Bundespräsident Horst Köhler im Gespräch mit dem SPIEGEL. Die Fragen stellten Stefan Aust, Jan Fleischhauer und Gabor Steingart.

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 30. Dezember 2006

Bundespräsident Horst Köhler sitzt mit Stefan Aust und Gabor Steingart am Besuchertisch in seinem Amtszimmer; auf dem Tisch ein Adventskranz.

SPIEGEL:Herr Bundespräsident, die Große Koalition reibt sich an Ihnen. Der Präsident nervt, heißt es bis hinauf in dieSpitzen der Regierungsfraktionen. Erleben wir nun das Unbequem-Sein, dasSie zu Beginn Ihrer Amtszeit angekündigt hatten?
Horst Köhler:Ich habe gesagt, ich werde offen sein und notfalls unbequem. Das war meine Einstellung von Anfang an, und das wird auch so bleiben.

SPIEGEL:Sie haben gerade zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen die Unterschrift unter ein Gesetz verweigert, das Ihnen zur Ausfertigung vorgelegt wurde. Die Situation ist mit dem Wort "notfalls" genügend gekennzeichnet?
Horst Köhler:Das Verbraucherinformationsgesetz, auf das Sie sich beziehen, wurde mir im Oktober zur Ausfertigung zugeleitet. Ich habe es sorgfältig geprüft. Dabei stellte sich heraus, dass dieses Gesetz nicht mit den Vorschriften des Grundgesetzes im Einklang stand. Deshalb war ich an der Ausfertigung gehindert.

SPIEGEL:Es gibt in diesem Fall verschiedene Rechtsstandpunkte, sagt die Bundeskanzlerin. Auch die Regierung habe das Gesetz sehr sorgfältig prüfen lassen, ohne dass verfassungsrechtliche Bedenken vorgebracht wurden. Wie zwingend war die Ablehnung?
Horst Köhler:Im Zuge der Föderalismusreform sind im September Änderungen des Grundgesetzes in Kraft getreten. Seither darf der Bund keine Aufgaben mehr an die Kommunen übertragen, genau dies aber sah das Gesetz vor. Die Bundesregierung konnte die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht ausräumen. Damit war die Lage klar.

SPIEGEL:Fällt es Ihnen schwer, einem Gesetz die Unterschrift zu verweigern?
Horst Köhler:Das macht keine Freude. Und ich weiß, dass die Bundesregierung und der Gesetzgeber nicht das Grundgesetz absichtlich unterlaufen wollen.

SPIEGEL:Karlsruhe sei die richtige Instanz, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu klären, nicht der Bundespräsident, sagen Regierungsvertreter.
Horst Köhler:Nach meinem Amtsverständnis hat der Bundespräsident nicht nur ein Prüfungsrecht, sondern auch eine Prüfungspflicht. Er ist nach dem Grundgesetz Teil des Gesetzgebungsverfahrens. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon vor langer Zeit bestätigt. Im Übrigen ist der Weg nach Karlsruhe offen, auch wenn der Bundespräsident ein Gesetz nicht unterschreibt.

SPIEGEL:Wir erleben also einen selbstbewussten und damit auch machtbewussten Präsidenten.
Horst Köhler:Einen pflichtbewussten. Mir geht es um die Treue zum Grundgesetz. Der Bundespräsident ist kein Unterschriftenautomat. Von den Bürgern wird erwartet, dass sie sich an die Gesetze halten. Dann sollten sie sich auch darauf verlassen können, dass der Bundespräsident prüft, ob die Gesetze nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen sind.

SPIEGEL: Verbirgt sich hinter Ihrer Weigerung auch die Einschätzung, dass in einer Großen Koalition, die sich immer einer übermächtigen parlamentarischen Mehrheit gewiss sein kann, eher nachlässig, vielleicht sogar schlampig regiert wird?
Horst Köhler:Gesetze regeln oft komplexe Sachverhalte. Das bringt viele technische Schwierigkeiten mit sich. Und nicht selten kommen Gesetze leider auch unter erheblichem Zeitdruck zustande, das erhöht Fehlerrisiken. Aber für eine solide Gesetzgebung ist Sorgfalt ein zwingendes Gebot.

