Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler anlässlich der Schillermatinee im Berliner Ensemble

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 17. April 2005

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult. Hinter ihm an der Wand erkennt man ein Bild von Friedrich Schiller.

Einige einleitende Gedanken zu dieser Matinee sind mir aufgetragen. Das bedeutet: Sie bekommen heute Morgen keine Schiller-Würdigung durch das Staatsoberhaupt; ich möchte vielmehr nur einiges anreißen, was mir aus Anlass des Schillerjahres zu diesem Klassiker und zur Lage der Kultur in Deutschland wichtig erscheint. Danach wird ja von sehr kompetenten Männern über die Bedeutung Schillers für heute diskutiert.

Meine Frau und ich sind in Ludwigsburg zur Schule gegangen - da legt es schon der Lokalpatriotismus nahe, sich zu Schiller zu bekennen. Allerdings war ich nicht auf dem Schillergymnasium - das war für die Kinder aus den besseren Kreisen unserer Stadt -, aber auch auf meiner Schule, dem Mörikegymnasium, kam man um Schiller natürlich nicht herum. Ich bekenne gerne auch heute, ein Verehrer des großen deutschen Autors zu sein. Und ich sage frei heraus, dass mich heute wie damals als Schüler vor allem seine Leidenschaft für die Freiheit fasziniert - die individuelle und die politische Freiheit. Dass das Schillerjahr unter diesem Motto gefeiert wird, unter dem schlichten Wort "Freiheit", das gefällt mir deswegen und das ist genau richtig so.

Nicht nur als Württemberger, auch als Deutscher kann ich sagen: Ich bin stolz auf "unseren" Schiller. Aber wie das so die württembergische Art ist: Wir verstecken unseren Stolz gerne hinter einem gewissenunderstatement, das allerdings nicht ohne Selbst­bewusstsein ist. Einige von Ihnen kennen vielleicht den Spruch:

"Der Schiller und der Hegel,
der Uhland und der Hauff,
das ist bei uns die Regel,
das fällt nicht weiter auf."

Was sich in diesem Spruch ausdrückt, ist das Selbstbewusstsein eines Landstriches, das wie selbstverständlich davon ausgeht, immer wieder große Geister, kreative Köpfe, neue Ideen hervorzubringen. Diese gelassene Gewissheit, die stolz ist, ohne auftrumpfend zu sein, die ist mir sehr sympathisch.

Ich finde, dass unser ganzes Land das auch einmal wieder ganz gut vertragen könnte: Diese selbstverständliche Gewissheit, dass wir kreative Köpfe und aufgeweckte Geister nicht nur brauchen - sondern dass wir sie auchhabenund dass sie immer wieder neu unter uns auftauchen.

Deutschland war einmal stolz darauf, eine "Kulturnation" zu sein. Schiller gehört - mit seinem Freund Goethe - zu deren Begründern, aber auch so viele andere: Künstler, Philosophen, Schriftsteller, auch Naturwissenschaftler und Forscher.

Irgendwann begann man, sich darüber lustig zu machen; das Wort vom Land der "Dichter und Denker" wurde zunehmend ironisch gebraucht. Natürlich hat das "Dritte Reich" etwas damit zu tun: die schreckliche Erfahrung, dass die ganze kulturelle Bildung, die klassische Kultur, das humane und humanistische Erbe es nicht vermocht haben, diesen absoluten Kulturbruch zu verhindern. Aber statt die Art ihrer Rezeption zu hinterfragen, wurden die Klassiker selbst irgendwie dafür verantwortlich gemacht, dass sie in der Stunde der Gefährdung des menschlichen Maßstabs so "durchschlagend wirkungslos" waren, wie das einmal genannt worden ist.

Wir wissen, dass der Begriff der Kulturnation, der Schiller so wichtig war, sich zunächst darauf bezog, dass Deutschland eben politisch keine einige Nation war, sondern seine verschiedenen "Stämme" nur durch die Kultur als einigendes Band zusammengehalten war. Aber der Begriff ist dann immer mehr so verstanden worden, dass Deutschland in besonderer Weise ein Land der Kultur ist, eben das Land der Dichter und Denker.

Gibt es irgendeinen Grund, sich dessen zu schämen? Ich denke: nein. Wir sollten vielmehr diesen Begriff der Kulturnation neu prüfen. Wir sollten uns überlegen, wie wir ihn neu produktiv erschließen können. Ich glaube, er taugt noch etwas. Er kann uns einerseits an ein sehr kostbares Erbe erinnern. Vor allem aber kann er uns zu eigener Kreativität herausfordern. Vielleicht kann er uns auch aus einer selbstvergessenen Verschlafenheit aufwecken und uns eine Aufgabe vor Augen führen, der wir alle uns zu stellen haben.

