Interview von Bundespräsident Horst Köhler mit dem Handelsblatt. Die Fragen stellten Hermann-Josef Knipper und Andreas Rinke.

Schwerpunktthema: Interview

Berlin, , 29. November 2007

Porträt Bundespräsident Horst Köhler

Handelsblatt:Herr Bundespräsident, droht der Reformwille in Deutschland zu erlahmen, weil nun trotz einiger Fortschritte die Wachstumsprognosen schon wieder nach unten korrigiert werden müssen?

Horst Köhler:Es war immer klar, dass dem gegenwärtigen Aufschwung auch wieder eine Abschwächung folgen wird. Genau deshalb kommt es darauf an, unser Land und seine Strukturen nachhaltig stark zu machen für die Herausforderungen der Zukunft. Denn der Strukturwandel geht weiter: Der Aufstieg Asiens ist noch lange nicht vorbei, auch nicht die globale Kräfteverschiebung in Richtung Schwellenländer. Dabei sind in unserem Land nach wie vor 3,4 Millionen Menschen ohne Arbeit. Vor allem Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte sind in einer prekären Lage. Gute Arbeit zu schaffen, bleibt deshalb die zentrale Aufgabe in Deutschland. Ich sehe keinen Anlass, unsere strukturellen Reformanstrengungen für abgeschlossen zu erklären. Und wenn wir an die Alterung unserer Gesellschaft denken, erkennen wir ebenso, dass noch viel zu tun ist, um die Sozialsysteme wirklich wetterfest zu machen. Immerhin sehen wir doch heute, dass die Reformpolitik Wirkung zeigt. Der Sachverständigenrat warnt zu Recht davor, das Erreichte nicht zu verspielen.

Handelsblatt:Sie meinen die Verlängerung des Arbeitslosengeldes für Ältere?

Horst Köhler:Ich kann verstehen, wenn auch an diesem Beispiel die Frage der sozialen Gerechtigkeit diskutiert wird. Aber wir sollten nicht übersehen: Die Arbeitsmarktreformen der vergangenen Jahre haben dazu beigetragen, dass heute ein geringeres Wachstum als früher ausreicht, um neue Beschäftigung zu schaffen. Es ist wichtig, diese Trendumkehr zu halten. Dabei sehe ich gerne ein, dass es sicherlich eine Herausforderung ist, jederzeit parteipolitische Erfordernisse mit dem sachlich Gebotenen in Deckung zu bringen.

Handelsblatt:Also führt Deutschland seit einem halben Jahr die falsche gesellschaftliche Debatte über "Teilhabe"?

Horst Köhler:Teilhabe und Reform sind für mich kein Gegensatz. Natürlich sollen die Menschen spüren, dass sich die Dinge für sie verbessern, und das geschieht doch auch bereits, im Westen wie im Osten. Wir erleben also, dass sich Anstrengungen lohnen. Ich bin da ganz zuversichtlich: Es gibt überall Menschen mit guten Ideen, und Deutschland kann auf einen starken Mittelstand bauen, um den Strukturwandel zu schaffen. Geben wir den Menschen den Raum zur Entfaltung ihrer Ideen und ihrer Tatkraft.

Handelsblatt:Aber noch mal zurück zur Teilhabe. Wie sollen Menschen denn das Gefühl bekommen, dass sie profitieren? In Deutschland läuft die klassische Debatte über staatliche Sozialleistungen - oder aber über höhere Löhne.

Horst Köhler:Natürlich hat der Staat für sozialen Ausgleich zu sorgen. Daran ist nicht zu rütteln. Aber es muss dem Staat eben auch gelingen, die Menschen jenseits dessen zu motivieren. Umverteilung ist das eine. Der demokratische, freiheitliche Staat will aber mehr: Die Menschen sollen sich entfalten können.

Glück lässt sich nicht als Sozialleistung organisieren. Die Anstrengung, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, mit allen Risiken und Unwägbarkeiten, das verdient Anerkennung, Respekt und Förderung durch den demokratischen Staat. Deshalb finde ich es auch so wichtig, dass der Staat sich auf die wirksame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit konzentriert. Denn das heißt: neue Chancen schaffen, statt Resignation zu verwalten. Es macht mich fast schon zornig, wie beim Thema soziale Gerechtigkeit vor allem übers Geldverteilen geredet wird und zu wenig davon, wie sehr Menschen durch Langzeitarbeitslosigkeit und schlechte Bildung benachteiligt werden. Die wichtigste Form der sozialen Gerechtigkeit ist und bleibt deshalb: Arbeit für alle, und Bildung für alle.