SPIEGEL: Die Direktorin des Instituts für Steuerrecht an der Universität Köln Johanna Hey hat neulich vorgerechnet, dass heute 20 Prozent aller Gesetze dazu dienen, Vorgängergesetze zu reparieren. Das ist doch keine akzeptable Zahl.
Horst Köhler:Ich weiß nicht, ob diese Rechnung stimmt. Allerdings will ich auch nicht verhehlen, dass ich mich wundere, wenn mir zum Beispiel ein Gesetz vorgelegt wird, für das bereits ein Korrekturgesetz in Arbeit ist. Ich denke dann an die Bürger, die das alles verstehen sollen.

SPIEGEL: Das heißt, Sie unterzeichnen viele Gesetze, die Sie eigentlich für unzulänglich halten?
Horst Köhler:Ich frage mich, ob wir nicht auch einen Blick auf die Gesetzgebungskultur werfen sollten, wenn wir uns auf die Suche nach den Ursachen für die Distanz zwischen Bürgern und Politik machen. Gründlichkeit und Transparenz sollten jedenfalls selbstverständliche Standards in der Gesetzgebung sein.

SPIEGEL: Es gibt die Auffassung, dass dem Bundespräsidenten in Ermangelung einer ernsthaften, starken Opposition in einer Großen Koalition eine besondere Rolle zukommt, dass er also eine Kontrollfunktion ausübt, die er sonst so nicht hätte.
Horst Köhler:Das Institutionengefüge hat Bestand unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament. Und die Opposition, das ist auch in Zeiten einer Großen Koalition die Opposition im Bundestag. Wenn im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens dem Bundespräsidenten mehr Arbeit auf den Tisch gelegt wird, weiche ich dieser Arbeit nicht aus.

SPIEGEL: Kann es auch umgekehrt sein, dass dem Bundespräsidenten bei einer Großen Koalition der Wind besonders scharf ins Gesicht weht, wenn er sich kritisch zur politischen Arbeit äußert?
Horst Köhler:Der Bundespräsident muss sein Amt pflichtgetreu und glaubwürdig ausüben. Er hat einen Amtseid geleistet. Windmessungen überlasse ich anderen.

SPIEGEL: Sie sagen, Sie weichen der Arbeit nicht aus. Sie haben sich aber auch zusätzlich Arbeit aufgehalst. Anlässlich des CDU-Parteitages in Dresden äußerten Sie sich sehr kritisch zu einem Vorschlag des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere zu erhöhen. Haben Sie sich da nicht zu weit ins politische Tagesgeschäft vorgewagt?
Horst Köhler:Arbeitslosigkeit ist das soziale Grundproblem in Deutschland. Und diese Arbeitslosigkeit hat sich auch aufgrund von politischen Versäumnissen über Jahrzehnte aufgebaut und verfestigt. Mit der Reformpolitik der vergangenen Jahre war eine arbeitsmarktpolitische Kurskorrektur verbunden, die jetzt zu wirken beginnt. Dazu hat auch der Paradigmenwechsel bei der Auszahlung des Arbeitslosengeldes beigetragen. Für mich ging es nicht ums Tagesgeschäft, sondern es geht um Stetigkeit und Beharrlichkeit, damit wir den Durchbruch zu mehr Beschäftigung schaffen.

SPIEGEL: Steckt dahinter eine generelle Kritik an Tempo und Tiefe des Reformprozesses in Deutschland?
Horst Köhler:Wir schaffen kein Vertrauen, wenn wir zwei Schritte vor und anschließend wieder einen oder zwei zurück machen.

