Gemeinsam für Europa - Sieben europäische Präsidenten plädieren für Europa

Schwerpunktthema: Rede

15. Juli 2005

wehende Europaflagge

Sieben europäische Präsidenten haben gemeinsam einen Artikel über die Zukunft des europäischen Projekts nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden verfasst. Die Autoren sind: Carlo Azeglio Ciampi, Italien; Heinz Fischer, Österreich; Tarja Halonen, Finnland; Horst Köhler, Deutschland; Aleksander Kwasniewski, Polen; Jorge Fernando Branco de Sampaio, Portugal; und Vaira Vike-Freiberga, Lettland. In Deutschland erschien der Artikel exklusiv in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Ausgabe vom 15.07.05)

I.

Der Ausgang der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden hat die Unzufriedenheit vieler Bürgerinnen und Bürger darüber zum Ausdruck gebracht, dass die europäische Politik nicht ihren Erwartungen entspricht. Die meisten unterstützen zwar das europäische Projekt, haben aber ein Unbehagen gegenüber der Art, wie es betrieben wird. Sie fühlen sich sowohl von den Entscheidungen ausgeschlossen, die für ihre Zukunft von größter Bedeutung sind, als auch von solchen, die ihr tägliches Leben bestimmen.

Zu oft werden wichtige europäische Themen nicht breit genug debattiert, bevor sie entschieden werden.

Zu groß erscheint vielen Menschen der Regulierungsdrang der EU. Zu unübersichtlich sind ihnen oft die Entscheidungsverfahren und zu anonym die Entscheidungsträger.

Und vor allem: Zu häufig und zu gerne hat man bei innenpolitischen Problemen Brüssel zum Sündenbock gemacht. Man beschädigt damit ein gutes Projekt.

Wir sind überzeugt: die Europäische Union braucht starke und effiziente Institutionen mit Gewicht und transparente Verfahren.

Die Europäische Union soll nur das regeln, was gemeinsam besser zu regeln ist. Sie braucht Verfahren, um die Kluft zwischen den europäischen Entscheidungsträgern und ihren Bürgern zu schließen. Die Ziele des Verfassungsvertrags - Bürgernähe, Transparenz, Demokratisierung und Effizienz - behalten nach wie vor ihre Gültigkeit. Fragen, die alle Bürger Europas angehen, müssen von allen Bürgern diskutiert werden können.

Viele Menschen in Europa sorgen sich angesichts hoher Arbeitslosigkeit und geringen Wirtschaftswachstums um ihre Zukunft. Ihnen muss Europa eine echte Perspektive bieten. Es ist daher richtig, wenn die Europäische Kommission Wachstum und Beschäftigung in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt. Wenn die Menschen spüren, dass die Mitgliedsstaaten der EU ihnen und ihren Kindern neue Chancen für Arbeit und Wohlstand eröffnen, werden sie das europäische Projekt zu dem ihren machen. Das europäische Modell hat eine unverzichtbare soziale Komponente. Aber sie muss auch erwirtschaftet werden.

Die wichtigste Aufgabe ist jetzt, das Vertrauen in die Europa-Politik zu stärken. Wir müssen allen die Vorzüge der Integration verständlich machen. Wir müssen in verständlicher Weise erklären, wie die EU funktioniert, was sie geleistet hat, wohin es geht und aus welchen Gründen. Dann gewinnt man die Menschen für das europäische Projekt. Ohne ihre Zustimmung und Mitarbeit kann sich die EU nicht fortentwickeln, nicht einmal konsolidieren.

II.

Europa durchlebt derzeit eine schwierige Phase. Aber es gibt keinen Grund, am europäischen Projekt zu zweifeln. Wir brauchen uns bloß ins Bewusstsein zu rufen, was die Europäische Union den in ihr zusammengeschlossenen Staaten und ihren Menschen gebracht hat: wachsenden Wohlstand und eine Wirtschaftskraft, mit der wir die Globalisierung mitgestalten können, Freiheit und Rechte in vielfältigen Formen, und vor allem Sicherheit vor Krieg und Unterdrückung.

Der scheidende EU-Ratspräsident und Ministerpräsident von Luxemburg, Jean-Claude Juncker, hat gesagt: "Wer zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen." Er hat uns aus der Seele gesprochen. Frieden in Europa ist keineswegs selbstverständlich; es leben noch genügend Menschen, die das bitter erfahren mussten. Für die Jugend von heute ist Krieg zwischen Staaten der Europäischen Union undenkbar - mit Recht. Das ist eine unschätzbare Errungenschaft der europäischen Integration.

Wir wissen auch: unser wirtschaftlicher Erfolg beruht insbesondere auf dem europäischen Binnenmarkt. Er hat den älteren Mitgliedstaaten Wohlstand gebracht und eröffnet den neuen die gleichen Chancen. Wir wollen einen funktionierenden Markt, verbunden mit sozialem Ausgleich und Gerechtigkeit. Das ist das europäische Modell, das unseren Bürgern nachhaltigen Wohlstand gewährleisten kann.

Nur gemeinsam werden die europäischen Nationen dem Wettbewerb standhalten und erfolgreich mit Ländern wie den USA, aber auch China und Indien verhandeln können, die ein demographisches Gewicht von 1,3 und 1,15 Milliarden Menschen aufweisen und mit einer Entwicklungsrate von 9 und 8,5 Prozent wachsen. Nur ein wirtschaftlich starkes, solidarisches Europa kann die Kräfte der Globalisierung gestalten und der Globalisierung die notwendige soziale Dimension verleihen. So können wir der Welt ein gutes Beispiel geben.

