Interview von Bundespräsident Horst Köhler mit der "Passauer Neuen Presse". Die Fragen stellten Andreas Herholz, Rasmus Buchsteiner und Christoph Slangen

Schwerpunktthema: Interview

Berlin, , 14. März 2009

Bundespräsident Horst Köhler sitzt mit anderen Personen am Tisch

PNP:Herr Bundespräsident, Abscheu und Fassungslosigkeit nach dem Schulmassaker in Winnenden. Welche Lehren müssen aus diesem erneuten Amoklauf gezogen werden?

Horst Köhler: Die schrecklichen Ereignisse erfüllen uns mit Entsetzen und Trauer. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Familien und Freunden. Wir wünschen ihnen Kraft und Trost. Ich bin mir gewiss, das Menschenmögliche geschieht, um den Betroffenen zu helfen. Diese Tat mahnt uns auch, darüber nachzudenken, ob wir unseren Mitmenschen immer die notwendige Aufmerksamkeit entgegenbringen.

PNP:Themenwechsel: Die Welt erlebt eine dramatische Wirtschaftskrise. Viele Anleger haben Geld verloren. Gehören Sie auch zu den Opfern?

Horst Köhler:Ja, es hält sich aber in Grenzen bei mir. Ich kann allerdings den Kummer und den Ärger derer gut verstehen, deren sauer Erspartes nun teilweise weggeschmolzen ist. Da sind auch Verluste zu verkraften, die zum Beispiel für die Altersversorgung gedacht waren. Das Problem reicht bis tief in die Mitte der Gesellschaft hinein.

PNP:Muss die aktuelle Krise mit anderen Maßstäben gemessen werden als frühere?

Horst Köhler:Nach dieser Krise wird vieles anders bewertet werden müssen als vorher. Wenn wir die richtigen Schlussfolgerungen ziehen, kann die Krise aber auch eine Chance sein. Wir können durchaus neues Potenzial für Stabilität und Wohlstand in Deutschland aufbauen. Es darf aber nicht wieder zur Tagesordnung übergegangen werden, als ob nichts geschehen wäre, sobald die ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung sichtbar werden. Wirklich überwinden werden wir die Krise erst, wenn die Fehlentwicklungen und das Fehlverhalten aufgearbeitet werden, die uns in diese Situation gebracht haben.

PNP:Brauchen wir eine neue Weltwirtschaftsordnung?

Horst Köhler:Ja. Wir brauchen in jedem Fall eine neue Ordnung für die internationalen Finanzmärkte. Sie muss Kapital zum Diener der Menschen machen. Und wir brauchen eine Weltwirtschaftsordnung, die alle Menschen auf diesem Planeten an Entwicklung und Stabilität teilhaben lässt. Diese Ordnung muss auch dem Klimawandel und einem verschwenderischen Energie- und Rohstoffverbrauch in der entwickelten Welt systematisch entgegenwirken. Dass die Schwellenländer allmählich aufholen und so Millionen Menschen aus der Armut herauskommen, kann uns freuen. Aber von den heute 6,5 Milliarden Menschen weltweit leben immer noch deutlich mehr als zwei Milliarden von nur zwei Dollar pro Tag, eine Milliarde sogar nur von einem Dollar. Wenn sich hier nichts ändert, wird das auch in der reichen Welt zu Instabilität und Wohlstandseinbußen führen. Wir brauchen eine Entwicklungspolitik für den ganzen Planeten, also wohlgemerkt auch für die Entwicklung in der industrialisierten Welt. Dazu gehört eine neue Diskussion über Verteilungsgerechtigkeit - in der Welt und auch bei uns. Bescheidenheit ist ein Wert, der es verdient, wiederentdeckt zu werden. Wir müssen dazulernen.

PNP:Ist die Soziale Marktwirtschaft durch das Verhalten mancher Manager in Misskredit gebracht worden?