Handelsblatt:Die, die bereits Arbeit haben, wollen aber auch teilhaben ...

Horst Köhler:Diejenigen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten, verdienen Respekt. Die Menschen in der Mitte der Gesellschaft erbringen den Löwenanteil dessen, was verteilt wird. Sie sollen erleben, dass sich ihr Beitrag auch für sie selber lohnt. Und die andere Seite der Medaille sind die Tarifverhandlungen. Der Staat hat sich hier herauszuhalten. Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut, das die deutsche Erfolgsgeschichte nach 1945 maßgeblich mitgeprägt hat. Die deutschen Gewerkschaften fordern jetzt höhere Löhne. Das sollte niemanden überraschen, denn die Arbeitnehmer wollen ihren Anteil am Aufschwung haben. Das ist kein Grund, am Verantwortungsbewusstsein der Gewerkschaften auch in Zukunft zu zweifeln.

Handelsblatt:Woher wissen Sie dies?

Horst Köhler:Die Gewerkschaften wissen, dass der Weltarbeitsmarkt global geworden ist. Es gibt Milliarden Menschen, die zu niedrigeren Löhnen als hierzulande arbeiten. Wenn Arbeit überall auf der Welt erledigt werden kann, dann lässt sich ihr Preis immer weniger innerhalb von Landesgrenzen bestimmen. Deshalb halte ich es für strategisch wichtig, den Arbeitnehmern systematisch eine zweite Einkommensquelle zu erschließen, durch Ertrags- und Kapitalbeteiligung. Das ist ein offensiver Weg, einer wachsenden Schere zwischen Lohneinkommen und Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen entgegenzuwirken.

Handelsblatt:Ein anderes Mittel für mehr Teilhabe der Bürger wäre eine Steuersenkung. Was halten Sie denn davon?

Horst Köhler:Ich halte die Frage einer grundlegenden Steuerreform nach wie vor für wichtig. Dabei ist für mich ein einfaches, durchschaubares Steuersystem, das dem Steuerzahler unmittelbar einleuchtet, wichtiger als Steuersenkungen. Denn der Staat braucht ordentliche Finanzmittel, um seine Aufgaben wirksam erfüllen zu können, im Regelfall ohne Schuldenfinanzierung. Wir müssen aber sicherstellen, dass der normale Bürger den demokratischen Staat verstehen und bejahen kann. Wenn er nicht mehr weiß, was die Ordnungsprinzipien des Steuersystems sind, dann wächst die Distanz. Dann geht Vertrauen verloren, dass Steuern eine berechtigte und notwendige Abgabe sind, um etwa Polizisten und Lehrer zu bezahlen. Ein durchschaubares Steuersystem ist - wie ein durchschaubares Sozialsystem - wichtig, um zu belegen: Unser demokratischer Staat hat Tatkraft. Er macht klar, was er vom Bürger verlangt und was er ihm dafür bietet. Und er belastet nach Leistungsfähigkeit und prämiert nicht die Findigen, die alle Gelegenheiten nutzen, sich arm zu rechnen.

Handelsblatt:Haben wir die Reihenfolge richtig verstanden: Erst die Haushaltskonsolidierung, dann die Steuerreform, dann mögliche Steuersenkungen?

Horst Köhler:Ja. Die nachhaltige Konsolidierung der Staatsfinanzen ist der erste und unverzichtbare Schritt. Da ist Deutschland ganz gut vorangekommen. Aber ich würde keinen Fehler darin sehen, wenn wir schon jetzt und in Ruhe ein einfacheres Steuersystem diskutierten und daran möglichst viele Bürger beteiligten. Wenn diese Debatte mit der Frage kombiniert wird, welche Staatsaufgaben wir dauerhaft und verlässlich brauchen, werden wir auch darüber diskutieren können, ob, wann und in welcher Höhe es Steuersenkungen geben kann. Aber dies sollte der letzte Schritt sein.

Handelsblatt:"Vereinfachung" klingt erst einmal gut, aber was bedeutet das?

