Trauerstaatsakt für Kurt Biedenkopf

Schwerpunktthema: Rede

Dresden, , 3. September 2021

Bundespräsident Steinmeier hat beim Trauerstaatsakt für Kurt Biedenkopf in Dresden am 3. September eine Ansprache gehalten: "Wie es ihm hier in Sachsen gelungen ist, sozusagen die Probe aufs Exempel seines Denkens zu liefern, wie er dabei überaus erfolgreich war und für seine Politik breiteste Unterstützung gewann, das gehört zur Erfüllung eines politischen Lebens, wie es nur wenigen vergönnt ist."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Trauerstaatsakt des Freistaates Sachsen für Kurt Biedenkopf in Dresden

Wir nehmen heute feierlich Abschied von Kurt Biedenkopf hier in der Frauenkirche, deren Wiederaufbau er, mit so vielen in Dresden und in ganz Sachsen, so sehr herbeigesehnt hat. Es ist in vieler Hinsicht der richtige Ort. Denn er erinnert an die Katastrophe des verbrecherischen Krieges, der von Deutschland ausging und fürchterlich auf Deutschland zurückschlug, und er steht für den Wiederaufbau unseres jetzt vereinigten Landes Jahrzehnte nach diesem Krieg. Ein Land, neu und offen für die Zukunft, aber auch dem geistigen und kulturellen Erbe verpflichtet.

In vieler Hinsicht ist es ganz besonders die Generation, zu der Kurt Biedenkopf gehört, der wir diesen neuen Beginn zu verdanken haben. Gerade die um 1930 Geborenen, die noch als Kinder und Jugendliche den Krieg und das sogenannte Dritte Reich sehr bewusst erlebt haben, die dann den Schrecken und die Zerstörung, die Flucht und Vertreibung, Not und Hunger nach dem Krieg erleben mussten, gerade diejenigen haben so viel geleistet und das Fundament geschaffen, auf dem sich Stabilität und Wohlstand späterer Jahre entwickeln konnten.

Eine Zeitung schrieb bei seinem Tod zu Recht von der Generation Biedenkopf. Die dazu gehören, waren zu jung, um selber schuldig geworden zu sein, aber sie waren alt genug, um mit vollem Bewusstsein die geistigen und moralischen Konsequenzen zu erkennen, die sich aus der Niederlage und der Befreiung 1945 ergeben mussten. Sie setzten sich leidenschaftlich ein für ein neues, modernes Deutschland, für Demokratie und soziale Gerechtigkeit, für Frieden nach außen und nach innen.

Zu denen, die entschieden den Blick nach vorne, auf eine bessere Zukunft richteten, gehört Kurt Biedenkopf. Wie viele andere Begabte seiner Generation erkannte er die Chancen, die sich ihm boten. Er studierte, was ihm lag. Er ging, noch jung, in die USA, gewann so schon früh Weltläufigkeit und einen Blick auf das eigene Land, der nicht provinziell verengt war. Das sollte er sein Leben lang behalten.

Und wie nicht wenige seiner Generation kam er schon früh in sehr verantwortungsvolle berufliche Positionen. Mit Mitte dreißig wurde er, nach ersten akademischen Leistungen, Rektor der Ruhr-Universität Bochum, jener ersten Universitätsgründung im Ruhrgebiet, die für die Geschichte dieser Region und unseres ganzen Landes von herausragender Bedeutung war.

Sie trauten sich etwas zu, die jungen Leute aus den Jahrgängen um 1930 – und sie hatten etwas zu bieten: neue Ideen, den Willen zu Reform und Modernität, internationale Erfahrung und anerkannte, früh erbrachte Leistungen. Und wie Kurt Biedenkopf führte eine Reihe von Wissenschaftlern, auch von schon erfolgreichen Professoren, ihr Weg schließlich auch ins politische Engagement und in die politische Verantwortung.

Professoren oder Intellektuelle wie Roman Herzog, Hans Maier oder dann Rita Süssmuth in der CDU/CSU, wie Horst Ehmke, Peter Glotz oder Erhard Eppler in der SPD, Werner Maihofer oder Ralf Dahrendorf in der FDP: Überall brachten auch akademisch erfolgreiche Zeitgenossen ihr bürgerliches Engagement in die politische – und ganz bewusst auch in die parteipolitische – Verantwortung ein. Manche hatten es als Reformer in ihren jeweiligen Parteien nicht immer leicht; aber indem sie mit ihrer Leidenschaft für Veränderung in ihren Parteien wirkten, haben sie alle sich große Verdienste auch für unser ganzes Gemeinwesen erworben.