Horst Köhler:Leider ja. Es gab eindeutig Fehlverhalten. Gleichwohl wäre es falsch, die gesamte Branche pauschal zu verurteilen. Dennoch: Die Spitzen im Finanzgeschäft haben sich nicht nur von der Realwirtschaft entfernt, sondern von der Gesellschaft insgesamt. Es geht auch um Fragen des Anstands. Was einigen abhanden gekommen ist, das ist die Haltung: So etwas tut man nicht. Die große Mehrheit der Haushalte in Deutschland hat ein Einkommen zwischen 20.000 und 100.000 Euro. Wenn manche Manager in wenigen Jahren mit zwei- bis dreistelligen Millionenbeträgen vergütet wurden, steht das in keinem Verhältnis zu ihrer Leistung. Zumal sie jetzt einen Scherbenhaufen hinterlassen haben, ohne persönlich nennenswert zu haften. Die Finanzelite muss sich einer kritischen Selbstreflexion unterziehen. Das geht vor allem auch die Aufsichtsorgane der Finanzinstitutionen an. Von gesetzlich vorgeschriebenen Gehaltsobergrenzen halte ich nichts.

PNP:Die Bundesregierung will zwar keinen gesetzlichen Höchstlohn festschreiben, schnürt aber ein ganzes Paket zur Begrenzung von Managerbezügen...

Horst Köhler:Das halte ich für richtig. Darüber sollte sich niemand wundern. Es gab Exzesse. Da kann die Politik nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Unternehmen können nur dauerhaft Wertschöpfung erbringen, wenn sie in die Gesellschaft eingebettet sind, von ihr getragen werden. Verschwindet dieses Bewusstsein, zum Beispiel, wenn die Unterschiede in den Bezügen zu groß werden, dann steigen die Spannungen in unserer Gesellschaft.

PNP:Hat die Bundesregierung beim Krisenmanagement die Weichen bisher richtig gestellt?

Horst Köhler:Die Bundesregierung arbeitet hart. Sie hat entschlossen und zügig gehandelt. Die Richtung der Maßnahmen stimmt. Wir müssen so schnell wie möglich den Geldkreislauf und Kredite an die Wirtschaft wieder in Gang bringen. Auch nachfragestärkende Konjunkturprogramme sind jetzt richtig. Es geht um die Abwehr der Gefahr einer sich selbst verstärkenden Spirale nach unten. In der jetzigen Ausnahmesituation müssen wir dazu auch eine steigende Staatsverschuldung in Kauf nehmen. Alle Maßnahmen müssen aber auch längerfristigen Perspektiven Rechnung tragen.

PNP:Was bedeutet das konkret?

Horst Köhler:Wenn wir jetzt das Geld ausgeben, dann stehen wir in der Pflicht, uns zugleich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie die Staatsverschuldung auch wieder zurückgeführt werden kann. Das Prinzip Hoffnung auf Wirtschaftswachstum reicht nicht aus. Es wird nicht mehr funktionieren. Und ich wünsche mir eine noch stärkere Konzentration auf Investitionen zur Verbesserung der Energie- und Rohstoff-Effizienz. Wir sollten uns in Deutschland ganz gezielt eine neue, ökologische industrielle Revolution vornehmen. Diese Umsteuerung wird Arbeitsplätze schaffen. Der Klimawandel trifft im Übrigen die Menschen in den Entwicklungsländern am härtesten, obwohl die Hauptverursacher die Industriestaaten sind. Wir werden keine gute Zukunft haben, wenn wir dem nicht gemeinsam etwas entgegensetzen. Wenn die Armut in der Dritten Welt noch größer wird, kommen die dramatischen Folgen zu uns. Die Migration nach Europa wird zunehmen. Einige warnen schon vor Hungerterrorismus. Wir sollten begreifen: Wir sitzen alle in einem Boot. Wir müssen zusammenarbeiten, sonst schaden wir uns selbst. Das ist in meinen Augen die Chance.

PNP: Das Wachstum stößt offenbar an seine Grenzen. Ist Wachstum ein Wert an sich?

Horst Köhler:Gott behüte. Ein quantitatives "Immer mehr" bringt den Menschen kein dauerhaftes Glück. Was wir vor allem brauchen, ist qualitatives Wachstum. Also Wachstum in den Köpfen, das intelligente Lösungen vorantreibt, zum Beispiel Autos, die viel weniger Benzin verbrauchen und viel weniger CO2 ausstoßen. Die armen Länder mit ihren weiter rasch wachsenden Bevölkerungen werden uns mit Recht den Verbrauch von Rohstoffressourcen streitig machen. Wir sollten deshalb besser früher als später auch unseren Lebensstil kritisch hinterfragen. Früher gab es nur den Sonntagsbraten, heute ist bei vielen täglich Fleisch auf dem Tisch. Das hat Folgen: Für den Anbau von Soja als Futter zum Beispiel wird Regenwald abgeholzt. Diesen Zusammenhang müssen wir sehen. Jeder sollte prüfen, was er ändern kann. Glück ist nicht nur, sich alles leisten zu können, gutes Essen, das Zweitauto oder den Flug in die Sonne. Wir haben darüber manches vernachlässigt. Glück, Erfüllung, Zufriedenheit: Das ist auch Zeit für den Freundeskreis, das Bier mit den Nachbarn oder soziales Engagement für andere. 23 Millionen Menschen engagieren sich in Deutschland im Ehrenamt. Wir in der Politik tun vielleicht noch zu wenig für ihre Anerkennung und Unterstützung.

