Bundespräsident Horst Köhler hat zum Abschluss der Konferenz "Partnerschaft mit Afrika" dem Bonner Generalanzeiger ein Interview gegeben. Die Fragen stellten Joachim Westhoff, Thomas Wittke und Ulrich Lüke

Schwerpunktthema: Interview

Bonn, , 8. November 2005

Bundespräsident Horst Köhler begrüßt Jugendliche in Waterloo, Sierra Leone

Generalanzeiger: Wie lässt sich verhindern, dass der Impuls Ihrer Afrika-Konferenz schnell verpufft?

Horst Köhler: Das Treffen auf dem Petersberg soll der Auftakt für eine Serie von Begegnungen sein, die aufeinander aufbauen. So kann Vertrauen wachsen. Die Ausgangslage ist doch die: Es wird viel von Nord-Süd-Partnerschaft geredet, aber in der Realität gibt es sie kaum. Denn wir haben immer noch zu häufig ein Denken in den Kategorien von Über- und Unterordnung in den Köpfen. Das müssen wir ändern. Die Industrieländer müssen begreifen, dass die Kooperation mit Afrika in unserem ureigensten Interesse ist.

Generalanzeiger: Warum?

Horst Köhler: Es hätte weltweite Folgen, wenn der Kontinent im Chaos versinken würde. Die nächtlichen Szenen an den Grenzzäunen der spanischen Exklaven in Nordafrika sollten uns zu denken geben. Und vor allem: es geht um eine ethische Frage. Wer es mit der Armutsbekämpfung ernst meint, kann es nicht bei Worten belassen, sondern wird handeln. Ich kann mir darum einfachnicht vorstellen, dass die jungen Menschen in Deutschland gleichgültig der Entwicklung in Afrika zuschauen.

Generalanzeiger: Aber spricht nicht die Wirtschaftsflaute in Europa doch dafür, dass Probleme in Afrika stärker ignoriert werden?

Horst Köhler: Das Risiko besteht. Aber wir müssen begreifen, in welcher neuen Umgebung sich Europa zurechtfinden muss. Wirtschaftsverflechtung, Umweltprobleme, Terrorismus und Migration machen doch nicht an den Grenzen Halt. Nord und Süd sind aufeinander angewiesen. Für eine gute Zukunft bei uns ist es wichtig, dass Afrika eine bessere Perspektive erhält.

Generalanzeiger: Verhalten sich die Industriestaaten noch scheinheilig?

Horst Köhler: Teilweise schon. Ich nenne ein Beispiel: seit die Lage im Nahen Osten kritischer geworden ist, importiert der Westen zunehmend mehr Öl aus Afrika. Doch ich kann bislang noch nicht erkennen, dass von dieser neuen Chance auch die Menschen in Afrika profitieren. Ich finde, es gibt eine gemeinsame Verantwortung afrikanischer Regierungen und ihrer westlichen Partner dafür, dass die Menschen in Afrika fair an ihren eigenen Rohstoff-Schätzen teilhaben. Wenn dafür nicht gesorgt wird, schlägt eine solche Politik am Ende umso härter auf uns zurück.

Generalanzeiger: Entscheidet sich die Frage der Menschlichkeit auf dieser Welt am Umgang mit Afrika?

Horst Köhler: Ja. Wir stehen in der Pflicht, gemäß unserem eigenen Menschenbild zu handeln. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das muss uns in unserem Handeln leiten. Sonst ließen wir zu, dass die Bedingungen in Afrika dauerhaft menschenunwürdig blieben. Was wären dann unsere eigenen Ideale wert?

Generalanzeiger: Sie sprachen selbst von 1 000 Afrikas, 1 000 verschiedene Ausprägungen, Demokraten und Despoten. Wie soll man vorgehen?

Horst Köhler: Ein Patentrezept gibt es nicht. Wir wollen auf diejenigen zugehen, die sich ernsthaft bemühen, den Anliegen der Menschen in ihren Ländern gerecht zu werden. Denjenigen Staaten, die bei der demokratischen und gesellschaftlichen Öffnung hinterher hinken, dürfen wir keine Anreize geben, die die negative Entwicklung noch verstärken. Und wir müssen auch eine Vorstellung entwickeln, wie wir mit total kollabierten Staaten umgehen.

Generalanzeiger: Also auch differenzierte Entwicklungshilfe?

Horst Köhler: Genau. Man wird sich zum Beispiel Gedanken darüber machen müssen, wie man gezielt die Landwirtschaft in den ländlichen Regionen Afrikas aufbaut, denn dort konzentriert sich die Armut. Afrika hat durchaus das Potenzial, seine Menschen mit den Erträgen der eigenen Erde zu ernähren. Daran sollte gearbeitet werden.

Generalanzeiger: Gibt es eine gemeinsame ethische Grundlage für die Nord-Süd-Politik?