Ich denke zunächst an das Erbe. Wir sollten es nicht verschleudern. In der Vergangenheit steckt auch immer Zukunft.

Bleiben wir bei Schiller: Wie viel ist immer noch zu lernen von seinen Gedanken zur ästhetischen Erziehung? Wie viel ist immer wieder neu zu begreifen von seinen Überlegungen zum Zusammenhang von Menschsein und Spielen? Wie viel ist immer noch in die Tat umzusetzen von seinen Gedanken zu so kostbaren Begriffen wie "Anmut" und "Würde"? Wären Didaktiker, Pädagogen oder Kultusminister schlecht beraten, in dieser Hinsicht noch einmal bei Schiller in die Schule zu gehen?

Oder nehmen wir - etwas ganz anderes - die selbstverständliche Internationalität des Autors Friedrich Schiller. Die Stoffe zu seinen Stücken nahm er aus der gesamten europäischen Geschichte und Geographie. Über den "Räubern" steht der Satz: "Ort der Handlung ist Deutschland." Aber Orte der Handlung in anderen Stücken sind auch Spanien, Frankreich, Italien, England, Schottland, die Schweiz. Ein wahrhaftiger Europäer. Damit verglichen erscheint so manches Werk der Gegenwart provinziell. Es kann für die künstlerische Arbeit durchaus förderlich sein, über die Grenzen der eigenen Gegenwart und des eigenen Kiezes hinauszuschauen.

Schiller besticht auch durch seine politische Leidenschaft und sein politisches Interesse. Was sind das für Stoffe! Es geht im Leben eben doch um mehr als nur den eigenen Bauchnabel und die eigene Befindlichkeit. Eine "moralische Anstalt" kann das Theater im Sinne Schillers nur sein, wenn es auch die politischen Bedingungen, unter denen die Individuen leben, im Blick behält.

Wie soll man das Erbe für die Zukunft fruchtbar machen? Nun, auf alle Fälle zunächst einmal dadurch, dass man es neubekanntmacht. Die Zeiten der Klassiker-Überfütterung an den Schulen ist endgültig vorbei. Gott sei Dank. Vielleicht ist den Klassikern am meisten dadurch geschadet worden, dass man sie dazu missbraucht hat, unschuldige Schüler damit zu quälen, die sogenannte "richtige Interpretation" zu liefern. Und es gibt ja auch gute und wichtige Gegenwartskunst und -literatur.

Aber so ganz ohne Kenntnis der Klassiker sollte man doch nicht sein Abitur machen. Nur muss der Unterricht so frisch sein, dass es Freude macht, sich damit zu beschäftigen, ohne falsche Ehrfurcht und Dünkel und ohne Instrumentalisierung!

Hans Magnus Enzensberger hat neulich ein Buch geschrieben, das heißt: "Lyrik nervt. Erste Hilfe für gestresste Leser". Er zeigt, wie viel Spaß es machen kann, sich zum Beispiel auch für klassisches Versmaß zu interessieren, wenn der pädagogische Zeigefinger eingerollt bleibt. Genauso müsste man auch an das Drama, an das Theaterstück herangehen können. So dass Schüler am Ende nicht sagen "Theater nervt!", sondern: "Theater macht Spaß. Schiller ist interessant. Die Klassiker, oder wenigstens das eine oder andere Stück, das hat mit uns zu tun. Da sind Fragen und Probleme formuliert, da sind Lösungen vorgeschlagen, die gehen uns an..."

Und welch eine Chance besteht heute für das Theater selbst! In dieser Situation, wo die Kenntnis der großen Stücke, auch eben Schillers, immer geringer wird, wo die Menschen, gerade die jungen Leute, wissbegierig und neugierig sind, diese Stücke erst einmal kennenzulernen, können die Theater ihre Anstrengungen ganz darauf konzentrieren, diese Stücke in ihrer Schönheit und Kraft, in ihrer Komplexität und ihrem Anspruch zu präsentieren.

Es hat gewiss eine Zeitlang einmal die Notwendigkeit gegeben, die Klassiker zu entstauben und zu problematisieren. Aber das heute immer noch fortzusetzen, erscheint mir wie der Ausweis einer neuen arroganten Spießigkeit. Ein ganzer Tell, ein ganzer Don Carlos! Das ist doch was! Natürlich stellt uns die hohe Sprache, auch das Pathos Schillers heute vor Schwierigkeiten. Aber soll man ihn deswegen auf kleines Maß reduzieren?