SPIEGEL: Ist das Reformtempo nach der Wahl unter der Großen Koalition schneller oder langsamer geworden?
Horst Köhler:Die Große Koalition hat vor allem mit der Föderalismusreform und der Rente mit 67 Handlungsfähigkeit bewiesen. Damit knüpft sie an die historisch wichtige Kurskorrektur der früheren Bundesregierung an, die unter dem Titel Agenda 2010 stand. Ich halte diese Linie für richtig.

SPIEGEL: Wird sie genügend fortgesetzt?
Horst Köhler:Es ist zu früh für ein endgültiges Urteil.

SPIEGEL: Da sind Sie also noch nicht überzeugt?
Horst Köhler:Die notwendige grundlegende Erneuerung Deutschlands haben wir noch nicht geschafft. Da stehen wir erst am Anfang. Wir haben allen Grund, uns über den starken Wirtschaftsaufschwung zu freuen. Vor allem die deutsche Industrie hat ihre Wettbewerbsfähigkeit deutlich verbessert. Das ist aber kein Grund, sich schon wieder zurückzulehnen.

SPIEGEL: Im Augenblick muss man den Eindruck haben, dass die guten Wirtschaftszahlen eher zur Selbstzufriedenheit der politischen Klasse beitragen.
Horst Köhler:Das ist Ihre Benotung. Ich sage, wir sollten den Aufschwung nutzen, um weiter voranzukommen: zum Beispiel bei der nachhaltigen Absenkung der Lohnnebenkosten, bei der Neugestaltung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern und bei einer nationalen Kraftanstrengung für Bildung sowie Forschung und Entwicklung. Im Aufschwung steckt eine Chance für alle.

SPIEGEL: Auch für die Armen in Deutschland? Ausweislich einer gerade vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Studie leben Millionen unterhalb der Armutsgrenze.
Horst Köhler:Wenn wir weniger Langzeitarbeitslose hätten, gäbe es auch weniger Armut in Deutschland. Wir haben einfach zu lange darüber hinweggeschaut, dass da inzwischen Millionen Menschen in einer Situation verharren, in der sie für sich keine Perspektive sehen oder nicht mehr sehen wollen.

SPIEGEL: Aber können Sie eine Kraftanstrengung der Politik erkennen, daran etwas grundlegend zu ändern?
Horst Köhler:Ich erkenne viel Bewegung im Land. Den Preis für die beste Schule Deutschlands zum Beispiel bekam eine Grundschule in Dortmund, weil sie für Kinder aus 26 Nationen ein vorbildliches Klima für kreatives Lernen geschaffen hat. Die Schulleiterin hat gesagt, wir brauchen für unsere Schule eine Vision, und wir brauchen Spielraum für eigene, praktische Lösungen vor Ort. Im Grunde lautete ihre Botschaft: Lasst uns bitte machen. Und auf diese Haltung stoße ich überall im Land. Dem Land mangelt es weder an Ideen noch an Bürgern, die bereit sind, sie umzusetzen. Das ist nicht das Problem.

SPIEGEL: Sondern?
Horst Köhler:Der Staat überfordert sich selbst mit dem Anspruch, dem Einzelnen jedes Risiko und jede Unsicherheit abzunehmen. Ich finde, die Menschen sollen Freiheit erfahren und Unterstützung bei der Verwirklichung ihrer eigenen Ideen erleben. Damit können wir am besten Kreativität mobilisieren. Deshalb ist es zum Beispiel auch richtig, den Weg vom betreuenden und nachsorgenden Sozialstaat hin zum vorsorgenden - ich sage lieber - investiven Sozialstaat zu gehen. Das ist für mich ein Sozialstaat, der den Menschen vor allem Chancen eröffnet, der aber auch ihre Verantwortung sieht.

SPIEGEL: Muss man dann nicht aber auch über die Höhe staatlicher Transferleistungen reden? Was das verfügbare Einkommen angeht, gibt es keinen großen Unterschied zwischen einem Arbeitslosen und demjenigen, der in einer der unteren Lohngruppen arbeitet, ein Umstand, den die Experten seit Jahren bemängeln.
Horst Köhler:Derjenige, der arbeitet und auch Arbeit unter schwierigen Bedingungen annimmt, soll besser dastehen als jemand, der von Lohnersatzleistungen lebt. Das sollte auch ein durchgehendes Leitprinzip bei der geplanten Neuordnung des Niedriglohnsektors sein.

