Tischrede von Bundespräsident Horst Köhler beim Abendessen zu Ehren von Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Kohl

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 8. Februar 2006

Gruppenbild: Eva-Luise Köhler, Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl, Maike Richter und Bundespräsident Horst Köhler

Gut Ding braucht Weile: Als Sie im vergangenen April Ihren fünfundsiebzigsten Geburtstag feierten, lieber Helmut Kohl, da war Schloss Bellevue gerade eine Baustelle. Wir kamen damals überein, mit der Feier zu warten. Meine Frau und ich freuen uns sehr, dass wir Sie heute nun hier in Bellevue ehren können. Seien Sie alle nochmals herzlich willkommen.

Das Alter von Helmut Kohl ist schon geklärt; bliebe also zu sprechen von seiner Herkunft, von wichtigen politischen Ereignissen in seinem Leben und darüber, wer Helmut Kohl für uns ist - wenn sich das überhaupt bündig zusammenfassen lässt.

Helmut Kohl stammt aus der Pfalz und bleibt dort fest verwurzelt. Die Pfälzer gelten, das ist bekannt, als unverfälschter Menschenschlag. Man bescheinigt ihnen persönliche Offenheit, natürliche Neugier, gesunden Menschenverstand, Geradlinigkeit und Dickköpfigkeit. Dazu kommt die Pfälzer Gemütlichkeit mit gutem Wein und deftiger Küche, mit der ja bekanntlich sämtliche Staatsgäste zwischen 1982 und 1998 vertraut gemacht worden sind.

Die Pfälzer gelten als liberalkonservativ und tolerant, sie lieben die Freiheit, und sie waren von jeher gute Demokraten - bitte nachschlagen unter "Hambacher Fest" und "Revolution von 1848".

Wenn allerdings etwas nicht so läuft, wie es soll, dann können die pfälzischen Gemütsmenschen auch mal zornig werden, und dann fliegen die Donnerkeile - Dunnerkeitel!, fluchen sie - und man geht besser in Deckung.

Lieber Helmut Kohl, Ihre Kindheit in der Pfalz war glücklich, bis der Krieg kam. Sie erlebten die Zerstörung Ihrer Heimat und Tod und Leid in der eigenen Familie. Doch Ihre Zuversicht konnten Sie sich bewahren. Das haben Sie wohl Ihrem Elternhaus zu verdanken. Zwar konnten Ihre Eltern keine großen Sprünge machen, dazu war das Geld zu knapp. Was sie ihren Kindern dennoch mitgaben, ist mit Geld nicht zu bezahlen: Fröhlichkeit des Herzens, Pflichtbewusstsein und Vaterlandsliebe, Verantwortungsbereitschaft und ein gelassener katholischer Glaube.

Noch eine weitere Gabe haben Sie empfangen: Menschenkenntnis. Sie haben immer einen ausgezeichneten Blick dafür gehabt, wo die Stärken Ihrer Mitmenschen lagen, auf wen sich zählen und bauen ließ. Natürlich sind auch Ihnen Enttäuschungen nicht erspart geblieben, aber Sie wissen auch, dass wir Menschen nun mal aus krummem Holz geschnitzt sind und dabei nie etwas ganz Gerades herauskommt.

Und Sie wissen, was Anteilnahme ist. Ich werde nicht vergessen, wie Sie sich in für mich persönlich schwieriger Zeit immer wieder danach erkundigten, wie es meiner Familie ging. Sie schauten nicht auf die Uhr und hörten zu. Erst dann ging es an die gemeinsame Arbeit - und dabei hatten wir wahrlich Arbeit genug.

Auch Ihre Frau Hannelore hat sich rührend gekümmert, beispielsweise wenn wir spät nachts im Kanzlerbungalow oder in Oggersheim noch gearbeitet haben. Sie war eine großartige Frau.

Menschenkenntnis und Anteilnahme sind wichtig dafür, dass Vertrauen und Freundschaft entstehen können. Und auch das ist Ihnen gegeben: Vertrauen zu stiften und zu erhalten. Oft erwächst ja gerade in der Politik gegenseitiges Vertrauen zunächst daraus, dass die Grenzen der Gemeinsamkeit geklärt werden. Wenn dann Verlässlichkeit dazukommt, wenn der andere merkt: Ich kann mich auf mein Gegenüber verlassen, dann entsteht ein Fundament, auf dem sich mehr und mehr aufbauen lässt. So haben Sie in der Innen- und Außenpolitik jahrzehntelang Vertrauen geschaffen, und oft ist Freundschaft daraus geworden. Ob diese Fähigkeit auch mit Ihren Anfängen in der Kommunalpolitik zusammenhängt? Deutschland kann sich jedenfalls glücklich preisen, dass Männer wie George Bush senior, Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und ungezählte andere Staats- und Regierungschefs Ihnen in kritischer, aber eben auch chancenreicher Stunde vertraut haben.