Ich stelle mir vor, dass in der Berliner Nationalgalerie die Bilder von Caspar David Friedrich mit schwarzer Pappe beklebt würden, nur hier und da ließe man zwanzig bis dreißig Quadratzentimeter sichtbar bleiben. Wer würde das akzeptieren? Oder dass man bei einer Aufführung von Beethovens 6. Sinfonie nur den ersten Satz nach der Partitur spielte, den zweiten als Blockflötenquartett und den Rest ganz ausfallen ließe oder rückwärts spielte. Wer möchte sich das gefallen lassen?

Nur unsere klassischen Dramen konnten sich Jahrzehnte nicht dagegen wehren, in Stücke zerlegt und nach Gutdünken wieder zusammengesetzt zu werden. Ich habe meine Zweifel, ob auf solche Weise Kultur an die kommenden Generationen produktiv weitervermittelt werden kann.

Wir sind heute in einer grundlegend anderen Situation als in den sechziger Jahren. Es gibt nicht nur einen Bruch in der Kontinuität der kulturellen Überlieferung. Es gibt auch einen tiefgreifenden Wandel in der demographischen Zusammensetzung unserer Bevölkerung.

Wie bekommt ein Stadttheater der Zukunft ein Publikum - in einer Stadt, in der die Hälfte der jungen Leute, die ja auch älter werden, einen Migrationshintergrund hat? Was heißt im Zuge dieser neuen Entwicklungen Weitergabe unseres kulturellen Erbes? Wie fruchtbar können Klassiker sein für gesellschaftliche Integration? Für Identitätsfindung in einer kulturell gemischten Gesellschaft? Wie müssen sie gespielt werden, damit sie in ihren Problemkonstellationen als aktuell angesehen werden?

Ich hoffe, dass die Diskutanten darauf gleich ein wenig eingehen werden. Diese Fragen sind entscheidend für die Existenz dessen, was man Kulturnation nennt. Gerade in Zeiten des Umbruchs, der auch für die individuellen Biographien zutiefst spürbar ist und immer mehr spürbar sein wird, brauchen wir eine kulturelle Selbstverständigung.

Schiller und vielleicht vor allem seine Stücke bieten dafür viele Voraussetzungen. Die grundlegenden Konflikte zwischen Individuum und politischer Verstrickung, zwischen Pflicht und Neigung, Unterdrückung und Freiheitsverlangen, Selbstverwirklichung und Verantwortung, Ideal und Wirklichkeit - diese Konflikte haben wir auch heute immer neu auszufechten. Die Lösungen werden wir selber finden müssen - aber es ist doch vielleicht hilfreich, wenn in den alten Stücken die Probleme und Konflikte, um die es geht, paradigmatisch dargestellt werden.

Ein letzter Gedanke: Es hat Zeiten gegeben, da jeder, der in Deutschland die Schule verließ, eine ganze Menge Zeilen von Schiller auswendig konnte. Die eine oder andere Ballade zu lernen und für das Leben zu behalten - ich glaube, das richtet auch heute keinen größeren seelischen Schaden an. Schillers Sprache ist so faszinierend, dass man selber Lust bekommt an poetischer und gleichzeitig exakter, an differenzierender und - wie man so sagt - "gehobener" Sprache.

In einer Zeit, in der wir immer mehr von Bildern bestimmt und auch manipuliert werden, in der wir von Bildern dominiert werden, in der unsere politischen Entscheidungen, unsere Einstellungen und Überzeugungen, ja unser privater Seelenhaushalt von Bildern erzeugt werden, müssen wir aufpassen, unsere Sprach- und Ausdrucksfähigkeit nicht zu verlieren.

Differenzierungsvermögen und Sprachfähigkeit können wir an unseren großen Sprachkünstlern erleben. Wir brauchen es. Unsere Kritikfähigkeit, unsere Vernunft, unsere Möglichkeit zu fruchtbarem Streiten und zur präzisen Ausfechtung von Konflikten - all das hängt an unserer Fähigkeit, genau, differenziert und überzeugend zu sprechen. Vor allem aber das selbständige Denken, ohne das es keine eigenständige Persönlichkeit und keine Kreativität gibt, braucht Sprachfähigkeit.

Ich komme kurz zum Anfang zurück. Selbstbewusstsein zeigt sich auch daran, dass man mit gelassenem, bescheidenem Stolz das Erbe annimmt, das einem geschenkt worden ist. Nicht um sich mit dem zufrieden zu geben, was andere geleistet haben, sondern um daraus Kraft zu schöpfen - und um daraus Funken zu schlagen für die Zukunft.

Schillers Leben und seine Werke sind ohne Zweifel ein Geschenk an die Kulturnation Deutschland. Was wir heute daraus machen, davon hängt sehr viel ab. Nicht zuletzt, ob wir auch in Zukunft ein Land sein werden, in dem kreative Köpfe und gescheite Leute zu Hause sind, so dass wir immer noch mit Recht sagen können: Das ist bei uns die Regel, das fällt nicht weiter auf.