SPIEGEL: Armut beginnt laut den jetzt vorgelegten Zahlen im Falle einer vierköpfigen Familie in Deutschland bei einem verfügbaren Einkommen von 1798 Euro netto. Eine Frau, die heute an einer Kaufhauskasse sitzt und mit ihrem Verdienst ihre Familie durchbringt, hat weniger als ein Hartz-IV-Empfänger. Führen wir hier die richtige Diskussion, wenn wir über eine Aufstockung der Lohnersatzleistungen reden?
Horst Köhler:Es ist jedenfalls eine Diskussion, die sich noch nicht genügend der Realität und der Ehrlichkeit verpflichtet sieht. Ich empfinde Hochachtung für die Frau an der Kaufhauskasse. Was sie an Steuern zahlt, finanziert auch den Sozialstaat. Menschen wie sie sollten nicht das Gefühl habenmüssen: Eigentlich ist es ökonomisch irrational für mich, überhaupt noch arbeiten zu gehen.

SPIEGEL: Erwarten Sie von den Bürgern allgemein mehr Kraftanstrengungen?
Horst Köhler:Die große Mehrheit der Bürger strengt sich an, und das verdient alle Anerkennung. Es muss nur klar sein: Es braucht eine große Anstrengung der Gesellschaft insgesamt, unseren Wohlstand zu halten, und eine noch größere, ihn weiter zu steigern. Die Regierung in Dänemark zum Beispiel hat das erkannt. Sie hat eine Strategie formuliert, wie ihr Land aus der Globalisierung bestmöglich Nutzen ziehen kann. Im Vorwort steht, dass es Dänemark gut geht - und genau deshalb sei jetzt der richtige Zeitpunkt, sich für die Zukunft zu wappnen. Die Dänen sagen also: Wenn du stark bist, nutze deine Kraft, um dich auf das Kommende vorzubereiten. Die meisten Reformvorschläge gelten übrigens Forschung und Bildung.

SPIEGEL: In den skandinavischen Staaten, Finnland vorneweg, sind die Sozialausgaben gesunken. Dafür haben diese das Geld in die Bildung investiert.
Horst Köhler:Eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung hat gerade festgestellt, dass wir in Deutschland europaweit an der Spitze stehen bei der Höhe unserer Sozialaufwendungen im Verhältnis zur volkswirtschaftlichen Leistung, aber weit hinten in Bezug auf die Wirksamkeit dieser Aufwendungen. Unsere Sozialpolitik ist demnach in hohem Maße ineffizient. Wir könnten mehr für die Bürger tun, mit den gleichen Ausgaben.

SPIEGEL: Es gibt in Deutschland 26,5 Millionen Empfänger von Transferzahlungen, genauso viele, wie als Beschäftigte in die Sozialkassen einzahlen. Ein Präsidiumsmitglied der CDU hat uns vor kurzem gesagt, dass die Politik der Volksparteien sich zunehmend auf die Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse einzustellen beginnt.
Horst Köhler:Wenn eine Demokratie nur nach dem Gesetz der größeren Zahl funktioniert, trägt sie möglicherweise den Keim ihreseigenen Niedergangs in sich. Deswegen braucht es eben auch politische Führung.

SPIEGEL: "Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wen'gen nur gewesen", sagte einst Friedrich Schiller.
Horst Köhler:Da bin ich ein bisschen optimistischer. So viel Wissen und Informiertheit in der Breite gab es historisch noch nie. Das gibt mir Zuversicht. Es will mir nicht in den Kopf, dass es nicht möglich sein soll, eine Politik zu definieren, bei der ich zwar dem einzelnen Menschen Veränderung zumute, aber doch auch die vernünftige Aussicht habe, dass es hinterher allen insgesamt nachhaltig besser geht.

