eigenen Erfahrungen oder Vorschlägen.

Ich hoffe, dass wir neben der Strafverfolgung ausführlich über Prävention reden werden. Der politischen Bildung kommt eine große Rolle zu, wenngleich sie oft kleingeredet oder unterschätzt wird. Auch damit haben wir uns in den vergangenen Jahren intensiv beschäftigt und versucht, den politischen Bildnern den Rücken zu stärken.

Zahlreiche Initiativen der Zivilgesellschaft sind dabei, gegen die gefährlichen Trends, die ich gerade beschrieben habe, anzuarbeiten. Wenn man mit den Aktiven spricht, stellt man schnell fest, dass sich die Probleme der Kommunalpolitiker mit den Erlebnissen vieler anderer haupt- und ehrenamtlich Engagierter überschneiden. Feuerwehr und Polizei zum Beispiel haben sich zu einer Kampagne zusammengeschlossen mit dem Titel: Respekt? Ja, bitte! Wir brauchen mehr solche Anstöße in der ganzen Breite der Gesellschaft, damit das gelingt, was ich eingangs beschrieben habe: die Zurückgewinnung der Zivilität.

Dieser Lernprozess bedeutet natürlich auch Aufarbeitung der eigenen Fehler. Erinnerung, wo wir nicht vergessen dürfen. Lieber Herr Killat, Sie sind Ehrenbürger von Zwickau, 1933 hier geboren, und haben den Gedenkort für die Opfer der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund initiiert: zehn Bäume in einem friedlichen, weitläufigen Park. Auf den ersten Blick erkennt man nicht, dass es sich um einen Gedenkort handelt. Wer verstehen will, muss genau hinsehen. Wie passend für die Geschichte des NSU. Und wie passend als Aufforderung für die Gegenwart. Ich werde mir heute auch Zeit dafür nehmen.

Ich gebe zu, wir haben uns keine einfachen Themen vorgenommen. Aber ich wünsche uns, dass wir diese Stunden nutzen und jeder von Ihnen mit der Gewissheit nach Hause geht: Ich bin nicht allein. Wir sind viele – gemeinsam gegen Hass und Gewalt!