Bundespräsident Horst Köhler im Gespräch mit der BILD-Zeitung. Die Fragen stellten Sebastian von Bassewitz, Kai Diekmann und Rolf Kleine

Schwerpunktthema: Rede

5. Juli 2006

Porträt des Bundespräsidenten im Park von Schloss Bellevue.

BILD: Herr Bundespräsident, wir sitzen hier im Garten von Schloß Bellevue. Wenige hundert Meter entfernt auf der Fan-Meile ist Deutschland im schwarz-rot-goldenen Farbenrausch. Und im Stadion singen 72.000 Menschen die Nationalhymne. Was empfinden Sie dabei?

Köhler: Ich freue mich mit, und ich singe mit.

BILD: Erleben wir in diesen Tagen der Fußball-WM eine neue Form von Patriotismus?

Köhler: Da kommt vieles zusammen: Die tolle Stimmung, das Fahnenmeer, spannende Fußballspiele, gute Organisation - da springt ein Funke vom Rasen auf die Zuschauer über. Es ist auch das Gefühl, wir können Erfolg haben, etwas bewegen, etwas voranbringen.

BILD: So viele Autos mit deutschen Fahnen auf unseren Straßen hat es noch nie gegeben. Was ist denn da passiert?

Köhler: Die Menschen erleben Deutschland als fröhliches, zuversichtliches Land. Sie fühlen sich wohl in dieser Gemeinschaft. Die Deutschen identifizieren sich mit ihrem Land und seinen Nationalfarben. Das finde ich großartig. Und ich find gut, daß ich nicht mehr der einzige bin mit einer Flagge am Auto.

BILD: Ist Deutschland plötzlich ein ganz normales Land geworden?

Köhler: Es waren die Bürger selbst, die diese tolle Stimmung geschaffen haben. Wir sind auf einem guten Weg, uns zu uns selbst zu bekennen, stolz zu sein auf das, was wir nach 1945 erreicht haben. Überlassen wir diese tolle Stimmung doch einfach den Bürgern!

BILD: Was können wir tun, damit diese Stimmung auch nach der WM anhält?

Köhler: Ich glaube nicht, daß man Patriotismus verordnen kann. Es ist schön, wenn er da ist. Dann gibt er Halt. Wir wissen, wo wir hingehören, wir wissen unsere Heimat zu schätzen, und wir fühlen uns für sie verantwortlich. Wir können viel erreichen, wenn wir Mut haben, Neues zu wagen. Daran sollten wir uns auch nach der WM erinnern. Ganz egal, ob wir Weltmeister werden oder nicht.

BILD: Im Vorfeld der WM gab es hitzige Diskussionen über Ausländerfeindlichkeit und No-Go-Areas. Und jetzt schaffen zwei Wochen Fußball-Fest, was alle Bundespräsidenten mit ihren Ruck-Reden nicht hinbekommen haben: Wir stellen auf einmal erstaunt fest, daß uns die anderen mögen. Wie erklären Sie sich das?

Köhler: Die Welt schaut auf Deutschland und entdeckt viel Gutes dabei. Ich habe schon vor Jahren erfahren, daß Deutschland im Ausland viel positiver gesehen wird, als wir manchmal meinen. Deutschland hat im Ausland einen guten Ruf, und oft habe ich den Satz gehört: Eure Probleme hätten wir gerne!

BILD: Wir sehen an vielen Autos schwarz-rot-goldene Fahnen neben dem türkischen Halbmond. Überrascht Sie das?

Köhler: Es freut mich. Ich bin in den letzten Wochen - u.a. in einem Stahlwerk im Ruhrgebiet - vielen Jugendlichen mit türkischer Abstammung begegnet. Und auf die Frage, wem sie bei der WM die Daumen drücken, haben sie ganz selbstverständlich geantwortet: Deutschland natürlich! Sie wollen eine Ausbildung machen und hier eine Familie gründen. Ich kann nur sagen: Etwas Besseres kann uns gar nicht passieren. So gelingt Integration.

Das zeigt mir aber auch: Wir haben dem Thema nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Es wird Zeit, daß wir allen Einwanderern, die sich zu unserem Land und zu unserer Verfassung bekennen, ein Angebot machen, sie mit offenen Armen in unsere Gesellschaft zu integrieren.

BILD: Sind Sie stolz, Präsident DIESER Deutschen zu sein?

Köhler: Ja.