SPIEGEL:In der Politik hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass mit dem Wort "Reform" keine Wähler zu gewinnen sind. Der Impetus zur Veränderung rückt damit immer weiter in den Hintergrund.
Horst Köhler:Das wäre schlecht, denn wir können vieles nur bewahren, wenn wir auch vieles ändern. Im Gespräch mit den Bürgern kann ich nicht erkennen, dass man mit dem Thema Reform von vornherein scheitern muss. Aber man braucht überzeugende Erklärungen, was sich warum in Deutschland ändern sollte, was der weltweite Wandel für uns bedeutet, und welche Chancen er für uns birgt. Die meisten Bürger wollen Ehrlichkeit und können sie auch verkraften, selbst wenn sie mit Zumutungen verbunden ist. Sie sagen mir: "Es muss gerecht zugehen, dann machen wir auch mit." Und mit Gerechtigkeit meinen sie nicht das kleinliche Berechnen kurzfristiger Vor- und Nachteile, sondern sie meinen: Gerechtigkeit bei den Chancen. Also: Die Leute können mit Freiheit umgehen, und vernunftbegabt sind sie auch.

SPIEGEL: Stimmt der Eindruck, dass Sie in letzter Zeit verstärkt das Gefühl hatten, Sie müssten als Bundespräsident etwas deutlicher werden?
Horst Köhler:Ich finde, die Bürger haben ein Recht zu wissen, was der Bundespräsident über bestimmte Dinge denkt.

SPIEGEL: Derzeit bewegen auch eine Reihe von schwerwiegenden außenpolitischen Fragen die Bürger. Vor allem die Türkei sorgt für Unmut, die ihre Häfen nicht für das EU-Land Zypern öffnen will. Ist die Türkei für Sie ein europäisches Land?
Horst Köhler:Geografisch liegt nur ein Zipfel der Türkei auf dem europäischen Kontinent, und überwiegend gehört das Land einem anderen Kulturkreis an.

SPIEGEL: Was bedeutet das für die Frage eines Beitritts zur Europäischen Union?
Horst Köhler:Dass die Beschlusslage der europäischen Staats- und Regierungschefs weiter gilt, nämlich mit der Türkei über einen Beitritt zu verhandeln, ergebnisoffen.

SPIEGEL: Dabei bleibt es?
Horst Köhler:Das wäre mein Rat. Die Verhandlungen werden dabei noch viele Jahre dauern. Ein Blick auf die Krisenherde der Welt und besonders im Nahen Osten zeigt, dass es nicht im Interesse Deutschlands und Europas ist, wenn sich die Dinge dort noch mehr komplizieren. In jedem Fall sollten wir peinlich darauf achten, dieses große und wichtige Land nicht vor den Kopf zu stoßen.

SPIEGEL: Der deutsche Bundeswehreinsatz in Afghanistan ist in die Kritik geraten. Deutschland hat sich festgelegt, im Norden zu bleiben und nicht in den umkämpften Süden zu gehen, zumindest nicht mit Bodentruppen. Einige Nato-Partner haben sehr deutlich gemacht, dass sie das nicht akzeptabel finden. Ist das eine kluge oder eher eine ärgerliche Entscheidung des deutschen Parlaments?
Horst Köhler:Die Bundeswehr ist mit gutem Grund eine Parlamentsarmee. Deshalb habe ich diese Entscheidung nicht zu bewerten. Für mich wirft die Situation in Afghanistan eine grundsätzlichere Frageauf, nämlich: was wollen wir eigentlich mit dem Nordatlantikpakt? Die Nato ist das Bündnis des Westens. Ich glaube, dieses Bündnis sollte nach innen gestärkt, ja revitalisiert werden. Das verlangt aber auch eine Neugewichtung zwischen den militärischen und den politischen Aufgaben der Nato.