PNP:Die Globalisierung als Chance für alle - ist die Glaubwürdigkeit dieser Botschaft durch die Krise nicht erschüttert?

Horst Köhler:Die Krise hat Risiken und Fehlentwicklungen in der Globalisierung deutlich aufgedeckt. Offenkundig bedarf die Globalisierung der politischen Gestaltung. Eine "De-Globalisierung" wäre aber ein historischer Rückschritt, nicht zuletzt für die Ausbreitung universaler Menschenrechte. Deutschland hat jahrzehntelang von der Globalisierung profitiert. Eine autarke Volkswirtschaft, in der vom Brot bis zur Kleidung, vom Computer bis zum Auto alles im eigenen Land hergestellt werden müsste, würde unseren Wohlstand in kürzester Zeit vernichten. Arbeitsteilung und Austausch mit anderen sind die Quelle unseres Erfolgs.

PNP:Erklärt die Politik den Menschen die Zusammenhänge zu wenig?

Horst Köhler:Die Dinge sind komplex. Es gibt viel zu erklären. Ich will versuchen, dabei zu helfen. Auch mit meiner Berliner Rede Ende März.

PNP:Verschieben sich die Grundachsen der Sozialen Marktwirtschaft in der Krise, ist ein neuer ordnungspolitischer Kompass notwendig?

Horst Köhler:Die Soziale Marktwirtschaft vereinigt Freiheit und Verantwortung zum Nutzen aller. Das ist die eigentliche, kulturelle Leistung der Sozialen Marktwirtschaft. Dagegen ist auf den Finanzmärkten eklatant verstoßen worden. Die Freiheit war hier praktisch schrankenlos geworden. In schrankenloser Freiheit aber steckt auch Zerstörungskraft. Deshalb muss es jetzt darum gehen, die Finanzmärkte wieder in die Schranken zu weisen, sie zu kultivieren. Im Grunde bestätigt die Krise das Kernprinzip der Sozialen Marktwirtschaft. Die Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass dieses Prinzip auch auf die Finanzmärkte angewendet wird. Der Markt braucht Regeln und Moral. In keinem Fall kann unsere Zukunft in einer verstaatlichten Wirtschaft liegen. Dieses Modell ist historisch gescheitert. Privateigentum ist konstitutiv für Freiheit und Wohlstand für alle. Aber: Eigentum verpflichtet. Zum Wohle der Allgemeinheit. So will es unser Grundgesetz. Das ist gut so.

PNP:Die Aktionäre des Finanzinstituts Hypo Real Estate könnten nach den Plänen der Bundesregierung enteignet werden. Ist das eine Gefahr für die Marktwirtschaft?

Horst Köhler:Nein, das glaube ich nicht. Wir reden hier von der ultima ratio. Zuvor kommen viele Stufen, auf denen versucht wird, durch gemeinsames Handeln der Beteiligten und mit Staatshilfe eine Lösung zu finden. Ich verstehe den Gesetzentwurf der Bundesregierung als absolute Notmaßnahme, um eine für den marktwirtschaftlichen Geldkreislauf systemisch wichtige Bank zu retten und damit dem Allgemeinwohl zu dienen.

PNP:Genügen bessere Aufklärung und Kommunikation, um den Vertrauensverlust in die Politik zu bekämpfen?

Horst Köhler:Es gibt Vertrauensverlust. Die Ursachen dafür sind komplex. Es ist aber nicht so, dass die Bürger der Politik überhaupt nicht trauen. Widersprüchliche Signale erschweren die Orientierung. Es kommt Verwirrung auf. Das Erklären ist eine wichtige Voraussetzung, damit die Menschen sich ein eigenes Urteil bilden können und wieder Vertrauen entsteht. Vertrauen wird vor allem durch Glaubwürdigkeit gestärkt. Jeder soll sich prüfen, was er verbessern kann.