BILD: Sie haben in Ihrer Antrittsrede gesagt: "Ich liebe unser Land." Sind Sie stolz, Deutscher zu sein?

Köhler: Ja, ich bin stolz auf dieses Land. Auch weil wir aus der Geschichte gelernt haben.

BILD: ...einer Ihrer Amtsvorgänger hat auf die Frage, ob er sein Land liebe, geantwortet: "Ich liebe meine Frau..."

Köhler: ...und ich meine!

BILD: Herr Bundespräsident, Sie haben vor knapp einem Jahr in Ihrer Rede zur Auflösung des Bundestages gesagt: "Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel." Es gab Neuwahlen, dann die Große Koalition. Und die beschließt nun die größte Steuererhöhung aller Zeiten. Haben Sie das alles so gewollt?

Köhler: Deutschland stand damals und steht noch heute vor großen Herausforderungen: Für mich ist der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit die wichtigste politische Aufgabe unserer Gesellschaft, und ich bleibe dabei: Wir brauchen eine politische Vorfahrtsregel für Arbeit. Was gut ist für neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze, muss getan werden. Was ihnen schadet, muss unterlassen werden. Unser Arbeitsmarkt muss vor allem auch denen wieder Chancen geben, denen nur einfache Arbeit gelingt. Was sie leisten, verdient Respekt, und ohne ihre Leistungen kommt Deutschland nicht in Fahrt. Und: Wir müssen mehr tun für Bildung, Forschung und Entwicklung - das ist der Schlüssel für eine gute Zukunft der Jüngeren.

Steuererhöhungen werden meines Erachtens nur dann helfen, wenn sie mit Strukturreformen zur Beseitigung der Ursachen unserer Probleme einhergehen.

BILD: Reicht das Reformtempo der großen Koalition aus?

Köhler:Wir können uns keine Verzögerung erlauben - aber es gilt gleichzeitig der Grundsatz: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Gesetze, die mit heißer Nadel gestrickt sind, schaffen mehr Probleme als sie lösen. Ich glaube, die Koalition weiß: die Bürger erwarten eine Konzentration auf das Wesentliche, und sie erwarten, daß das Wesentliche mit der nötigen Gründlichkeit bearbeitet wird.

BILD: Wie erklären Sie sich, daß die Zustimmung der Bürger zur Großen Koalition in Meinungsumfragen dramatisch sinkt?

Köhler: Anscheinend empfindet so mancher Enttäuschung. Vielleicht liegt das auch daran, daß die Politik immer wieder den Eindruck vermittelt, sie könne alles richten. In Wahrheit kann es nur gelingen, wenn jeder mit anpackt und sein Bestes gibt, um das Land voranzubringen. Wir sollten durchaus etwas von der Politik verlangen - aber nicht das Unmögliche.

Und die Politiker sollten sich überlegen, wie sie wieder mehr Kontakt zu den Bürgern bekommen. Vor allem darf Regierungspolitik nicht vorwiegend Parteipolitik sein. Die Bürger wissen, daß die Zeiten Veränderungen verlangen - und Anstrengungen. Gerade in einer großen Koalition sollte deshalb nicht Parteipolitik dominieren, sondern Sachorientierung mit Vernunft und gesundem Menschenverstand.

BILD: Viele Menschen haben nach der Wahl die Hoffnung gehabt, eine Große Koalition könne mit großen Mehrheiten auch große Probleme lösen.Ein Irrtum?

Köhler: Es ist noch zu früh, das zu beurteilen. Die Politik war über Jahre hinweg blockiert, durch gegenläufige Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, im Bund und in den Ländern. Die große Koalition hat die große Chance, die Politik aus dieser Isolation herauszuführen. Natürlich hat niemand ein Patentrezept, das alle Probleme auf einen Schlag löst. Trotzdem gibt es die Aufgabe, die großen Probleme anzupacken, und daran werden die Gewählten letztlich mit Recht gemessen.

BILD: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Deutschland einen "Sanierungsfall" genannt. Sehen Sie das auch so?

Köhler: Dieses Land hat schwerwiegende Probleme - reden wir nicht darum herum. Andererseits dürfen wir nicht vergessen: Wir gehören zu den glücklichen zehn Prozent der Weltbevölkerung, die besser leben als die übrigen 90 Prozent. Wir sind ein reiches Land. Es gibt also keinen Grund, in Panik zu verfallen, und es gibt viele Gründe, sich mit Kraft und Zuversicht an die Arbeit zu machen.

