Schlusswort von Bundespräsident Horst Köhler bei der Konferenz "Familien stärken - Zukunft gewinnen" des Forums Demographischer Wandel

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 6. Dezember 2006

Bundespräsident Horst Köhler unterhält sich mit Jugendlichen

Ich werde nicht den Versuch unternehmen, die anregenden Diskussionen dieses Tages in ein paar Sätzen zusammenzufassen. Ich nehme von der Diskussion viel mit.

Wir müssen das direkte Gespräch suchen und führen - mit den Jungen und mit den Älteren. Das Verhältnis zwischen Jung und Alt ist aus meiner Sicht für die Zukunft Deutschlands eine große Chance. Wenn wir die Jungen mit den Älteren zusammenbringen und sie gemeinsam überlegen, was sich ändern muss im Interesse beider, dann, glaube ich, kommen wir auf einen guten Weg. Mich hat es ermutigt, dass die Jungen bei dieser Konferenz so unbeschwert direkt auch gesagt haben, was ihnen bei unserer Diskussion heute nicht gefallen hat. Und ich glaube, was wir heute früh in dem kleinen Film über die junge Generation gesehen haben, hat alle beeindruckt und positiv gestimmt. Wenn man mit jungen Menschen in Deutschland spricht, spürt man doch insgesamt eine positive Einstellung - und deshalb bin ich optimistisch, dass unser Land seine Herausforderungen meistern kann und wird.

Ich nehme noch etwas anderes mit: Politik für Familien ist keine Politik, die Menschen vorschreibt, wie sie zu leben haben. Aber wenn wir wollen, dass Familien entstehen können, wenn wir wollen, dass Menschen in der Familie füreinander sorgen, dann müssen wir einen zeitgemäßen Rahmen dafür schaffen.

Und noch etwas: Wir müssen mehr als bisher dafür sorgen, dass Familien Hilfe bekommen, wenn sie überfordert sind und zu versagen drohen. Denn es geht nicht nur darum, dass sich auch künftig möglichst viele Menschen ihre Kinderwünsche erfüllen können. Wir müssen auch denjenigen Teilhabechancen und Entwicklungsmöglichkeiten bieten, die heute schon auf der Welt sind und in prekären Lebensverhältnissen aufwachsen.

Was brauchen Familien heute?

Sie brauchen Zeit, sie brauchen Raum, selbstverständlichen Raum mitten in der Gesellschaft. Sie brauchen Verlässlichkeit, Erwerbsperspektiven, eine Infrastruktur, die sie von Aufgaben entlastet, damit sie aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt erwirtschaften können. Sie brauchen, das kam heute auch sehr deutlich heraus, Anerkennung für ihre Leistungen. Diese Anerkennung muss sich aus meiner Sicht stärker im Steuerrecht und in der Sozialversicherung widerspiegeln. Diese Dinge muss man anpacken.

Vieles wird sich weiter wandeln müssen: Wir brauchen ein zeitgemäßes Verhältnis zwischen Gesellschaft und Familie, zwischen Arbeits- und Familienzeit, zwischen Männern und Frauen, zwischen Alt und Jung, zwischen Flexibilität und Sicherheit.

Die Vorschläge, die heute im Laufe der Konferenz zu hören waren, sind vielfältig und hilfreich. Und wir haben festgestellt, einen Masterplan gibt es nicht - jedenfalls nicht in dem Sinne, dass wir jetzt auseinander gingen und genau und abschließend wüssten, was zu tun ist. Aber zweierlei ist klar.

Erstens: Wir haben es auf vielen Gebieten nicht mit Erkenntnis-, sondern mit Umsetzungsproblemen zu tun. "Reformfragen sind Machtfragen", sagte vorhin Kurt Biedenkopf und er hat Recht. Ich kann nur jeden ermuntern, gezielt zu fragen: Wer bremst? Warum? Und was können wir tun, um die Bremsen zu lösen? Vielleicht bilden sich ja da ganz neue Koalitionen, nicht nur im Sinne von Parteifarben.

Und zweitens: Einige Bremsen sind bereits gelöst, viel ist in Bewegung gekommen, viel Gutes geschieht. Lassen Sie uns das weitersagen und dafür sorgen, auf allen Ebenen, dass die guten Beispiele Schule machen. Der Oberbürgermeister der Stadt Jena ist einer von denen, die an dem Thema dran sind, und es gibt auch noch ungezählte andere, in meinem Heimatland Baden-Württemberg zum Beispiel und in allen Teilen Deutschlands.

Oft können schon einfache Maßnahmen das Bewusstsein schärfen und zum richtigen Handeln anregen - und genau das brauchen wir: Eine neue Einstellung zu Familie und zu Kindern in unserem Land. Die jungen Leute haben deutlich gemacht, Familie ist "in", Familie ist nicht "out" - das kann uns Älteren ja Mut machen.

Ich bitte Sie deshalb auch: Sorgen Sie als Kommunalpolitiker dafür, dass die Belange von Familien und Kindern mitbedacht werden. Kurt Biedenkopf hat das Subsidiaritätsprinzip angesprochen, ein Prinzip, von dem ich mir wünschte, dass es ganz generell in der Politik viel mehr Beachtung bekäme, ob in der Bundespolitik, in den Ländern, Gemeinden, oder in der Europapolitik. Vor Ort entsteht das, was manche als familiennahe Netzwerke bezeichnen - und diese Netzwerke brauchen wir.