Horst Köhler:Die alte Formel ist immer noch richtig: Niedrigere Steuersätze und weniger Ausnahmen. Das setzt Vertrauen in die Menschen. Und es gibt ihnen die Verantwortung, den größeren privaten finanziellen Spielraum sinnvoll einzusetzen.

Handelsblatt:Wenn dies kein Projekt der kommenden zwei Jahre ist, was sollte die große Koalition dann noch leisten?

Horst Köhler:Nicht locker lassen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und darüber hinaus gute Bildung für alle und die Integration von Zugewanderten voranbringen. Meiner Meinung nach kann sich Deutschland vor allem hier keinen Zeitaufschub mehr leisten. Reformen in den Bereichen Bildung und Integration wurden lange verschlafen. Daran waren beide Partner der großen Koalition beteiligt. Dies sollte ein hinreichender Grund sein, diese Themen nicht für weitere zwei Jahre ohne Lösung dem Parteienstreit auszusetzen.

Handelsblatt: Herr Bundespräsident, sind Sie als ehemaliger IWF-Chef eigentlich besorgt über die Krise der Finanzmärkte?

Horst Köhler:Ja. Denn weder die Banken noch die Politik können derzeit sagen, welche Risiken auf den Finanzmärkten eigentlich von wem getragen werden. Die Finanzmärkte haben sich mit gigantischen Geschäften weltweit von der Realwirtschaft gelöst. Immer neue Finanzprodukte werden geschaffen, die Risiko in Geld verwandeln sollen. Dabei ist die Komplexität der Finanzprodukte so groß geworden, dass nach meinem Eindruck viele Teilnehmer am internationalen Finanzhandel nicht mehr überblicken, welches Risiko sie faktisch übernehmen. Sie hängen in enormem Maße von so genannten Experten ab, die aber ihrerseits nur noch ganz schmale Segmente des Geschäfts überblicken. Deshalb wachsen Misstrauen und Risikoanfälligkeit.

Handelsblatt:Was sollte getan werden?

Horst Köhler:Die Krise hat etwas Gutes, wenn die Akteure daraus lernen. Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung über die Risikokultur der internationalen Finanzmärkte. Dazu gehört eine Überprüfung der Euphorie über die Vorteile von Verbriefungsgeschäften. Risiken aufzuteilen und handelbar zu machen, bedeutet schließlich nicht, dass sich die Risiken in Luft auflösen. Die Finanzmarkt-Regulierer müssen mehr wissen über die Übertragungswege von Risiken und die Letztempfänger von Risiken. Sie brauchen mehr Leute mit der entsprechenden Expertise. Ich hielte es für gut, den Internationalen Währungsfonds zum Kompetenzzentrum für die Stabilität der internationalen Finanzmärkte zu machen. Er sollte in die Lage versetzt werden, auch Empfehlungen an die Politik zu formulieren.

Handelsblatt:Also sollte der IWF mehr leisten als bisher?

Horst Köhler:Er sollte sich stärker darauf ausrichten, die Risiken für die Weltwirtschaft zu benennen, die von dem Geschehen auf den internationalen Finanzmärkten und der Vernetzung nationaler Finanzsektoren ausgehen. Und er sollte die fachliche Expertise und politische Autorität haben, seine Konsultationen ohne Ansehen von Größe oder Stimmrechtsquoten der Mitgliedsländer vorzunehmen.

Handelsblatt:Dazu müsste der IWF aber überall akzeptiert werden. Geht das mit der bisherigen Quotenverteilung, bei der Amerikaner und Europäer den Ton angeben?

Horst Köhler:Diese Diskussion gibt es seit langem. Bisher wurden die Quoten der einzelnen Länder am Anteil an der Weltwirtschaft festgemacht. Nach diesem Schlüssel müsste der Anteil einiger Schwellenländer in jedem Fall wachsen. Ich plädiere aber auch für ein politisches Element bei der Gewichtung. Deshalb sollten meiner Meinung nach auch die Entwicklungsländer eine stärkere Stimme bekommen. Und die Europäer hätten in meinen Augen mehr Gewicht, wenn sie ihre Stimmrechte in einem Sitz konsolidieren würden.

Handelsblatt:Glauben Sie, dass die Subprime-Krise mit einem starken IWF besser hätte gemeistert werden können?

