Laudatio von Bundespräsident Horst Köhler auf Wole Soyinka anlässlich der Verleihung des 9. Weilheimer Literaturpreises in Schloss Bellevue

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 13. Juni 2006

Bundespräsident Horst Köhler und Eva Luise Köhler neben Wole Soyinka und Hans Magnus Enzenberger

Als die Schwedische Akademie 1986, vor genau 20 Jahren, mit Wole Soyinka erstmals einem afrikanischen Schriftsteller den Literaturnobelpreis verlieh, sollte das nicht heißen, die afrikanische Literatur habe erst damals Weltniveau erreicht. Das hatte sie längst. Aber die Auszeichnung damals weitete unseren literarischen Horizont und machte bewusst, wie eingeschränkt unser Blickwinkel bis dahin war. Bis zu diesem Zeitpunkt war afrikanische Literatur für den deutschen Sprachraum nur bei Schweizer Verlagen, in der DDR oder bei kleineren kirchlichen Verlagsanstalten zu finden.

Mit dem Preis, den sie heute vergeben, empfehlen junge Menschen Gleichaltrigen die Werke von Soyinka. Das ist für mich ein wichtiges Zeichen dafür, um wie viel weiter der Blick der jungen Leute von heute reicht. Und das kann uns allen Mut machen.

Wole Soyinka selbst ist ein mutiger Mann. Wenige Lebensläufe sind so von Extremen geprägt worden, wie der unseres Ehrengastes. Er wird Schriftsteller, kommt mehrfach ins Gefängnis, weil er sich für die Grundrechte der Menschen und die Demokratie in seinem Heimatland, Nigeria, einsetzt. Er wird mit dem renommiertesten Literaturpreis der Welt ausgezeichnet und muss dennoch mehrmals sein Land verlassen, weil er dort seines Lebens nicht mehr sicher ist.

Der Ausgangspunkt für seinen Kampf wird in seiner Kindheit gelegt. Wole Soyinka hat sie in dem Buch "Aké"beschrieben. Zu der Kindheit des kleinen Wole gehört alles, was auch sonst Kindheit ausmacht: Erfahrungen im Elternhaus, mit Geschwistern und Freunden. Streiche, Streit, Schule. Woles Vater ist der Schulrektor von Aké. Er prägt viele Bilder und Geschichten und er ist selber wiederum stark beeinflusst vom intellektuellen und kulturellen Geist der Kolonialzeit. Gleichzeitig wird der Leser tief in die Kultur und das Leben der Yoruba eingeführt, für die nicht zuletzt Ìsarà, der Herkunftsort des Vaters, steht. Das ist eine Seite des Buches, durch die Sie, liebe Jurymitglieder, in eine - wie Sie soeben sagten - "faszinierende, fremde Welt entführt" wurden. Durch diese Seite des Buches lernen wir die Gottheiten einer afrikanischen Religion kennen, wir können uns das Dorf mitten in der afrikanischen Landschaft und Natur vorstellen, und durch die Beschreibung vieler Gerichte der nigerianischen Küche werden die vielfältigsten Gerüche heraufbeschworen und ziehen uns schon fast in die Nase.

Beim Lesen mischen sich Vertrautheit und Fremdheit. Das entspricht der Ambivalenz der Beziehung zwischen Afrika und Europa. Die Geschichte des jungen Wole beginnt noch in der Kolonialzeit und manche Beschreibungen weisen zurück auf die lange und mit Schuld beladene Vergangenheit, durch die viele europäische Staaten mit Afrika verbunden sind.