Nun kennt wahrscheinlich jeder von uns die Steigerung "Gegner, Feind, Parteifreund". Das hat sich ein geistreicher Spötter ausgedacht, doch er lag falsch. Ich bin da kein Experte, aber die Geschichte unserer demokratischen Parteien nach dem Krieg beweist: Sie wären schon längst auseinander gelaufen, wenn sie nur Veranstaltungen für Putschisten und Intriganten wären. Die gibt es in den Parteien auch, wie überall im Leben, aber die riesige Mehrheit der aktiven Parteimitglieder ist doch dabei, um gemeinsam etwas zu erreichen und zusammenzustehen. Und eine bessere Hilfe für die politische Willensbildung des Volkes hat auch noch niemand erfunden. Allerdings finde ich auch: Das Heimatgefühl für die eigene Partei sollte nicht so stark werden, dass nach dem Motto verfahren wird: "My party, right or wrong."

Sie, lieber Helmut Kohl, sind seit nun fast sechzig Jahren Mitglied der CDU, und die ist wahrlich Ihre politische Heimat geworden und geblieben. Es zeichnet Sie aber auch da wieder etwas Wichtiges aus: Sie wissen, dass mit einer Partei allein kein demokratischer Staat zu machen ist. Damit meine ich jetzt nicht, dass man zur CDU auch noch eine CSU hat. Nein, Sie haben immer im Blick behalten, dass es auch in anderen Parteien kluge Köpfe gibt und dass alle Parteien gemeinsam den Auftrag haben, Deutschland voranzubringen. Und wie in Deutschland, so in Europa: Auch da haben Sie Wert darauf gelegt, nicht nur mit der eigenen Parteienfamilie im Gespräch zu sein und Gemeinsamkeiten zu suchen. Jean-Claude Juncker hat das bei dem Symposium zu Ihren Ehren im vergangenen Jahr sehr schön beschrieben, und Männer wie Felipe González und Jacques Delors werden es gern bestätigen.

Im Rückblick lässt sich freilich auch sagen: Helmut Kohl ist in die CDU nicht aus Freude an Gesprächen eingetreten. Er wollte etwas erreichen, und er hatte das Zeug dazu. Wenn man den Erzählungen glauben darf, war er von Kindesbeinen an imstande, Anhänger, ja Gefolge um sich zu scharen. Und schon mit 39 Jahren wurde er 1969 zum Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz gewählt. Das war eigentlich sensationell, erschien aber den Zeitgenossen am Ende fast naturgegeben.

Helmut Kohl war oft der Jüngste und machte sehr früh auch auf Bundesebene seinen Anspruch auf Mitsprache geltend. Konrad Adenauer hatte, so berichtet es Anneliese Poppinga, "Freude an diesem energie- und phantasievollen jungen Mann." Andere auch: Schon 1976 trat Helmut Kohl als Kanzlerkandidat an. Er verfehlte sein Ziel nur um Haaresbreite.

Womit wir bei zwei weiteren Ihrer Eigenschaften angekommen sind, lieber Helmut Kohl: Mut und Wartefähigkeit. Manch anderer hätte sich nach der Wahlniederlage ins Ministerpräsidentenamt zurückgezogen. Aber Sie wurden Oppositionsführer in Bonn, obwohl Ihnen klar war, das würde kein Zuckerschlecken sein. Der unvergessene Franz-Josef Strauß - Ihr Verhältnis zueinander war immer ausgesprochen dynamisch, Sie haben ihn sehr geschätzt, und Sie sind seit 2005 Träger des nach ihm benannten Preises - Franz-Josef Strauß also wütete zwar kurz nach der Wahl von 1976, und ich zitiere: "Helmut Kohl wird (...) mit neunzig Jahren die Memoiren schreiben: >Ich war vierzig Jahre Kanzlerkandidat. Lehren und Erfahrungen aus einer bitteren Epoche<." So kann man sich täuschen. 1980 hatte Strauß den Vortritt, weil Sie warten konnten. Und auf erstaunte Journalistenfragen, was Sie denn dazu bewogen habe, antworteten Sie nur: "Klugheit."

Das hat auch mit Weitsicht zu tun. Verblüfft berichtete ein Journalist 1971, Kohl richte "seinen Blick geradewegs auf das Jahr 2000". Als Bundeskanzler haben Sie in den Jahren nach 1982 die Bundesrepublik Deutschland bei Schuldenstand, Staatsquote und Spitzensteuersatz wieder konkurrenzfähig gemacht. Gewiss, im Nachhinein wünschte ich mir für jene Zeit noch größere Anstrengungen für Konsolidierung und Erneuerung. Ich habe im Ohr, wie Johannes Ludewig in den Jahren nach 1990 mitunter fragte: "Was haben wir eigentlich vor der Wiedervereinigung den ganzen Tag gemacht?" Aber wahr bleibt: Wenn das Land in den ersten Jahren Ihrer Regierung keine neue Kraft gesammelt hätte, dann hätte die Bundesrepublik es bei der Bewältigung der Einheit noch viel schwerer gehabt.

