Bundespräsident Horst Köhler hat in Berlin den Deutschen Zukunftspreis verliehen. Interview mit "bild der wissenschaft"

Schwerpunktthema: Interview

Berlin, , 21. November 2006

Bundespräsident Horst Köhler und der Preisträger - in der Hand die blaue Preisskulptur - stehen auf der Bühne vor einer blauen Wand.

bild der wissenschaft: Viele Deutsche brüsten sich, dass sie in der Schule mit Physik und Chemie wenig anzufangen wussten. Hand aufs Herz, Herr Bundespräsident, wie war das denn bei dem Gymnasiasten Horst Köhler in Ludwigsburg?

Horst Köhler: Es kam immer darauf an, ob die Lehrer es geschafft haben, bei uns Schülern die Begeisterung für ihr Fach zu wecken. Das ist für mich bis heute der Schlüssel zu den Naturwissenschaften, und zwar weit über den Schulunterricht hinaus. Ich erinnere mich an manche spannende Experimente im Unterricht. Das war natürlich viel packender als rein theoretischer Unterricht. Die Neugierde in einem anderen Menschen zu wecken, das ist doch eine tolle Aufgabe für Pädagogen und Naturwissenschaftler.

bdw: Am 23. November wird derDeutsche Zukunftspreiszum zehnten Mal verliehen. Sie, Herr Bundespräsident, übernahmen diese Aufgabe von Ihrem Amtsvorgänger Johannes Rau und er von Roman Herzog. Wie fühlen Sie sich vor einer solchen Veranstaltung, haben Sie Lampenfieber?

Horst Köhler: Ich freue mich auf die Preisverleihung. Und ich bin gespannt auf die Gespräche mit den Forschern und Entwicklern. Auch hier geht es, wie damals in der Schule, oft um die Spanne zwischen Theorie und Umsetzung in der Praxis. Die Strecke, die zwischen Idee und Produkt zurückgelegt werden muss, beschäftigt auch unsere Forscher und Entwickler stark. Ein Forscher hat mir beispielsweise erzählt, dass er vom Vorstand seiner Firma bedrängt wurde, seine Entwicklung aufzugeben, weil die Richtung von anderen Unternehmen als wenig aussichtsreich eingestuft würde. Er hat sich aber nicht beirren lassen. Das zeigt: der Durchhaltewillen, dicke Bretter zu bohren, ist in der Forschung wichtig - und die Fähigkeit, andere neugierig auf die eigene Arbeit zu machen.

bdw: Gelingt es denn den Forschern, ihre Arbeit so darzustellen, dass Sie das ohne Weiteres nachvollziehen können?

Horst Köhler: Es gelingt immer besser. Dabei ist es für die Nominierten des Deutschen Zukunftspreises oft gar nicht so einfach, die technischen Sachverhalte so darzustellen, dass beim Beobachter Neugierde und Interesse dafür geweckt werden. Aber auch die Medien begreifen immer klarer, dass sich hinter dem abstrakten Begriff Forschung und Entwicklung oft ein packendes Abenteuer verbirgt, über das es sich zu berichten lohnt. Ich finde, wir sollten dafür sorgen, dass noch mehr Forscher mit Journalisten zusammenkommen und beide darüber nachdenken, wie sich Forschung und ihre Ergebnisse spannend präsentieren lassen. Ich bin sicher: Viele Menschen lassen sich begeistern und motivieren, wenn ihnen klar wird, welche Spitzenleistungen in der deutschen Forschung und Entwicklung gelingen.

bdw: Welche Möglichkeiten haben Sie selbst, auf die Preisvergabe einzuwirken?

Horst Köhler: Gar keine - zum Glück. Wo kämen wir denn hin, wenn es anders wäre? Diese Entscheidung trifft eine Jury aus Wissenschaftlern und Industrieforschern. Ich erfahre das Ergebnis erst am Tag der Entscheidungsverkündung, wenn ich den Brief öffne, der das Juryergebnis enthält.

bdw: Sind in der Jury nur Experten, oder sitzt dort auch ein Vertreter des Bundespräsidialamtes?