Bei Kurt Biedenkopf kam noch hinzu, dass er erst einmal auch in eine wirtschaftlich verantwortungsvolle Stellung zum Unternehmen Henkel gewechselt war, also auch diese gesellschaftliche Welt von innen heraus kennengelernt hatte. Als er dann von Helmut Kohl – wie er selbst 1930 in Ludwigshafen geboren – zum Generalsekretär der CDU berufen wurde, nahm er auf diesen Posten seine vielen Erfahrungen mit, vor allem aber seine Fähigkeit zur gesellschaftspolitischen Reflexion und seinen Willen, in Politik und Gesellschaft den modernen Zeiten und ihrer Dynamik gerecht zu werden.

Den Posten, den er nun bekleidete, definierte er für seine Partei praktisch neu. Mit seinem Amtsantritt wurde aus dem, was man bisher meist etwas betulich als Bundesgeschäftsführer bezeichnet hatte, ein intellektueller Vordenker, ein Ideengeber. Das war oft unbequem – für seine Partei und auch für ihn selbst. Aber Kurt Biedenkopf wusste immer: Wer die Zukunft gewinnen will, muss den Konflikt suchen, die Auseinandersetzung, den Wettstreit der Ideen. Das machte ihn glaubwürdig und brachte ihm den Respekt auch von Gegnern ein.

Ein Beispiel aus den 1970er Jahren: Die beiden großen alten Gelehrten, deren Denken die Achtundsechziger so sehr inspiriert hatte, Herbert Marcuse und Alfred Mitscherlich, trafen sich zu einer Podiumsdiskussion mit Kurt Biedenkopf über gesellschaftspolitische Ziele und Möglichkeiten – damals ein Ereignis; ein Ereignis, zu dem die großen deutschen Zeitungen 1976 ihre besten Federn schickten, um darüber zu berichten. Er selber, Kurt Biedenkopf, ging ohne Angst und Vorurteile in diese Diskussion. Er wollte – sichtbar und hörbar – nicht nur aus der eigenen Erfahrungswelt gewonnene Überzeugungen referieren, sondern er war neugierig auf andere, deren Argumente, konnte dagegenhalten, aber war auch bereit dazuzulernen.

Er liebte intellektuelle Debatten nicht um ihrer selbst willen, sondern um daraus Konsequenzen für konkretes politisches Handeln zu ziehen. So erschloss sich ihm zum Beispiel, was er als die Neue Soziale Frage definierte, die ihn sein ganzes politisches Leben lang umtrieb und auf die er konkrete politische Antworten suchte.

In einem auf den ersten Blick sehr einfach formulierten Text hat Kurt Biedenkopf einmal die Maximen seines politischen Denkens und Handelns zusammengefasst. Es ist der Prolog zu seinem Buch Die neue Sicht der Dinge von 1985, an dem er lange gefeilt hat, wie gute Freunde berichten. Er war ihm so wichtig, dass er ihn kursiv und fast wie ein Gedicht an den Anfang des Buches setzen ließ:

Wer eine neue Ordnung denken will,
muss den Mut haben, aus der alten Ordnung herauszutreten.
Wer die alte Ordnung verlassen will,
um sie zu überdenken,
braucht einen festen Standort. […]
Dauerhaft muss das Ziel sein,
das uns bei der Gestaltung leitet.
Immer neu durchdenken müssen wir die Wege,
die wir beschreiten.
Dauerhafte Gültigkeit der Werte,
Veränderung der Strukturen:
Das ist freiheitliche Politik.

Niemand, und am wenigsten Kurt Biedenkopf selber, hätte zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung daran denken können, dass er noch einmal in führender politischer Verantwortung in die Lage kommen würde, diese Maximen und Reflexionen in konkretes politisches Handeln umzusetzen.

Denn ihm, diesem früh Gereiften, diesem früh auf hohen Karrierestufen angelangten politischen Intellektuellen, der inzwischen auch manche Stürze und Niederlagen erlebt hatte, ihm schlug die eigentliche Stunde seiner praktischen Bewährung, als er 1990 hier in Sachsen zum ersten Ministerpräsidenten gewählt wurde. Nun galt es; und nun kam es in allererster Linie auf ihn an. Nun ging es in der sehr realen Praxis darum, die alte Ordnung zu verlassen, nun ging es Tag für Tag um Veränderung der Strukturen und um eine freiheitliche Politik.

Wie Kurt Biedenkopf diese Bewährungsprobe gemeistert hat, wie es ihm hier in Sachsen gelungen ist, sozusagen die Probe aufs Exempel seines Denkens zu liefern, wie er dabei überaus erfolgreich war und für seine Politik breiteste Unterstützung gewann, das gehört zur Erfüllung eines politischen Lebens, wie es nur wenigen vergönnt ist.