Zu Beharrlichkeit und Fleiß kamen Stehvermögen und Grundsätze. Ich nenne nur Stichworte: NATO-Doppelbeschluss, Festhalten an der deutschen Einheit, Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter und das freie Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes.

Es gibt für diese Haltung zwei besonders eindringliche Beispiele: Das eine ist die Tischrede, die Sie, lieber Helmut Kohl, 1987 beim Besuch von Erich Honecker in Bonn gehalten haben. Bernhard Vogel hat im vergangenen Jahr daraus zitiert, und ich will es auch tun: "Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition, weil sie unserer Überzeugung entspricht. Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Das ist unser Ziel. Wir stehen zu diesem Verfassungsauftrag, und wir haben keinen Zweifel, dass dies dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht."

Das zweite Dokument ist die deutsch-sowjetische Gemeinsame Erklärung, die Sie mit Michail Gorbatschow im Juni 1989 in Bonn unterzeichneten. Darin bekannten sich beide Seiten zum "Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen" - was nichts weniger bedeutete als das Ende der Breschnew-Doktrin.

Die dramatischen Monate zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 forderten Ihre ganze Kraft. Zugute kamen Ihnen Ihr Instinkt und Ihre Erfahrung. Mit dem Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas nahmen Sie das Heft des Handelns in die Hand. Als Sie in Dresden die Plakate sahen: "Wir sind ein Volk", wussten Sie, es ist soweit. Und mit der Einführung der D-Mark in der DDR war der Weg zur deutschen Einheit unumkehrbar geworden.

In seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" schreibt Jakob Burckhardt, einen großen Mann zeichne aus, dass "bestimmte große Leistungen nur durch ihn innerhalb seiner Zeit und Umgebung möglich waren und sonst undenkbar sind".

Wenn Ihr Leben verfilmt wird - das kommt gewiss noch, und ich bin heute schon gespannt darauf, wer der Hauptdarsteller sein wird -, dann denkt sicher einer, der dadurch zum ersten Mal von Ihnen erfährt, bei den Szenen vor dem Reichstag am 3. Oktober 1990: "Jetzt kann aber politisch nicht mehr viel kommen."

Irrtum.

Als Kanzler des vereinten Deutschlands machten Sie sich daran, umzusetzen, wovon Sie überzeugt waren: dass die deutsche Einheit und der europäische Einigungsprozess zwei Seiten derselben Medaille sind. Auch hier genügen Stichworte: Maastrichter Vertrag mit Wirtschafts- und Währungsunion, Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland und Mitteleuropa, Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens zur Europäischen Union und die Öffnung der Europäischen Union für die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas. Die Bundesregierung blieb ihrer Politik treu, die kleineren EU-Mitgliedstaaten genauso ernst zu nehmen wie die großen, und bot dabei Führung und Orientierung. Deutschland und Frankreich arbeiteten eng zusammen. Und Deutschland achtete auf Ausgewogenheit im Dreieck Bonn - Paris - Washington.

Noch einmal Jakob Burckhardt. Er berichtet in seiner "Kultur der Renaissance in Italien" eine Geschichte, die, wie er sagt, "nirgends und doch überall wahr" ist. Die Bürger einer Stadt seien durch einen ihrer Feldherren aus Feindesnot gerettet worden. Täglich berieten sie nun, wie ihm zu danken sei, fanden aber keine Belohnung groß genug. Auf dem Gipfel der Ratlosigkeit habe sich einer erhoben und gemeint: Lasst ihn uns umbringen und dann als Stadtheiligen anbeten. Und so sei man verfahren.

Immerhin - dieser Dankbarkeitsbeweis, lieber Helmut Kohl, ist Ihnen erspart geblieben! Aber Sie haben auch saure Zeiten hinter sich, denn Viele haben die Fehler, die Sie gemacht haben, nur zu gern benutzt, um Ihr Lebenswerk insgesamt in Frage zu stellen. Mittlerweile finden eine Menge Leute wieder, Kohl ist Kult.

Sie können das eine wie das andere mit philosophischer Gelassenheit nehmen, denn die Gesamtbilanz Ihrer Zeit in Verantwortung für Deutschland steht für sich.

Helmut Kohl ist ein großer Staatsmann unserer Zeit und für den Gang der deutschen Geschichte ein Glücksfall.

Bitte erheben Sie mit mir das Glas auf ihn:

Helmut Kohl - ad multos annos!