Horst Köhler: Nur Fachleute. Insgesamt sind das 10 Experten, und sie werden auf fünf Jahre berufen.

bdw: Der Zukunftspreis ist eine von Männern dominierte Veranstaltung. In der aktuellen Jury sitzen nur zwei Frauen. Und bei den seit Ihrer Präsidentschaft für den Preis nominierten 31 Personen sind auch nur zwei Frauen. Wie kann man das ändern?

Horst Köhler: Mit langem Atem - etwa, indem man schon im Kindergarten auch Mädchen für naturwissenschaftliche Phänomene begeistert. Wir haben allen Grund, unsere Talente so früh wie möglich zu entdecken und zu fördern - unabhängig vom Geschlecht. Darüber hinaus müssen wir uns mehr darum kümmern, dass auch Wissenschaftlerinnen erleben können, wie Familie und Beruf miteinander vereinbar gemacht werden können. Ein mustergültiges Projekt hat hier Frau Nüsslein-Volhard, die Tübinger Nobelpreisträgerin, ins Leben gerufen: Eine von ihr initiierte Stiftung unterstützt die Kinderbetreuung von besonders begabten Wissenschaftlerinnen.

bdw: Ehe Sie im Mai 2004 zum Bundespräsidenten gewählt wurden, waren sie sechs Jahre im Ausland - vier in den USA, zwei in England. Beide Länder sind in der Wissenschaft führend und gelten hier oft als Vorbild für Deutschland. Haben Sie diesen Rückstand Deutschlands selbst wahrgenommen?

Horst Köhler: Ja und nein. In der London School of Economics kam noch vor 10 Jahren ein großer Teil der ausländischen Studenten aus Deutschland; heute stellt China eine mit Abstand größere Gruppe. Die chinesischen Studenten arbeiten nach Aussage des Universitätspräsidenten 70 Stunden in der Woche, Deutsche dagegen 40. In London wie später auch in Washington fiel mir auf, dass man sich in Großbritannien und den USA auf Spitzenwissenschaft konzentriert. Deshalb gibt es dort Eliteuniversitäten, die mit ihrem Potenzial, auch mit ihren finanziellen Ressourcen, mit Abstand besser dastehen und mehr Möglichkeiten haben als deutsche Universitäten. Aber mir fiel auch auf, dass gerade in den USA viele Universitäten gezielt auf Wissenschaftler setzen, die in Deutschland ausgebildet wurden und sich anschließend in Amerika einen glänzenden Ruf erarbeitet haben. Manche sagen sogar, sie würden gerne wieder zurückkehren. Aber ihnen seien die Forschungsbedingungen hierzulande - hinsichtlich der Ausstattung und der Autonomie des Forschens - zu eingeschränkt. Auch die Bezahlung erscheint dem einen oder anderen zu schlecht.

bdw: Das mag in Teilen sicher zutreffen. Andererseits hat ein Forscher hierzulande durch das Beamtenrecht die weltweit seltene Chance, ein ganzes Leben lang bei gesichertem Einkommen arbeiten zu können.

Horst Köhler: Sicher. Wichtiger ist mir allerdings, dass Deutschland seine exzellente Grundlagenforschung aufrecht erhält. Das ist nicht notwendigerweise an Lebenszeitbeamte gebunden. Was wir brauchen, sind Entwicklungsmöglichkeiten, die im weltweiten Rahmen so attraktiv sind, dass sich die besten Wissenschaftler für eine Position in Deutschland interessieren.

bdw: Und wo stehen wir dabei Ihrer Meinung nach heute?

Horst Köhler: Erfreulicherweise wächst unser Bewusstsein, dass wir Elite brauchen. Es gibt die Exzellenzinitiative der Hochschulen. Es gibt die High-Tech-Strategie der Bundesregierung. Konkret fehlt mir aber immer noch der allgemeine gesellschaftliche Konsens, dass Bildung sowie Forschung und Entwicklung dauerhaft besser ausgestattet sein müssen. Die Bürokratie an den Hochschulen sollten wir zugunsten von mehr Freiheit in der Forschung zurückdrängen. Wir müssen den Durchbruch zu mehr Spitzenleistungen beschleunigen. Unsere Konkurrenten werden nicht langsamer.

bdw: China produziert pro Jahr bereits an die vier Millionen Hochschulabsolventen. Kann man dieser Phalanx langfristig überhaupt standhalten - zumal die vielen Absolventen ja offenbar auch deutlich länger arbeiten?

