Tischrede von Bundespräsident Horst Köhler beim Mittagessen zu Ehren von Herrn Erich Loest in Schloss Bellevue

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 27. März 2006

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult

In den Unterlagen des Bundespräsidialamtes, genauer in Ihrem Schriftverkehr mit meinem Vorgänger Bundespräsident Johannes Rau, fand sich eine kleine Rede von Ihnen. Sie erwähnen darin gleich am Anfang Ihre zwei Göttinnen: Lipsia und Saxonia - und Sie danken ihnen für alles, was sie Ihnen Gutes haben zuteil werden lassen.

Dass Lipsia und Saxonia Ihnen wohl gesonnen sind, könnte an den kostbaren Opfergaben liegen, die Sie den beiden im Laufe der Jahrzehnte dargebracht haben. Denn Ihre Stadt und Ihre Heimatregion verdanken Ihnen viele literarische Denkmäler.

Aber nicht nur Leipzig und Sachsen profitieren von Ihren Gaben. Ihre Bücher werden überall in Deutschland gelesen, auch wenn Sie im Osten mehr Leser haben als im Westen, im Norden mehr als im Süden. Ihre Werke erzählen deutsche Geschichte, ganz menschlich anhand von sehr klar gezeichneten Personen, die uns in ihr Leben und ihre Zeit führen.

So ist es auch mit Ihrem jüngsten Buch, das über den 17. Juni 1953 erzählt. Jahrzehntelang beschworen die Westdeutschen an dem Datum den Tag der Deutschen Einheit. Nur wenige Meter von hier ist eine der wichtigsten Verkehrsachsen Berlins nach diesem Tag benannt. Aber viele junge Menschen in unserem Land wissen wohl mit dem Datum nichts anzufangen. Umso wichtiger ist ein Roman wie "Sommergewitter", der erzählt, was damals eigentlich geschehen ist, vor 50 Jahren, nicht nur in Berlin, sondern gerade auch in Städten wie Halle, Bitterfeld oder Wolfen. Der Leser verfolgt mit Spannung, wie der Arbeiter Brücken, der Genosse Pfefferkorn von der Staatssicherheit oder der Unternehmer Schmolka den Tag erlebten, der für viele zu einem Schlüsselerlebnis wurde.

Zehntausende gingen damals in der DDR auf die Straße, weil sie es leid waren, bevormundet, politisch für dumm verkauft und für ein offenes Wort hinter Gitter gesteckt zu werden. Ich denke, die Menschen gingen auch auf die Straße, weil sie eine Sehnsucht nach Freiheit hatten. In jedem Fall riskierten es die Menschen, den Mächtigen ihre Meinung zu sagen. Ihr Buch vermittelt ein Gefühl für die damalige Situation, für den Mut der Demonstranten und die Angst der Machthaber - und wem bewusst ist, was damals geschah, der weiß die Freiheit zu schätzen.

Die Panzer walzten den Widerstand nieder. Viele Menschen resignierten. Und man kann das auch verstehen. Umso größer ist unsere Hochachtung vor denen, die ihre Gedanken trotz der Gefahr, benachteiligt oder verfolgt zu werden, öffentlich machten.

Zu diesen Menschen gehörten Sie, Herr Loest. Direkt nach den Ereignissen, am 4. Juli 1953, erschien Ihr Artikel "Elfenbeinturm und Rote Fahne". Darin kritisierten Sie die Schönfärberei der Presse. Ihre Worte haben Ihnen viel Ärger und Drangsal eingetragen. Aber Sie besaßen - und besitzen auch heute noch - den Beharrungswillen, ja vielleicht auch die Sturheit, um zu Ihren Aussagen zu stehen. Sie haben weiter analysiert, kritisiert und wollten dabei im Grunde nur das Beste für den Staat, dem Sie sich verpflichtet fühlten. Der Preis dafür war sehr hoch:

  • Siebeneinhalb Jahre Zuchthaus.
  • Nach der Freilassung die Flucht in den Schatten eines Pseudonyms. Sie verdienten sich als Krimiautor ihr Geld. Nichts Ehrenrühriges, aber Sie hätten wohl doch lieber anderes geschrieben.
  • Schließlich der Verlust der Heimat. Leipzig und Sachsen konnten Sie nur im Geiste verbunden bleiben. Eine Rückkehr war nicht abzusehen.