SPIEGEL: Die Deutschen müssen das Töten lernen, wurde dem Koordinator der deutsch-amerikanischen Beziehungen Karsten Voigt kürzlich bei einem Washington-Besuch gesagt. Stimmt das?
Horst Köhler:Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr immer auch um Leben oder Tod gehen kann. Und es muss unser Interesse sein, dass militärischen Einsätzen immer eine Friedenslogik übergeordnet ist. Die Menschen in Afghanistan müssen also erkennen können, dass die Anwesenheit fremder Soldaten einer besseren Zukunft für sie selbst dient. Die Bundeswehr hat dies mit ihrer Unterstützung der zivilen Aufbauarbeit etwa bei Schul- und Straßenbau gut vermittelt. Aber hierüber muss in der Nato insgesamt Klarheit geschaffen werden.

SPIEGEL: Können wir noch gewinnen?
Horst Köhler:Es hängt davon ab, wie wichtig uns eine wirksame internationale Stabilitätspolitik ist, die über das Militärische hinausreicht. Politisch ist es geboten, dass sich der Westen darüber klar wird, welche Rolle Afghanistan für weitergehende Fragen internationaler Stabilität spielt.

SPIEGEL: Die westliche Interventionspolitik hat einen eindeutig militärischen Schwerpunkt ...
Horst Köhler:... was ich kritisch sehe. Das militärische hat leider das zivile Element zunehmend überlagert. Dabei liegt für Afghanistan seit 2001 ein integriertes Konzept für den Wiederaufbau vor, und Deutschland war daran maßgeblich beteiligt. Ich weiß, wie schwierig die Umsetzung dieses Konzepts gerade im Süden ist. Ein zentrales Problem bleibt der Mohnanbau. Bis heute hat niemand einen Plan entwickelt, wie zum Beispiel den Drogenbaronen Einhalt geboten werden kann.

SPIEGEL: Sie plädieren also für einen Neuanfang?
Horst Köhler:Ich glaube, wir benötigen einen integrierten Ansatz mit einem entwicklungspolitischen und einem diplomatischen Überbau. Das Militärische ist dann nur noch ein Element einer Gesamtstrategie und kann im Erfolgsfall zunehmend in den Hintergrund treten. Die Erneuerung der Nato sollte dahingehen, Friedenspolitik stärker als Entwicklungspolitik zu definieren. Das erfordert auch eine enge Zusammenarbeit zwischen Nato und Vereinten Nationen. Wenn das Bündnis eine solche Zielsetzung glaubwürdig und mit Nachdruck vermittelt, dann gibt es Hoffnung für einen Neuanfang im Verhältnis zwischen dem Westen und den anderen Nationen der Welt.

SPIEGEL: Ist so auch dem Irak-Schlamassel zu entkommen?
Horst Köhler:Die Grundaussage, dass ohne entwicklungspolitische Dimension, die glaubwürdig am Wohlergehen der Bevölkerung ausgerichtet ist, kein militärischer Einsatz mehr vielversprechend ist, gilt für den Irak genauso wie für Afghanistan.

SPIEGEL: Hat nicht derjenige, der von vornherein seine Teilnahme ausschließt, sein Recht verwirkt, in der Irak-Debatte das große Wort zu führen?
Horst Köhler:Ich glaube nicht, dass irgend jemand in Deutschland oder Europa hier das große Wort führen will. Es wird im Westen insgesamt darum gehen, gemeinsame politische Ziele zu definieren und dann Zusammenarbeit zu organisieren. Eine Haltung, die da heißt: wer es sich eingebrockt hat, muss es auch allein auslöffeln, ignoriert Problemvernetzungen und langfristige deutsche und europäische Interessen.

SPIEGEL: Das ist die Haltung in großen Teilen der SPD.
Horst Köhler:Das ist nicht mein Eindruck. Ich glaube, die Europäer haben den Amerikanern Erfahrung bei der Begegnung mit anderen Kulturen voraus. Das wird zunehmend erkannt. Und die Erfahrung von Transformation haben wir in der Europäischen Union selbst gemacht. Das kann doch hilfreich sein.