BILD: Wenn vor der Wahl eine Partei sagt, wir erhöhen die Mehrwertsteuer um zwei Punkte, die andere Partei verspricht: Mit uns gibt es keine Erhöhung. Und dann treffen sie einen Kompromiß - und die Mehrwertsteuer steigt um satte drei Punkte. Was hat das mit Glaubwürdigkeit zu tun?

Köhler: Damit sprechen Sie ein wichtiges Thema an. Solche Abläufe verunsichern die Bürger und kosten Vertrauen. Genau das Gegenteil brauchen wir. Politik muß die Bürger ernst nehmen, sonst sägt sie sich selbst den Ast ab, auf dem sie sitzt. Ich plädiere für Aufrichtigkeit in der Politik.

BILD: Die Mehrheit der Bürger hat Schwierigkeiten, ihren Lebensstandard zu halten, gleichzeitig wird eine kleine Gruppe immer reicher. Ist es gerecht, wenn Löhne sinken und Managergehälter drastisch steigen?

Köhler: Gerechtigkeit bedeutet immer auch Verteilung nach Bedürftigkeit, Leistung und Talent. Man kann Zweifel haben, ob sich alle Managergehälter durch Leistung ausreichend rechtfertigen. Vor allem aber müssen sich gerade Manager immer wieder ihrer sozialen Verantwortung und ihrer Vorbildfunktion bewusst sein. Es gibt eine Schere zwischen Lohn- und Gewinneinkommen. Deshalb habe ich vorgeschlagen, die Arbeitnehmer stärker am Ertrag oder am Produktivvermögen der Unternehmen zu beteiligen. Das stärkt die Stabilität der Gesellschaft.

BILD: Für viele ist Hartz IV zu einer Art Selbstbedienungsladen geworden. SPD-Chef Beck hat gesagt, das Verhalten einiger Hartz IV Empfänger sei nicht immer "anständig". Sind wir etwa ein Volk von Unanständigen und Mitnehmern geworden?

Köhler: Natürlich nicht. Schlecht sind nicht "die Menschen", sondern Gesetze, die zu Missbrauch verleiten. Damit hat man einige Findige ermuntert, staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen, die nicht notwendig wären. Es kann nicht der Sinn von Hartz IV sein, jungen Leuten auf Kosten der Steuerzahler eine sturmfreie Bude zu finanzieren. Da gab es Fehleinschätzungen bei der Gesetzgebung, die jetzt korrigiert werden. Ich halte die Reformagenda 2010 und die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe aber nach wie vor für grundsätzlich richtig. Denn damit wird vor allem die versteckte Arbeitslosigkeit sichtbar. Das wird sich langfristig auch positiv auf dem Arbeitsmarkt auswirken.

BILD: Herr Bundespräsident, Sie haben in Ihrer Ansprache zur Auflösung des Bundestages dringende Reformen angemahnt. Demnächst wird Ihnen die größte Steuererhöhung aller Zeiten zur Unterschrift vorgelegt. Fühlen Sie sich gut dabei?

Köhler: Meine Gemütslage steht hier nicht im Vordergrund. Aber: wenn schon Steuererhöhungen, dann sollten die zusätzlichen Einnahmen hauptsächlich den großen Reformen zugute kommen und die Mittel für den Umbau des Sozialsystems und für Investitionen in Bildung und Forschung verwendet werden. Ich finde: Reform ist, wenn man hinterher spürbar etwas Besseres für die Menschen erreicht.

BILD: Eine Frage an den WirtschaftswissenschaftlerKöhler: Werden in Deutschland zuviel oder zuwenig Steuern bezahlt?

Köhler: Die Steuereinnahmen steigen in Deutschland deutlich. Daß sich der Staat dennoch massiv weiter verschuldet, weist darauf hin, daß wir vor allem ein Ausgabenproblem haben. Im Übrigen muß man hinsichtlich der Belastung der Bürger immer die Summe aus Steuern und Abgaben in den Blick nehmen. Und beides zusammen ist in Deutschland eher zu hoch, auch weil es die Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen erschwert.

BILD: Nach monatelangen Verhandlungen der großen Koalition über eine Gesundheitsreform ist jetzt herausgekommen: Die Krankenkassenbeiträge steigen. Haben Sie sich mehr von der "Mutter aller Reformen" versprochen?