Die Kindheitserinnerungen Soyinkas bieten nicht allein eine schöne Einführung in faszinierend andere Kulturwelten. Man kann sie auch als Metapher für das Verhältnis unserer beiden Kontinente verstehen. Beispielhaft ist eine Szene, in der der kleine Wole ein Verhalten der Erwachsenen schildert, das zunächst ganz alltäglich und aus der Erfahrung jedes Kindes gegriffen ist. So schreibt er: "das war auch eine von den komischen Angewohnheiten der Erwachsenen; sie redeten über die Kinder, als wären die Kinder nicht da. ... Ich hörte ihnen vom Tisch zu und schüttelte heftig den Kopf. Ja, sie hatten den springenden Punkt nicht begriffen." Wole Soyinka macht hier klar, wie gerade die sogenannten Erwachsenen - oder soll ich sagen: die sogenannten Entwickelten - durch ihr Verhalten andere kränken oder gar demütigen können. Auf das Verhältnis zwischen Europa und Afrika übersetzt heißt dies: Europa darf Afrika nicht wie ein unmündiges Kind behandeln. Diese Botschaft zieht sich durch das ganze Werk Soyinkas und ich habe sie wieder vernommen, als Wole Soyinka an dem von mir initiierten Diskussionsforum "Partnerschaft mit Afrika" am 4. November 2005 auf dem Petersberg in Bonn teilnahm. Er verbarg dabei nicht seine Skepsis gegenüber Partnerschaftsrhetorik. Doch er sagte auch, dass Partnerschaft trotz bestehender Asymmetrien im europäisch-afrikanischen Verhältnis möglich ist - wenn sie auf gegenseitigem Respekt aufbaut und wenn sie nicht bedeutet, dass Afrika unbesehen europäische Entwicklungsmodelle übernehmen soll.

Ich denke, Wole Soyinka gibt uns Europäern einen guten Rat, den wir beherzigen sollten: Wir müssen viel besser lernen, einander zuzuhören. Mit der Initiative "Partnerschaft mit Afrika" möchte ich einen Beitrag dazu leisten, und ich bin sehr froh, dass sich Wole Soyinka an diesem Dialog beteiligt, den wir in der nächsten Etappe mit einer Diskussion zwischen jungen Menschen aus Afrika und Deutschland fortsetzen wollen.

Die Szene des jungen Wole mit den Erwachsenen, die ich vorhin zitiert habe, ist charakteristisch für die Persönlichkeit unseres heutigen Ehrengastes. Zahlreiche Episoden des Buches verdeutlichen, dass er sich mit gegebenen Umständen nicht einfach abfindet, sondern mit unstillbarer Neugier seine Umgebung wahrnimmt, ihre Mängel und Ungerechtigkeiten erkennt und - wenn es nötig ist - mit unbeugsamem Willen für seine Überzeugungen einsteht. Das gilt für seine eigenen Rechte und auch für die Rechte anderer Menschen. Für beides stehen exemplarisch zwei Szenen, die dem Werk seinen Rahmen geben:

Zu Beginn des Buches erfahren wir, wie Wole mit allen Finessen darum kämpft, in die Schule gehen zu können, obwohl er dafür noch viel zu klein ist. Durch das Fenster seines Elternhauses hatte er die Kinder auf dem Weg zu Schule beobachten können und Geräusche aus dem Schulgebäude gehört, die seine Phantasie anregten. Also setzt er sich einfach zu Beginn einer Schulstunde neben seine ältere Schwester. Die Lehrer wollen ihn des Klassenzimmers verweisen. Der kleine Wole aber setzt seinen Kopf durch und darf bleiben. Damals ist er keine drei Jahre alt!

Am Ende des Buches beschreibt er ein Schlüsselereignis seiner Jugend. Der Zehnjährige übernahm Botengänge während einer Frauenrevolte, in der seine Mutter mit ihrer Verwandten Mrs Kuti eine führende Rolle spielte. Ausgelöst wird dieser Widerstand durch die Steuerpolitik der britischen Kolonialregierung, die nach dem Prinzip der indirect ruleüber den König von Egba und die Chiefs ausgeführt wurde. Der Egba-Frauenaufstand richtete sich gegen die zunehmende politische Entmachtung der Frauen Nigerias und gegen die Kolonialmacht. Durch seine Botenrolle war Wole Soyinka aktiv an den Geschehnissen beteiligt, ein früher, selbstverständlicher Einsatz für eine selbstbewusste Zivilgesellschaft, wenngleich der Zehnjährige dieses Wort sicher noch nicht begriffen hätte.