Sie sind ein Freund des offenen Wortes geblieben und fühlen sich der Aufklärung verpflichtet. Als Sie nach der Wiedervereinigung 1994 für den Vorsitz des Verbandes deutscher Schriftsteller kandidierten, stellten Sie eine Bedingung: Die Geschichtskommission sollte bestehen bleiben und Licht in die deutsch-deutschen Kontakte des Verbandes bringen. Sie setzten sich durch. In Leipzig kämpfen Sie unermüdlich für die Stadtbibliotheken, weil Sie sie als Orte der Bildung für wichtig halten. Sie machen mit Ihrer Kritik vor Rathaustüren nicht halt. Und auch für mich hatten Sie schon kritische und mahnende Worte.

In einem Zeitungsartikel zu Ihrem Geburtstag stand jetzt als Fazit: "Alles spricht dafür, der Mann wird keine Ruhe geben." Gut so, kann ich nur sagen, und weiterhin viel Kraft und Erfolg.

Lieber Herr Loest, vielleicht haben Sie sich schon gefragt, warum da ein Stuhl an unserem Tisch noch leer ist. Zu einer schönen Geburtstagsfeier gehört immer auch eine Überraschung. In diesem Fall ist es ein Überraschungsgast. Er hat wie Sie die Verfolgung des SED-Regimes zu spüren bekom­men. In Ihrem Roman "Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene" schildern Sie die Proteste junger Leipziger gegen das Auftrittsverbot für seine Band. Ich freue mich, dass heute Klaus Renft hier ist. Seine Musik war stärker als die SED und ihre Parolen und sie soll heute ein Geburtstagsgeschenk für Sie sein. Herzlich willkommen, Herr Renft.

In Ihren beiden Lebensläufen spiegelt sich viel von der Geschichte unseres Landes wider. Sie haben beide in den Jahren der Teilung die Menschen in der Bundesrepublik dazu gebracht, über die Lage ihrer Landsleute in der DDR nachzudenken. Und gerade Ihre autobiographischen Werke, lieber Herr Loest, vermitteln weiter zwischen zwei noch immer recht unterschiedlichen Erfahrungswelten.

Und nun von Ihren Büchern zum Essen - der Weg ist gar nicht so weit: Mir ist aufgefallen, dass in Ihren Werken immer wieder von Würsten, Broten, Butter oder Margarine die Rede ist. In "Durch die Erde ein Riss" steht zum Beispiel, was Sie im Krieg, in den ersten Jahren danach und während der Haft in Bautzen zu essen bekamen - oder sich wünschten, zu essen zu bekommen. Die Beschreibungen zeugen davon, was es alles nicht gab.

In Ihrem Roman "Sommergewitter" schildern Sie gleich am Anfang sehr plastisch, wie eine der Hauptfiguren sich satt isst - im Jahre 1953:

"Es war tatsächlich Butter und keine Margarine, das merkte er beim Streichen und dem ersten Bissen, den die Zunge drehte und wendete, gegen den Gaumen drückte, durchspeichelte, dem alle Geschmacksnerven überrascht beizukommen suchten und die ans Gehirn meldeten: Genuss, Hochgenuss..."

Ich glaube, so kann nur einer schreiben, der Hunger kennengelernt hat. - Und leider gibt es immer noch viele in der Welt, die nichts anderes kennen als Hunger. - Aber so kann auch nur einer schreiben, der gutes Essen zu genießen weiß. Darum hoffe ich, dieser Mittagstisch macht Ihnen eine Freude, Herr Loest. Liebe Gäste, erheben Sie mit mir das Glas auf Erich Loest mit allen guten Wünschen.