Köhler: Die Koalition sagt, dies sei ein Zwischenschritt für eine große Strukturreform. Diese Reform brauchen wir in der Tat dringend, denn unser Gesundheitssystem ist krank. Was hat das Gesundheitssystem in die Krise geführt? Wir machen uns nicht klar, wie wertvoll unsere Gesundheit ist. Deshalb gehen wir zu nachlässig mit ihr um. Die Eigenverantwortung muß also gestärkt werden. Der zweite Grund: Wir erfahren zu wenig, wie viel Arztbesuche eigentlich kosten. Drittens: Experten sagen, es gibt zu wenig Wettbewerb und Transparenz im Gesundheitssystem. Hier ist die Rede von zweistelligen Milliardenbeträgen, die eingespart werden könnten. Es ist ein Gebot des gesunden Menschenverstands, diese Missstände zu beheben. Eine andere Frage ist, wie die verbleibenden, notwendigen Kosten finanziert werden sollen. Da kann ich eine Umstellung auf eine stärkere Steuerfinanzierung durchaus nachvollziehen. Denn das verteilt die Lasten besser und entlastet die Arbeit von Lohnnebenkosten. Aber die Reihenfolge der Reformschritte muß stimmen. Das Pferd darf nicht von hinten aufgezäumt werden.

BILD: Wird da nicht bloß wieder einmal gutes Geld in ein marodes System gepumpt?

Köhler: Diese Sorge gibt es. Aber die Bürger haben ein sehr feines Gespür dafür, ob sie an der Nase herumgeführt werden. Sie lassen sich nicht für dumm verkaufen.

BILD: Ist das Ansehen der Politiker insgesamt in der Öffentlichkeit auch deshalb so schlecht?

Köhler: Wir sollten es auch nicht schlechter machen, als es ist. Tatsächlich gibt es aber auch hier Strukturprobleme: Blickt man in unsere Parlamente, dann sitzen da überwiegend Angehörige des öffentlichen Dienstes, Verbandsvertreter und Berufspolitiker. Vielleicht ist das mit ein Grund dafür, daß Politik an Bürgernähe verloren hat. Was im Bundestag und in den Landtagen fehlt, sind gestandene Handwerker, Freiberufler, Ingenieure - Menschen, die die Vielfalt des praktischen Berufslebens widerspiegeln.

BILD: Wie ließe sich das ändern?

Köhler: Nehmen wir einen tüchtigen Freiberufler, der ein gutes Einkommen hat: Für den ist es nicht attraktiv, bei den derzeitigen Diäten seinen Beruf aufzugeben und in ein Parlament zu gehen.Aber wir brauchen gerade heute verstärkt die Bereitschaft aller Berufsgruppen, für eine begrenzte Zeit in die Politik zu gehen. Charakterköpfe und starke Persönlichkeiten können den Parlamenten nicht schaden.

BILD: Warum tut sich der Bundestag so schwer, das heikle Thema Diäten, Pensionen und Nebentätigkeiten zu regeln - wie es der Öffentlichkeit vor der Bundestagswahl versprochen wurde?

Köhler: Diese Frage kann nur der Bundestag selbst beantworten.

BILD: Ein weiteres Problem ist der Einfluß von immer mehr Lobbyisten auf das Parlament. Wieviel Macht dürfen Interessenvertreter von Firmen und Verbänden haben?

Köhler: Sie sollten alle Möglichkeiten haben, ihre Interessen zu formulieren. Aber sie dürfen nie so viel Macht bekommen, daß sie dem Interesse der Allgemeinheit schaden.

BILD: Dürfen Lobbyisten Ihrer Meinung nach selbst als Abgeordnete im Bundestag sitzen?

Köhler: Im Ideal würde ich mich für eine saubere Trennung zwischen Parlament und Lobbytätigkeit aussprechen. Das wäre für beide Seiten besser - für die Interessenvertreter selbst, aber auch für das Ansehen des Parlaments beim Volk. Andererseits: Nehmen wir das Beispiel eines gestandenen Gewerkschaftsführers, der zugleich Bundestagsabgeordneter ist. Soll das prinzipiell nicht miteinander vereinbar sein? Ich finde, vor allem sollte jeder sensibel und mit Blick auf seine Amtspflichten als Abgeordneter und das Ansehen des Parlaments mit sich selbst zu Rate gehen.