Was sich in seiner Kindheit andeutet, entfaltet sich dann in seinem Selbstverständnis als Künstler. Nicht jeder Schriftsteller muss politisch sein. Das würde auch Soyinka sagen. Für ihn selbst steht jedoch von Beginn an fest, dass seine Literatur politisch sein soll, dass sie sich einmischen soll, um zu einer humanen Gesellschaft beizutragen. Angetrieben von einem untrüglichen Sinn für Recht und Unrecht ist er zu einem rastlosen Rufer für Freiheit, Demokratie und Aufklärung in seinem Land und darüber hinaus geworden. In zahlreichen Universitäten auf vielen Kontinenten ist er als "visiting professor" bekannt. Sein rastloser Einsatz führt allerdings auch dazu, dass Frau Soyinka ihm den Titel "visiting husband" verliehen hat.

In seiner Heimat wurde er zuerst durch seine Theaterstücke bekannt. Das Theater ist für ihn bis heute der eigentliche Ort seiner kreativen Arbeit. Dort tritt Literatur in unmittelbare Wechselwirkung mit dem Publikum und kann dadurch viel stärker politische Wirkung entfalten. Ich habe mir berichten lassen, dass auch bei den Schülern des Gymnasiums von Weilheim eine Theaterarbeit mit Wole Soyinka im Herbst 1999 bis heute nachwirkt. Dies zeigt: die Macht der Sprache ist universell. Soyinka spricht manchmal von der Macht der Sprache als seiner Waffe. Sie kann ermahnen, wachrütteln und dazu beitragen, dass Menschen ihre Rechte kennen lernen und sich bewusst werden, dass diese Rechte vor jeder Obrigkeit gelten.

Sehr geehrter Herr Soyinka, oft frage ich mich, woher Sie trotz wiederholter und mehrjähriger Gefangenschaft, trotz Exil und trotz des Todes von Freunden wie Ken Saro-Wiwa Ihre Kraft nehmen, unnachgiebig weiter zu streiten. Klar ist jedenfalls: je stärker die Menschen in Nigeria drangsaliert wurden, je mehr man auch Ihnen persönlich Gewalt antat, desto mehr wurden Sie angetrieben, mit der Kraft des Wortes für Menschenwürde und Freiheit zu kämpfen. Dadurch sind Sie zu einer moralischen Instanz Ihrer Nation und zu einem Symbol für den eigenständigen Weg Afrikas geworden. Ihr Wirken stärkt das Selbstbewusstsein der Afrikaner - und nicht zuletzt auch der jungen afrikanischen Schriftsteller. Welche intellektuelle Kraft und moralische Autorität hier inzwischen versammelt ist, konnte ich zuletzt bei den Lesungen afrikanischer Schriftsteller anlässlich des 72. Internationalen PEN-Kongresses vor drei Wochen in Berlin feststellen.

Mit Ihren Werken haben Sie uns einen Weg zu Afrika eröffnet, der keine Einbahnstraße ist, sondern eine Brücke, auf der sich immer mehr Menschen begegnen. Oft bringen gerade diese Begegnungen neue Perspektiven. Ich habe das sehr eindrucksvoll in Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern erfahren, die mich auf meinen beiden Afrikareisen als Bundespräsident begleitet haben. Es ist nicht nur so, dass manch einer dieser Jugendlichen vor Ort vieles wahrnimmt, was die offiziellen Vertreter entwicklungspolitischer Zusammenarbeit manchmal nicht mehr sehen - und vielleicht auch nicht sehen können. Nein, meine Beobachtung ist: Für junge Menschen, die Afrika erleben, weitet sich auch der Blick auf das eigene Land, auf das eigene Leben und seine Probleme und Nöte. Vielleicht ist das auch der jungen Jury bei der Lektüre Ihrer Bücher so ergangen. In jedem Fall ist es gut und wichtig, dass junge Menschen immer wieder Gelegenheit haben, ihre eigene Kultur und Herkunft mit neuen Augen zu betrachten und auch zu hinterfragen. Das schult im besten Sinne; auch darin, Kritik zu üben im ursprünglichen Sinn des Wortes, nämlich Gutes von Schlechtem zu unterscheiden.