Der Binnenmarkt bedeutet Wettbewerb und das erfordert Anstrengung und Anpassung. Fairer Wettbewerb bringt dem Verbraucher bessere Produkte und Dienstleistungen. Es gibt keinen anderen Weg nach vorne, wenn wir unseren Wohlstand erhalten und ausbauen wollen.

Der Euro war ein weiterer wichtiger Schritt, auch im politischen Sinne: Er ist von entscheidendem Nutzen für die monetäre Stabilität, die Beibehaltung niedriger Zinsen, die Transparenz, die Senkung der Transaktionskosten, die Integration der Finanzmärkte und die Mobilität der Personen. Davon profitieren auch die Mitgliedstaaten außerhalb der Eurozone.

III.

Wir dürfen nun das Erreichte nicht verspielen, sondern müssen unsere Zukunftschancen erhalten.

Dazu müssen wir wissen, was wir wollen.

Die Europäische Union ist bereits jetzt viel mehr als eine Freihandelszone. Sie ist von Beginn an als ein politisches Projekt angelegt. Sie ist eine Schicksalsgemeinschaft mit gemeinsamen Werten und Prinzipien. Dazu gehören Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Gleichheit vor dem Gesetz, Pluralismus und der Respekt vor der Würde des Menschen, soziale Gerechtigkeit und Solidarität.

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen sich mehr der Förderung von Wissen und Innovation als Triebkraft für ein dauerhaftes Wachstum und Beschäftigung widmen und verstärkt um strukturelle Reformen bemühen. Nur das wird es ihnen erlauben, ihre Volkswirtschaften dynamischer zu gestalten.

Vor allem muss die EU in der Welt mit einer Stimme sprechen. Nur so kann sie ihr wirtschaftliches und politisches Gewicht zum Tragen bringen und die globalen Probleme erfolgreich bewältigen helfen. Das erwarten auch unsere Partner in der Welt.

IV.

Wir sollten jetzt in Ruhe überlegen, wie wir das europäische Schiff wieder auf Kurs bringen können. Wo müssen wir ansetzen?

- Wir brauchen ein Europa, das noch demokratischer, noch transparenter und noch effizienter ist. Wir brauchen es um unser selbst willen, aber auch, um angesichts der Globalisierung bestehen zu können.

- Wir brauchen Verfahren, um die Bürger stärker in das europäische Projekt einzubeziehen und sie bei seiner Umsetzung und Fortentwicklung mitzunehmen. So sollten wir über Wege nachdenken, wie sich die Menschen in der EU so weit wie möglich gemeinsam zu europäischen Fragen äußern können.

- Wir müssen in Fragen der Sicherheit und Terrorismusbekämpfung noch enger zusammenarbeiten; das haben die jüngsten Anschläge erneut gezeigt.

- Wir brauchen mehr Kompromissbereitschaft und mehr Solidarität. Das ist ein Eckpfeiler des europäischen Projekts und liegt im Interesse aller EU-Staaten.

- Europa muss sich auf die Zukunft vorbereiten. Wir müssen in die Stärken Europas investieren: in Innovation, in Kommunikation, in Bildung und Forschung. Auf den Prüfstand gehört, was wir nach Brüssel zahlen - und wofür es ausgegeben wird. Darüber muss es und wird es eine rechtzeitige Einigung geben.

Wir müssen die Periode des Nachdenkens wirklich nutzen. Wir dürfen jetzt nicht die Flinte ins Korn werfen, sondern brauchen Zähigkeit und Einfallsreichtum.

V.

Die Politik der "offenen Tür" der EU hat sich als erfolgreich erwiesen. Die Aufnahme neuer Mitglieder in die Europäische Union hat Europa neuen Schwung und neue Möglichkeitengegeben.

Jetzt müssen wir uns die Zeit nehmen zu lernen, in einer Union der Fünfundzwanzig zu leben und eine europäische Identität zu erfahren, die auf gemeinsamer Geschichte, gemeinsamer Kultur und den gemeinsamen Werten basiert, die unser tägliches Leben bestimmen und die unseren gemeinsamen europäischen Raum definieren. Was künftige Erweiterungsschritte anbelangt, gilt das Prinzip "pacta sunt servanda". Vereinbarungen müssen eingehalten und potentiellen Beitrittskandidaten realistische Perspektiven gegeben werden, die zusätzliche Anreize für durchgreifende innere Reformen und die Annahme europäischer Standards geben. Die Kriterien der Mitgliedschaft wie Demokratie, die Wahrung der Menschenrechte und Rechtssicherheit müssen für alle Bewerber gleichermaßen gelten.

In diesen Tagen haben in vielen Ländern die Sommerferien begonnen. Viele werden die Schönheiten Europas ohne Grenzkontrollen genießen und meistens noch nicht einmal Geld umtauschen müssen. Vielleicht erleben sie dann ganz praktisch, was ihnen Europa an Positivem gebracht hat.

Das ist etwas, worauf wir nicht verzichten wollen. Wir müssen die Chancen eines geeinten und solidarischen Europa nutzen und so unserer Verantwortung für die nächsten Generationen gerecht werden.