Wir sollten aber nicht versuchen, die Familie zu instrumentalisieren, nicht fragen, wie muss sie aussehen, damit die Menschen in der Firma, am Arbeitsplatz funktionieren, sondern wir müssen umgekehrt fragen, wie die Unternehmen dazu beitragen könnten, dass familiäre Netzwerke, diese subsidiären Netzwerke, funktionieren, dass sie eine Grundlage haben und unterstützt werden. Sorgen Sie als Arbeitgeber dafür, dass Familienfreundlichkeit nicht nur ein Thema in Imagebroschüren Ihres Unternehmens ist, sondern alltägliche gelebte Praxis.

Mitarbeiter, die Familie und Beruf gut vereinbaren können, sind nämlich gute Botschafter von Unternehmenskultur, von moderner Unternehmenskultur. Ich fand es gut, wie Herr Rausch als Vertreter eines großen Unternehmens vorhin deutlich gemacht hat, wie sich die Firma ganz praktisch auf den demographischen Wandel einstellt. Das ist vielleicht noch nicht genug, aber es ist ein Anfang. Schließlich haben wir - trotz millionenfacher Arbeitslosigkeit - in ganz bestimmten Bereichen, z. B. bei Ingenieuren, schon jetzt einen eklatanten Mangel an Mitarbeitern, und man muss einfach jedem Unternehmer sagen, fang ja nicht zu spät an, dich auf diese strukturellen Veränderungen einzustellen und die künftige Personalpolitik danach auszurichten. Ich glaube, dass Firmen, die sich darauf rechtzeitig besinnen, nicht nur sich selber und ihrem Unternehmen dienen, sondern letztendlich auch gesellschaftliche Verantwortung beweisen.

Lassen Sie uns alle daran mitwirken, dass wir keine "kinderentwöhnte" Gesellschaft werden, wie es Professor Kaufmann formuliert hat, oder uns zumindest wieder daran gewöhnen, dass Kinder ein selbstverständlicher Teil des gesamten Lebens sind und bleiben.

Ich danke allen, die heute teilgenommen haben, ganz herzlich. Es war eine gute Mischung von Wissenschaftlern, Politikern und Praktikern beisammen. Den Schülern war es ein bisschen zuviel Theorie, zu wenig Praxis. Sicher sollten wir das Thema auch ruhig emotional ansprechen. Doch das Gefühl muss sich für eine dauerhaft gute Politik verbinden mit fachlicher Präzision und wissenschaftlicher Analyse. Wir haben heute gute Beiträge gehört und gesehen. Wir brauchen diese vielfältigen Perspektiven, weil es die eine, allgemeingültige Antwort auf die gestellten Fragen wahrscheinlich nicht gibt, gar nicht geben kann.

Besonders gut fand ich, dass auch Sie, liebe Schülerinnen und Schüler, heute dabei waren, vielen Dank dafür. Bringen Sie bitte weiter praktische, konkrete Fragen oder Vorschläge ein. Ich danke ganz herzlich den Schulleitern. Bitte geben Sie diesen Dank auch an Ihre Kollegen, an die Lehrerinnen und Lehrer, weiter.

Mein Dank geht auch an die Bertelsmann-Stiftung, mit der ich nun schon im zweiten Jahr zusammen arbeite - ich glaube, wir sind auf einem ganz vernünftigen Weg.

Familienpolitik - im Sinne einer Politik, die auf allen Ebenen die Belange der Familie mitdenkt - ist für mich eine unverzichtbare Gestaltungsaufgabe für unser Land. Sie muss noch wichtiger werden. Wenn wir in Deutschland eine gute Zukunft gewinnen wollen, dann müssen wir die Kraft haben, Prioritäten zu setzen. Und die Familienpolitik halte ich - wie auch die Bildungspolitik - für entscheidend wichtig. Mehr noch: Familienpolitik ist für mich eng verbunden mit Bildungspolitik.

Die Talente, die Leistungsfähigkeit und die Lebenschancen der Kinder und Jugendlichen sind der wichtigste Schatz, den wir haben - gerade für eine alternde und schrumpfende Gesellschaft. Bildung entscheidet nicht nur über Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung, sie ist auch Voraussetzung für eine freiheitliche, demokratische und solidarische Gesellschaft. Sie alle wissen, dass wir im Bereich der Bildung einige Herausforderungen vor uns haben. Deshalb wollen wir das kommende Jahr im Forum Demographischer Wandel dem Thema "Bildung und Humanvermögen" widmen.

Heute ist oft beklagt worden, dass in unserer Gesellschaft die Kosten von Kindern privatisiert sind, der Nutzen aber vergesellschaftet wird. Nun kann die Wirtschaftswissenschaft vieles, aber nicht alles erklären. Der Nobelpreisträger Paul A. Samuelson hat schon vor Jahrzehnten gesagt, heutzutage seien Kinder - rein ökonomisch gesehen - eine Fehlinvestition, jedenfalls für ihre Eltern. Da muss selbst ich (als Ökonom) ausnahmsweise sagen: Zum Glück handeln die meisten Menschen in diesem Punkt nicht rational.

Gewiss: Kinder bringen einen um Geld, um Zeit und manchmal auch fast um den Verstand. Aber ebenso gewiss ist für mich: Sie bringen Glück. Und weil das so ist, sollten wir uns sagen: Aller Aufwand für Kinder ist nicht nur eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft, sondern auch und vor allem in Glück und Lebenssinn und in eine gute Zukunft unseres Landes.

Herzlichen Dank, dass Sie daran mitwirken wollen.