Horst Köhler: Diese ethische Grundlage in unserer einen Welt zu schaffen, ist das unverzichtbare Ziel. Das stellt auch meinen ganz persönlichen Kompass dar. Ein Weltethos muss möglich sein.

Generalanzeiger: Wohin führt Sie Ihre nächste Afrika-Reise? In Staaten, die es gut machen?

Horst Köhler: Nach Mozambik, Botsuana, Madagaskar.

Generalanzeiger: Kümmern sich die deutschen Parteien zu wenig um Dritte-Welt-Politik?

Horst Köhler: In den Wahlprogrammen finden sich nicht allzu viele Aussagen dazu.

Generalanzeiger: Werden Sie auf die Parteien einwirken, sich in dieser Frage mehr Gedanken zu machen?

Horst Köhler: Ja, aber nicht, indem ich Druck ausübe. Ich will meine Mittel einsetzen, um in dieser Frage ein neues Bewusstsein in Deutschland zu schaffen, zu mahnen und um Orientierung zu geben.

Generalanzeiger: Besteht die Notwendigkeit einer grundlegenden Neuorientierung der deutschen Außenpolitik durch eine neue Bundesregierung?

Horst Köhler: Die deutsche Politik weiß um den Wert der Kontinuität in der Außenpolitik auch bei Regierungswechseln. Jede neue Regierung wird aber auch schauen, wo sie neue Akzente setzen muss.

Generalanzeiger: Sie haben lange in den USA gelebt: Können Sie sich ein besseres bilaterales Verhältnis vorstellen?

Horst Köhler: Ja. Aber dazu müssen sich beide Seiten bewegen.

Generalanzeiger: Was ist bei der Qualitätsbestimmung des bilateralen Verhältnisses wichtiger: Die Achtung der Menschenrechte oder gute Wirtschaftsbeziehungen?

Horst Köhler: Da gibt es kein Entweder-Oder. Schon aufgrund unserer historischen Erfahrung muss die Achtung der Menschenrechte stets Leitschnur unserer Politik sein. Dabei sind wir in der Pflicht, uns die Einzelfälle sehr genau anzuschauen. Wo es Verletzungen gibt, zeigen wir Flagge und wirken durch Kontakt und Dialog. Wenn es sich um eklatante Menschenrechtsverletzungen handelt, müssen wir auch bereit sein, einmal vom Ziel eines Handelsabschlusses Abstand zu nehmen. Es geht darum, eine Linie der Glaubwürdigkeit zu finden.

Generalanzeiger: Das gilt auch für den Umgang mit Partnern wie Russland und China?

Horst Köhler: Die unveräußerlichen Menschenrechte gelten universell.

Generalanzeiger: Irans Präsident hat die Tilgung Israels von der Landkarte gefordert.

Horst Köhler: Diese Äußerung ist mit den Prinzipien und Statuten der Vereinten Nationen unvereinbar.

Generalanzeiger: Wie kann in Deutschland der Verbrechen der Vertreibung gedacht werden, ohne dass sich unsere Nachbarn im Osten vor den Kopf gestoßen fühlen müssen?

Horst Köhler: Es muss zunächst ganz klar gesagt werden, wer den Krieg und die Verbrechen ausgelöst hat: es war Deutschland unter nationalsozialistischer Herrschaft. Dieser Ausgangspunkt ist unverzichtbar. Dann geht es darum, die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in ihrer ganzen Komplexität in einen europäischen Kontext zu stellen, um keine Wunden aufzureißen. Das kann gelingen. Ich sehe auf allen Seiten gute Demokraten, gute Europäer und Menschen, die wollen, dass die ganze geschichtliche Wahrheit bewahrt und erinnert wird.

Generalanzeiger: Das ganze Land verfolgt die Koalitionsverhandlungen. Wird zuviel über Personal, zu wenig über Inhalte gesprochen?

Horst Köhler: Zunächst einmal finde ich es gut, wie schnell die SPDihre Führungskrise gelöst hat. Franz Müntefering hat meinen Respekt. Ich weiß aus meinen Gesprächen mit ihm, wie wichtig für ihn Verantwortlichkeit ist. Personalquerelen gibt es auch in anderen Parteien, aber ich habe nicht die Absicht, sie zu kommentieren.

Generalanzeiger: Verstärken derartige Querelen nicht die Politikverdrossenheit der Menschen?

Horst Köhler: Die Politiker wären in der Tat gut beraten, nach den Koalitionsverhandlungen einmal in sich zu gehen und zu überlegen, was anders zu machen wäre in der Präsentation von Politik. Aber ich möchte hinzufügen: Es hilft nicht, nun über die Politiker herzuziehen. Wenn wir ehrlich mit uns selber sind, dann erkennen wir: Es gibt auch manche überspannte Erwartung an die Politik. Ich jedenfalls erkenne bei den Politikern auch viel ehrliches, ernsthaftes Ringen um die beste Lösung für unser Land.