Horst Köhler: Die Hauptverantwortung bleibt bei den Akteuren auf den Finanzmärkten selbst. Auch ein starker IWF ist kein Ersatz dafür, dass sich die führenden Leute der Branche selbst um die Stabilität ihres Sektors kümmern müssen. Sie müssen gerade in der Globalisierung einer Kultur des Augenmaßes und des Risikobewusstseins Raum geben. Ich bin sicher, sie sind dazu fähig. Die Krise ist ein Weckruf für das Verantwortungsbewusstsein der Finanzwelt.

Handelsblatt:Besorgt Sie nicht, dass die Subprime-Krise erstaunlich stark auch in Deutschland angekommen ist? Liegt das an der hiesigen Struktur des Bankensystems?

Horst Köhler:Die Auswirkungen sind groß genug, um zu fragen, ob wir nicht Schwächen haben. Wenn Banken nicht profitabel genug im eigenen Geschäft sind, weichen sie oft auf risikoreiche Geschäfte aus, für die sie keine ausreichende eigene Expertise haben. Aus der Subprime-Krise aber nun den Schluss zu ziehen, dass das Dreisäulensystem in Deutschland überholt ist, wäre sicher zu kurz gesprungen. Doch eindeutig geht die Konsolidierung der deutschen Bankenwirtschaft zu langsam voran.

Handelsblatt:Sind Sie denn persönlich skeptisch über die Entwicklung der Weltwirtschaft?

Horst Köhler:Der Ölpreis und die Folgen der Subprime-Krise werden Spuren hinterlassen. Experten sagen für die US-Wirtschaft eine deutliche Abschwächung voraus. Zum Glück hängt die Weltkonjunktur heute nicht mehr ganz so stark von der US-Wirtschaft ab. Die Schwellenländer wachsen zunehmend aus eigener Kraft. Die westlichen Volkswirtschaften sind elastischer geworden, und Europa wickelt einen Großteil seiner wirtschaftlichen Beziehungen im Euro-Raum ab. Aber die Entwicklung braucht große Aufmerksamkeit.

Handelsblatt:Sehr diplomatisch ausgedrückt. Wo sehen Sie denn politische Folgen der Finanzkrise?

Horst Köhler:Ich halte es grundsätzlich für richtig, breitere Bevölkerungsschichten an den Kapitalmarkt heranzuführen, etwa für die private Altersvorsorge. Die aktuelle Entwicklung macht dies nicht leichter. Vertrauen wird dadurch nicht gestärkt.

Handelsblatt:Derzeit gibt es eine heftige Debatte über die Höhe der Managergehälter. Sehen Sie dies als berechtigt an oder handelt es sich um eine Neiddebatte?

Horst Köhler:In der Bevölkerung gibt es das nachvollziehbare Gefühl, dass etwas nicht stimmt, wenn die Einkommen der einen stark steigen, die der anderen dagegen eher stagnieren. Die Führungspersönlichkeiten in der Wirtschaft müssen begreifen, dass ihr Verhalten Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Gesellschaft hat. Ich sehe eine Entfremdung zwischen Unternehmen und Gesellschaft, und ich finde, die Wirtschaft hat allemal die Pflicht, dem entgegenzuwirken. Übrigens auch im eigenen Interesse. Deutschland braucht auch die moralische Führung durch redliche Unternehmer, die sich offen dem Dialog mit den Bürgern stellen. Renditeziele allein machen noch keine gute Unternehmensführung. Sozialer Frieden ist allemal ein wichtiger Standortvorteil Deutschlands.

Im Übrigen entscheiden Vorstände nicht selbst über ihre Gehälter. Gefragt sind also aufmerksame und verantwortungsbewusste Aufsichtsräte und Aktionäre. Sie haben dafür zu sorgen, dass Manager in ihren Einkommensvorstellungen nicht die Bodenhaftung verlieren. Falls die Aufsichtsräte dies nicht sehen, muss man es offen ansprechen. Erst einmal unterstelle ich aber, dass sie dieses Bewusstsein haben. Wir brauchen eine Kultur der Mäßigung und des Vorbilds in den Führungsebenen unserer Unternehmen.

Handelsblatt:Aber koppeln sich weltweit tätige Unternehmen in Zeiten der Globalisierung nicht von diesem Verantwortungsgefühl gegenüber einer einzelnen Gesellschaft ab?