PNP:Die Gemeinsamkeiten der Großen Koalition scheinen längst aufgebraucht zu sein, Parteipolitik zu überwiegen. Wo bleibt die Staatsraison?

Horst Köhler:Wir sollten es uns mit der Klage über Parteipolitik nicht zu leicht machen. Das Ringen um die beste Lösung gehört zur Demokratie. Die Große Koalition musste manchen Kompromiss schließen, aber sie hat sich als handlungsfähig erwiesen. Im Vorfeld einer Bundestagswahl wächst andererseits die Gefahr, dass parteitaktisches Kalkül die Oberhand gewinnt. Die Bevölkerung hat aber den berechtigten Anspruch, dass ihre Regierung in der Krise geschlossen handelt. Es gibt keine Beurlaubung von der Regierungsverantwortung. So lange die Koalition im Amt ist, muss sie ihre Arbeit anständig erledigen. Parallel dazu werden die Parteien ihre Vorstellungen für die Bundestagswahl in Programmen entwickeln. Die Regierung steht vor weiteren, sehr schwierigen Entscheidungen. Und die Opposition ist aufgerufen, ihre Alternativen mit Substanz zu unterlegen.

PNP: Sie haben nicht nur einmal ein Gesetz kritisiert, weil es nicht verfassungsgemäß erschien. Wie steht es um die Qualität der Gesetzgebung?

Horst Köhler:Zwei Mal war ich daran gehindert, meine Unterschrift zu leisten. Die Gesetze entsprachen nicht den Bestimmungen des Grundgesetzes. Da konnte und durfte ich nicht unterzeichnen. Ich bin aber nicht der Oberjuror der Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher Bestimmungen. Dafür ist das Bundesverfassungsgericht zuständig.

PNP:60 Jahre Grundgesetz - in welcher Verfassung ist die Republik heute?

Horst Köhler:Wir haben eine stabile Demokratie und einen funktionierenden sozialen Rechtsstaat. Wir können stolz sein auf das Erreichte und der Zukunft insgesamt mit Zuversicht entgegensehen. Die Deutschen haben nach dem Zusammenbruch eine Erfolgsgeschichte geschrieben und sich als zuverlässige und friedfertige Partner erwiesen. Aber es gibt keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit. Es ist eine Kluft entstanden zwischen Politik und Bürgerinnen und Bürgern. Darüber müssen wir diskutieren und nach Wegen zur Abhilfe suchen. Es lohnt schon, den Menschen einfach mehr zuzuhören. Wir blicken auf 60 Jahre Bundesrepublik zurück, aber auch auf 40 Jahre geteiltes Deutschland. Zur anhaltenden Freude über die deutsche Einheit gehört für mich auch der Respekt für die Lebensleistung der allermeisten Menschen in der DDR.

PNP:Sie bewerben sich um eine zweite Amtszeit. Vor Ihrem Amtsantritt haben Sie angekündigt, offen sein zu wollen und unbequem - auch das Motto für eine mögliche zweite Wahlperiode?

Horst Köhler:Unabhängig vom Wahlausgang werde ich auch in Zukunft versuchen, die Dinge beim Namen zu nennen. Die Bürgerinnen und Bürger unserer Demokratie haben Anspruch auf Wahrhaftigkeit.

PNP:Gibt es zu wenig Wahrhaftigkeit in der Politik?

Horst Köhler:Das langfristig Notwendige darf nicht zu kurz kommen. Das Wichtigste wird auch in Zukunft sein, dafür zu sorgen, dass die Menschen Arbeit und bestmögliche Bildungsmöglichkeiten haben - vom Kleinkind bis zum Erwachsenen. Gute Bildung darf keine Frage des Geldbeutels sein. Wir müssen uns um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft kümmern. Die Starken dürfen die Schwachen nicht ausgrenzen. Menschen mit Behinderungen müssen die gleichen Chancen zur Teilhabe haben wie Nichtbehinderte. Darum will ich mich weiter kümmern. Und ich werde weiter versuchen zu vermitteln: Armutsbekämpfung in der Welt liegt in unserem ureigensten Interesse. Der Kampf gegen den Klimawandel auch. Wir müssen endlich begreifen: Die in einem Boot sitzen, sollen sich helfen. Wir sind eine Welt.