Horst Köhler: In der Tat kommen dort zum Beispiel jedes Jahr etwa 400 000 junge Ingenieure auf den Arbeitsmarkt, bei uns sind es 40 000. Daraus kann man ableiten, welche technologische Wettbewerbskraft allein aus China herandrängt. Ähnliches gilt für Indien. Die Chinesen haben soeben ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm aufgelegt, das sie bis 2020 von westlicher Technologie unabhängig machen soll. Andererseits haben wir keinen Grund, uns einschüchtern zu lassen. Entscheidend ist letztlich die Kreativität unserer Forscher und Entwickler. Da haben wir mit unserem Wertesystem, das auf das Individuum ausgerichtet ist, mit der Freiheit von Forschung und Lehre sowie der aufgeschlossenen Mentalität des Westens einige Vorteile, die wir auch selbst nicht unterschätzen sollten.

bdw: Was kann der Zukunftspreis in diesem Zusammenhang bewegen?

Horst Köhler: Mit dem Zukunftspreis zeichnen wir marktnahe Entwicklungen aus und zeigen so auf, wodurch in Deutschland Arbeitsplätze gesichert oder geschaffen werden können. Der Preis ist ein Signal dafür, dass Ideen, kombiniert mit Ausdauer und Umsetzungskraft, zu einem lohnenden Ergebnis führen. Und wir wollen zeigen, wie vorbildlich unsere Forscher-Persönlichkeiten sind.

bdw: Wir haben den Eindruck, dass selbst technologisch Interessierte wenig mit dem Deutschen Zukunftspreis anfangen können, geschweige die Namen der Ausgezeichneten kennen.

Horst Köhler: Manchmal ist es das Los von Kreativen, ihrer Zeit voraus zu sein. Trotzdem, und ganz im Ernst: natürlich machen wir uns Gedanken darüber, wie man das Interesse an den Innovationen und den Menschen, die dahinter stecken, noch weiter steigern kann. Dazu gehört gewiss die neue Dauerausstellung aller bisherigen Auszeichnungen im Deutschen Museum in München. Und wir sind froh, dass die Preisvergabe auch in diesem Jahr im Abendprogramm des ZDF gezeigt wird.

bdw: Wer sich die Nominierten-Teams der letzten Jahre ansieht, bekommt den Eindruck, dass da nur noch Konzerne vertreten sind.

Horst Köhler: Das ist keine Gesetzmäßigkeit. Und ich bin sicher, es gibt auch in kleineren und mittleren Unternehmen Entwicklungen, die volle Aufmerksamkeit verdienen. Die Jury ist völlig offen.

bdw: Welche Rolle kann der Bundespräsident übernehmen, wenn es um die technologische Zukunftsfähigkeit geht. Bewegen Ruck-Reden, wie die von Ihrem Vorvorgänger Roman Herzog, wirklich etwas?

Horst Köhler: Es kommt doch darauf an, Bewusstsein zu verändern. Und das hat Roman Herzog geschafft. Immerhin reden Sie auch heute noch von dieser Rede. Die Reformagenda 2010 von Bundeskanzler Gerhard Schröder war eine Antwort darauf, wenn auch eine späte. Und Tatsache ist: Deutschland hat sich in Bewegung gesetzt. Jetzt ist es wichtig, dass sich diese Bewegung fortsetzt, vertieft und verbreitert. Natürlich müssen wir auch sehen, was die Menschen an Veränderung in welchen Zeitabschnitten verkraften können. Ich bin aber sicher, dass wir genügend Kraft haben, um die Priorität für Bildung, Forschung und Entwicklung in unserer Gesellschaft zu verankern. Darauf kommt es an, wenn wir auch in Zukunft neue technologieintensive Produkte ersinnen und herstellen wollen, die andere Länder nicht so gut können. Denn so sichern wir unsere Zukunft.