Generalanzeiger: Jedes Volk hat die Parteienstruktur oder die Regierung, die es verdient?

Horst Köhler: Diesen Satz gibt es. Dass der Ausgang der Bundestagswahl ein paar Schwierigkeiten bereitet, eine Regierung zu bilden, kann doch nicht verwundern. Deshalb will ich einmal eine Lanze für die Politiker brechen. Wer erwartet, dass es zu jedem Thema sofort umfassende Lösungen gibt, der erwartet die Quadratur des Kreises. Das ist keine Freizeichnung für Politikversagen, aber wir haben guten Grund, Verständnis für diejenigen Politiker aufzubringen, die sich ernsthaft ihren schwierigen Aufgaben stellen. Diese Ernsthaftigkeit um der Sache willen dürfen wir allerdings auch erwarten.

Generalanzeiger: Mit Angela Merkel und Matthias Platzeck stehen jetzt zwei Ostdeutsche an der Spitze der beiden großen Volksparteien. Ein Zeichen für Normalität oder zumindest Normalisierung im innerdeutschen Ost-West-Verhältnis?

Horst Köhler: Ich sehe das als Chance. Mir fällt auf, dass Menschen, die in der DDR groß geworden sind, Imponiergehabe häufig fremd ist. Ich mag es, wie sie pragmatisch, auf eine etwas leisere Art, nach Lösungen suchen. Das kann den Ergebnissen gut tun.

Generalanzeiger: Sie haben mehrfach vor überzogenen Erwartungen an den Staat gewarnt und gesagt, wir hätten mehr Staat, als wir uns leisten können. Haben Sie die Erwartung, dass eine große Koalition die Kraft hat, staatliche Aufgaben auf das Leistbare zurückzustutzen?

Horst Köhler: Es bleibt eine Notwendigkeit, dass wir die Staatsfinanzen mittelfristig konsolidieren - schon, um zukünftige Generationen nicht über Gebühr zu belasten. Gerechtigkeit ist auch Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Wir haben es künftigen Generationen schon jetzt schwerer gemacht, als wir es dürften. Aber ich meine damit nicht eine Politik, die den Nachtwächterstaat schafft. Das wäre ganz falsch. Wir brauchen in bestimmten Bereichen einen starken Staat.

Generalanzeiger: Wo?

Horst Köhler: Wir sind jetzt als Staat zu schwach in der Bildungspolitik, und vermutlich auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Deshalb ist es kein Patentrezept, den Staat auf ein Minimum zurückzudrängen. Seine Kernfunktionen müssen gestärkt werden, und dafür müssen wir auch die notwendigen Mittel aufbringen.

Generalanzeiger: Ihre Rede im März vor den Arbeitgebern hat Ihnen den Vorwurf eingetragen, zu einseitig die Positionen der Wirtschaft zu vertreten. Sind Sie ein Arbeitgeberbundespräsident?

Horst Köhler: Angesichts des Schicksals der vielen Arbeitslosen wünschte ich mir manchmal schon, der Bundespräsident könnte ihnen Arbeit geben. In der genannten Rede habe ich die wesentlichen Voraussetzungen für mehr Beschäftigung benannt. Die Arbeitslosigkeit ist ein strukturelles Problem. Wir überwinden sie nicht allein mit einer konjunkturellen Belebung der Nachfrage. Wir müssen die Kraft haben, strukturelle Änderungen vorzunehmen.

Generalanzeiger: Also doch Abschied vom Sozialstaat?

Horst Köhler: Nein. Wir Deutschen wollen den Sozialstaat, weil wir gelernt haben, dass es für alle gut ist, miteinander zu teilen. Auch in Zukunft gehört es zum modernen Sozialstaat, den Menschen eine wirksame Grundsicherung gegen die Not- und Wechselfälle des Lebens zu geben. Aber heute kann der Staat eben nicht mehr alles garantieren, was er immer noch verspricht. Wer das nicht anspricht, täuscht die Menschen.

Generalanzeiger: Letztes Thema: Föderalismusreform. Was kann der Bundespräsident tun, um sie voranzutreiben? Oder ist etwa alles schon unter Dach und Fach?

Horst Köhler: Ich weiß, dass das Beratungsergebnis vom vergangenen Dezember als gute Basis für eine Einigung betrachtet wird. Für mich gehört das Thema föderale Finanzverfassung zwingend dazu. Ich fände es falsch, wenn das auf unbestimmte Zeit verschoben würde. Wir brauchen wenigstens eine Selbstverpflichtung darauf, wann das Thema angegangen wird.

Generalanzeiger: Wie würden Sie die Bundesrepublik in diesen ersten Novembertagen 2005 charakterisieren? Ein unruhiges Land, ein Land mit Orientierungsproblemen?

Horst Köhler: Ein Land auf der Suche.