BILD: Herr Bundespräsident, in wenigen Tagen fliegen Soldaten der Bundeswehr in den Kongo. Ist den Deutschen wirklich hinreichend erklärt worden, warum diese Mission so wichtig ist und was wir dort überhaupt ausrichten können?

Köhler: Ich verstehe und teile die Sorgen vieler Menschen bei diesem Einsatz. Aber wir dürfen auch nicht so tun, als ob uns Afrika und seine Probleme nichts angingen. Wenn unser neues Selbstvertrauen echt ist, von dem wir eben gesprochen haben, dann müssen wir begreifen, daß Deutschland als bedeutende Mittelmacht eine wichtige Rolle in der internationalen Politik hat und sich nicht aus der Verantwortung stehlen darf.Als exportabhängiges Land sind wir darauf angewiesen, daß die Welt insgesamt zu Frieden und zu einer Ordnung findet, in der Handel und Wandel sowie globaler Umweltschutz möglich sind.

Trotz der Risiken halte ich daher die Entscheidung, deutsche Soldaten an einem europäischen Kontingent im Kongo zu beteiligen, für gerechtfertigt.

BILD: Am 1. Januar übernimmt Deutschland für ein halbes Jahr die EU Ratspräsidentschaft. Was ist für Sie in diesem Zusammenhang die wichtigste Aufgabe?

Köhler: Für mich wäre das Wichtigste eine Anstrengung, die offenkundige Kluft zwischen den Bürgern und Europa abzubauen. Denn das ist das eigentliche Kernproblem und belastet besonders die Diskussion um die EU-Verfassung. Viele Bürger verstehen Europa nicht mehr. Ich hoffe, daß die Bundesregierung sich ganz besonders auf dieses Problem konzentriert.

BILD: Wie erklären Sie den Bürgern, daß jetzt auch noch Rumänien und Bulgarien in die EU aufgenommen werden sollen?

Köhler: Wichtig ist, daß diese beiden Länder ihre Hausaufgaben machen, zum Beispiel bei der Bekämpfung der Korruption. Andererseits: Auch als beispielsweise Polen oder Tschechien in die EU kamen, gab es zunächst große Vorbehalte. Heute wissen wir, daß die meisten Ängste unbegründet waren. Allerdings: Zur Europa-Politik gehört auch die Diskussion über die Grenzen der Gemeinschaft. Denn: Europa kann seinen Bürgern nur Identität stiften, wenn es Grenzen hat. Was grenzenlos ist, verliert sich in der Beliebigkeit.

BILD: ...und was ist mit dem geplanten EU-Beitritt der Türkei?

Köhler: Zu unserer europäischen Kultur der Rechtsstaatlichkeit gehört es, daß geschlossene Verträge eingehalten werden. Pacta sunt servanda. Für die Türkei heißt das: Ihr wurden von den Staats- und Regierungschefs Beitrittsverhandlungen zugesagt. Und jetzt wird verhandelt - aber mit offenem Ergebnis, wie vereinbart. Am Ende werden wir sehen, wozu die Entwicklung in der Türkei führt, und wozu die Verhandlungen führen - zu einem Beitritt oder nicht. Aber wir sollten auch aufpassen, daß es in der politischen Debatte keine Äußerungen gibt, durch die sich die Türken zurückgesetzt fühlen. Wir sollten nie vergessen: Die Türken sind ein stolzes, kraftvolles Volk. Und die Türkei ist für Europa ein wichtiger Partner.

BILD: Herr Bundespräsident, Sie sind fast auf den Tag genau zwei Jahre im Amt. Denken Sie schon über eine zweite Amtszeit nach?

Köhler: Ich freue mich jetzt auf die zweite Hälfte meiner Amtszeit, und ich bin froh über die Ermutigung, die ich von so vielen Bürgern erfahre.

BILD: "...Horst - wer...?" titelte BILD 2004, als Sie Kandidat für das höchste Staatsamt wurden. Woran sollen sich künftige Generationen beim Namen Horst Köhler erinnern?

Köhler: An mich - und an meine Frau.

BILD: Kränkt es Sie, wenn Politiker Ihnen Besserwisserei vorwerfen oder Sie als "CDU-Bundespräsident" bezeichnen?

Köhler: Nein, denn verstehen heißt verzeihen.

BILD: Was ist Ihr Lebensmotto?

Köhler: Nach Karl Popper: "Alles Leben ist Problemlösen" - und Gottvertrauen hilft dabei.