Wie hier ein Mensch und eine Aufgabe zusammenfanden, das lässt an den bekannten, aber zweifelnden Satz von Jacob Burckhardt denken: Nicht jede Zeit findet ihren großen Mann, und nicht jede Fähigkeit findet ihre Zeit.

Kein Zweifel: Hier in Sachsen war Kurt Biedenkopf mit seinen Fähigkeiten der richtige Mann zur richtigen Zeit. Und wenn man ihm dann, sozusagen per Akklamation, den Titel König Kurt zuerkannt hat, dann verbirgt die Ironie darin doch kaum die große Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wurde und wird. Auch treffende Spitznamen muss man sich verdienen.

Und auch die freundliche Ironie von Zeitgenossen und Wegbegleitern. Als Bundespräsident Johannes Rau ihn bei einem Besuch in Sachsen einmal fragte, was es eigentlich genau mit dem Begriff Freistaat auf sich habe, antwortete Biedenkopf, das habe mit der Abschaffung der Monarchie zu tun. Worauf Johannes Rau zurückfragte: Wann ist denn diese Abschaffung hier vorgesehen?

Ja, Kurt Biedenkopf hat sich verdient gemacht um den Freistaat Sachsen. Mit seiner Fähigkeit, gute Leute um sich zu scharen; mit seiner Intelligenz, die aber nie den Besserwessi gab, wie man ihn damals zuhauf antreffen konnte; mit seiner Achtung vor dem Können, vor der Intelligenz und auch vor der Lebensleistung der Sachsen. Sie alle hatten ja auch bis 1990 eine Biographie, auf die sie mit Würde und Stolz zurückblicken wollten. Und mit seiner unerschöpflichen Energie und seinen Visionen, mit seinem Zuspruch und seinem Vertrauen in ihre Leistungsfähigkeit gab er den Menschen hier Mut, die schwierige Gegenwart zu meistern und eine bessere Zukunft in Angriff zu nehmen.

Wenn der Osten Deutschlands heute mit innovativen, nachhaltigen und markterobernden Produkten und Technologien glänzen kann, wenn Deutschlands wirtschaftliche Zukunft hier in Sachsen entsteht – lieber Michael Kretschmer, vergangene Woche erst haben wir das in einem nagelneuen Halbleiterwerk am Standort Dresden gemeinsam anschauen können –, dann erblüht genau darin Biedenkopfs Vision. Dann ist das immer noch auch seinen Ideen, Initiativen und Projekten zu verdanken – und vor allem seinem auf die Zukunft gerichteten Denken und der Zuversicht, die er allen vermitteln konnte.

Wir vergessen heute auch nicht, dass er sich um viele sehr persönliche und alltägliche Sorgen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger gekümmert hat – und dass dabei seine Frau Ingrid eine wichtige Stütze war; eine Landesmutter, die ebenfalls zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und sich um alle Anliegen aus ihrem sächsischen Kummerkasten mit aller Leidenschaft kümmerte. Ihnen, Frau Biedenkopf, sprechen wir darum heute nicht nur unser Beileid aus, sondern auch unseren herzlichen Dank.

Mit Kurt Biedenkopf verabschieden wir heute einen der anregendsten, im besten Sinn einflussreichsten und originellsten Politiker, die unsere Republik gekannt hat. Auch heute, gerade heute, wo wir vor so vielen neuen Herausforderungen stehen, wäre er mehr als willkommen: ein reflektierter Denker, der die Gesellschaft, in der er lebt, in ihren ganzen Facetten zu verstehen sucht, der aber auch im Praktischen weiß, was zu tun ist, wenn es auf ihn ankommt. Und der dieses Wissen nicht für sich behielt, sondern im Gegenteil den Austausch suchte, über Partei und Generationen hinweg, der mit Rat und Tat zur Seite stand, bis zuletzt. Vergangenes Jahr noch bei einem Ehrenessen im Schloss Bellevue anlässlich seines 90. Geburtstags haben wir gemeinsam zurückgeblickt auf die vielen Male, die sich unsere Wege gekreuzt haben, die Begegnungen insbesondere, bei denen wir in bewegten Zeiten über notwendige wirtschaftliche Reformen und die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme diskutiert haben. Seine Stimme wird uns fehlen. Sie wird mir fehlen.

Bertolt Brecht schreibt im Lied über die guten Leute:

Die guten Leute erkennt man daran
dass sie besser werden
wenn man sie erkennt.

Das trifft auf Kurt Biedenkopf wohl genauso zu wie auch ein anderer Satz aus diesem Gedicht:

Alle ihre Lösungen enthalten noch Aufgaben.

Wir verneigen uns heute vor Kurt Biedenkopf. Und wir ehren ihn wohl am besten, wenn wir die Aufgaben angehen, die vor uns liegen, und in seinem Geist keine Angst vor der Zukunft haben.