Horst Köhler:Das sehe ich anders. Kluge Unternehmensführer wissen, dass ein Standort von mehr geprägt ist als nur der Lohnhöhe. Wir erleben gerade, dass etliche Firmen zurückkehren, weil sie feststellen, dass es in anderen Kulturen zum Beispiel viel weniger Betriebsloyalität gibt als bei uns. Die Zeit, in der man glaubte, in der Globalisierung spielte die kulturelle Verwurzelung keine Rolle mehr, ist eigentlich schon wieder vorbei. Sicher müssen kapitalbasierte Unternehmen gegenüber ihren Eigentümern immer nachweisen, dass ihre Kapitalrendite im Wettbewerb standhält. Dieser Druck auf Profitabilität ist aber heilsam. Er sichert wettbewerbsfähige Arbeitsplätze.

Handelsblatt:Was halten Sie von den Plänen, die deutsche Wirtschaft gegen unerwünschte ausländische Investoren schützen zu müssen?

Horst Köhler:Wir müssen aufpassen, dabei nicht unser strategisches Interesse zu beschädigen: Vertrauen in weltweiten Austausch, internationalen Handel und Wandel in Freiheit. Gerade jetzt brauchen wir mehr Vertrauen und internationale Zusammenarbeit, und nicht weniger. Mir gibt es schon zu viele Versuche, über Protektionismus Arbeit und Einkommen schützen zu wollen. Das schadet deutschen Interessen.

Handelsblatt:Zählen Sie dazu auch den Versuch, Themen wie Umweltschutz, Sozialstandards oder Menschenrechte mit Handelsgesprächen zu verknüpfen?

Horst Köhler:Mindeststandards bei den Arbeitsbedingungen, wie sie die Internationale Arbeitsorganisation definiert hat, sind ein Gebot globaler Humanität, der sich niemand entziehen sollte. Einen wirklichen Schritt weiter sind wir beim Klimawandel durch den Vorschlag von Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass der zulässige Pro-Kopf-Ausstoß an Kohlendioxid langfristig für alle Länder gleich sein muss. Das ist eine Frage von Gerechtigkeit in der Globalisierung. Daraus ergibt sich eine hohe Verantwortung vor allem für die Industrieländer als Hauptverursacher des Klimawandels. Zugleich belässt es den Schwellenländern oder den Ländern Afrikas Entwicklungschancen, auch weil es einem globalen Handel mit Verschmutzungsrechten den Weg bahnen kann.

Handelsblatt:Gilt das auch für die Vertretung von Menschenrechten? Was halten Sie vom Empfang des Dalai Lama durch die Bundeskanzlerin?

Horst Köhler:Die Menschenrechte haben für mich universelle Gültigkeit, auch wenn ich Respekt vor der Unterschiedlichkeit von Kulturen habe. Niemand plädiert in Deutschland für eine Politik ohne Werte, und wir sollten der Außenwelt in dieser Frage keine gespaltene Nation präsentieren. Jeder weiß auch, dass unsere Außenpolitik sensible Balancen wahren muss. Die Bundeskanzlerin hat nicht Abstand genommen von der traditionellen Ein-China-Politik Deutschlands. Das weiß auch China.

Handelsblatt:In Ihrer Berliner Rede haben Sie als ein Rezept für die Bewältigung der Globalisierung gesagt: "Es ist wirklich viel vernünftiger, freundlich zu sein." Haben Sie keine Angst, dass Ihnen deshalb Naivität unterstellt wird?

Horst Köhler:Rückschlüsse überlasse ich anderen. In der Globalisierung, also in einer vielfach interdependenten Welt, ist die Zeit der Einseitigkeit vorbei. Hegemoniale Strategien gehen nicht mehr auf. Und mit einer konfrontativen Außenpolitik riskiert jede Macht dieser Erde, sich zu verheben. Auch die ständige Belehrung anderer läuft irgendwann ins Leere. Deshalb trete ich für eine Strategie der kooperativen Weltpolitik ein. Sicher muss Außenpolitik die Interessen der eigenen Nation kennen und verfolgen. Zugleich muss uns aber auch klar sein, dass Außenpolitik im Zeitalter der Globalisierung - gewollt oder ungewollt - immer auch Weltinnenpolitik ist. Deshalb kommt es mehr denn je darauf an, dem anderen zuzuhören, und allemal kommt es auf eigene Glaubwürdigkeit an. Also, ich bleibe dabei: Es ist wirklich viel vernünftiger, freundlich zu sein.