Zu der Kritik, die wir leisten müssen, gehört auch die Prüfung, welche Bilder und Nachrichten wir von fremden Kulturen und Nationen überhaupt empfangen. Werden wir nicht ständig mit einer Berichterstattung konfrontiert, die Afrika vorwiegend als Krisen- und Katastrophenkontinent darstellt? Positives kommt kaum vor. Sind wir sicher, dass die westliche Welt koloniale Denkmuster wirklich überwunden hat? Ich bin mir da nicht so sicher. In jedem Fall wünsche ich mir mehr und besseres Wissen über Afrika in Deutschland als es gegenwärtig der Fall ist. Auch in unseren Schulbüchern und Lehrmitteln stecken noch zu oft Klischees über Afrika.

Sie, liebe Schülerinnen und Schüler, fallen nicht auf Klischees herein: Sie haben unseren heutigen Preisträger ausgewählt, weil er als afrikanischer Rufer für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie die Weltgesellschaft bereichert. Bei Ihrer Begründung zur Vergabe des Weilheimer Literaturpreises charakterisierten Sie Ihr Weilheim durch die alten Klöster von Andechs, Dießen, Wessobrunn und Polding. Über Jahrhunderte waren das Orte, an denen die große Schriftkultur des Abendlandes gepflegt und überliefert wurde. Seit über 25 Jahren gibt es an Ihrer Schule Lesungen der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart, die mit viel Engagement auch der Lehrer vorbereitet werden. Und seit bei Ihnen in Weilheim die "literarische Turnhalle" eingerichtet wurde, bekommt der alte Ausdruck "mens sana in corpore sano", der von dem gesunden Geist in einem gesunden Körper spricht, eine ganz neue Bedeutung.

Die Beschäftigung mit Literatur, wie sie in Weilheim stattfindet, ist beispielhaft. Ich danke allen Beteiligten für Ihr Engagement. Machen Sie weiter so, und ich hoffe, Ihr Beispiel macht auch anderswo Schule. Herr Denk, dass Sie an all dem besondere Verdienste haben, das hat sich nicht nur bis nach Berlin herumgesprochen. Das hat mir auch Hans Magnus Enzensberger mit den Worten bestätigt: "Wenn der Denk ruft, muss man kommen". Ich habe gehört, wie viel Freude es Ihnen, den Schülerinnen und Schülern macht, immer neue Welten durch die Weilheimer Literaturhefte kennen zu lernen. Daher ist es - denke ich - gut, diese auch weiterhin in den Schulstunden zu bearbeiten, damit die Lesungen der Schriftsteller gut vorbereitet bleiben.

Sie, liebe Jury, haben in einem langen Prozess Ihren Favoriten ausgewählt. Sie wurden von Ihren Lehrern aus verschiedenen Jahrgangsstufen und Fächern im letzten Frühjahr ausgewählt. In zahlreichen Stunden über die Sommerferien hinweg haben Sie über 20 Literaturhefte gelesen und aus ihnen den heutigen Ehrengast einstimmig ausgewählt. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Wahl. Ihr Engagement und Ihr Leseeifer schlagen sich nicht in eigens dafür vergebenen Schulnoten nieder und verbessern nicht unbedingt das Abiturzeugnis, das einige von Ihnen in wenigen Wochen hoffentlich in Händen halten werden - zumindest nicht direkt. Aber Leseeifer kann nicht nur den einzelnen, er kann die Welt verändern.

Das lehrt ebenfalls eine Geschichte aus Afrika. Sie begab sich genau 1.600 Jahre bevor Wole Soyinka den Nobelpreis erhielt: Im Jahr 386 hörte der nordafrikanische Kosmopolit und Lebemann Augustinus eine Stimme, die ihn nicht nur zum unermüdlichen Lesen, sondern zu einer radikalen Persönlichkeitsveränderung und später auch zum Predigen und Schreiben trieb. Der Ruf an ihn lautete "tolle, lege"und bedeutet soviel wie "nimm und lies"! Für Augustinus war dieser Satz lebensentscheidend und für das Abendland kulturbildend, denn sein Denken prägt bis heute die Mentalität Europas mit. Ich wünsche dem Weilheimer Literaturpreis eine ähnliche Wirkung - erste Anzeichen dafür gibt es schon.