SPIEGEL: Viele gehen davon aus, dass ein aggressiver Islam keinerlei Aussöhnung sucht. Eine Fehleinschätzung?
Horst Köhler:Ich glaube, dass die Menschen im Nahen und Mittleren Osten dem Grundsatz nach dasselbe wünschen wie die Menschen bei uns: dass sich das Leben lohnt. Nur wer nichts zu verlieren hat, ist empfänglich für Extremisten. Das geht über das Religiöse weit hinaus. Der Bevölkerungswissenschaftler Gunnar Heinsohn aus Bremen sieht zum Beispiel nicht so sehr in einem aggressiven Islam das größte Konfliktpotential, sondern in dem raschen Anwachsen einer perspektivlosen Jugend in vielen arabischen Ländern.

SPIEGEL: Ihre Schlussfolgerung?
Horst Köhler:Ein Grundpfeiler jeder sinnvollen Strategie des Westens lautet für mich, jedem Bürger dieser Völker das Gefühl zu geben: Wir wollen, dass auch er die Möglichkeit hat, frei von Not und Furcht zu leben. Wenn es gelingt, in dieser Frage Glaubwürdigkeit zu gewinnen, dann trocknet den Fundamentalisten der Nährboden aus.

SPIEGEL: Schauen wir nach Russland: Wie ist Ihr Blick heute auf einen Staat, der im Moment vor allem dadurch auffällt, dass er brutale Methoden gegenüber den Kritikern des Präsidenten anwendet?
Horst Köhler:Russland ist ein bedeutendes Land mit ganz eigener Kultur und Geschichte. Wir haben allen Grund, dieses Land mit Respekt und großer Aufmerksamkeit zu behandeln. Deshalb müssen wir dennoch Menschenrechtsfragen oder Mordfälle wie in der jüngsten Vergangenheit offen ansprechen. Es wird aber möglicherweise noch lange dauern, bis wir sagen können ...

SPIEGEL: ... das sind lupenreine Demokraten.
Horst Köhler:Die russische Demokratie wird möglicherweise nie ganz unseren Vorstellungen entsprechen. Das ist aber auch nicht zwingend für eine gute Zusammenarbeit.

SPIEGEL: Ist Präsident Wladimir Putin eher ein Opfer der Umstände oder einer der Drahtzieher hinter den jüngsten Turbulenzen?
Horst Köhler:Ich verfüge nicht über Informationen, die über das hinausgehen, was auch Ihnen zugänglich ist. Ich kann Ihnen aber sagen, wie ich Präsident Putin bei früheren Begegnungen erlebt habe: als einen außerordentlich sachkundigen Politiker mit der Fähigkeit, sich auf das Nächstliegende zu konzentrieren. Und das war am Ende der 90er Jahre zunächst einmal die Wiederherstellung von staatlicher Ordnung und Handlungsfähigkeit. Später erlebte ich ihn auch als ernsthaften Reformer mit wachsendem machtpolitischen Selbstbewusstsein.

SPIEGEL: Putin, der Gute?
Horst Köhler:Das Verhältnis, das die russische Führung bisweilen etwa zu Pressefreiheit oder zu anderer Leute Eigentum entwickelt, kann man kritisch beurteilen. Das veranlasst mich aber nicht, mich an Spekulationen und Verdächtigungen zu beteiligen, die darüber weit hinausgehen.

SPIEGEL: Nochmals unsere Frage: Putin ist aus Ihrer Sicht also ein Opfer, kein Täter?
Horst Köhler:Manche sagen, was wir derzeit erleben, sei bereits Teil des Machtkampfes um die Nachfolge des Präsidenten. Ich weiß es nicht. Es ist richtig, dass Außenminister Steinmeier die russische Führung aufgefordert hat, eine rasche Aufklärung der jüngsten Morde an Kritikern der Regierung herbeizuführen.

SPIEGEL: Nun ist Russland ein Land, mit dem wir eine Art Energiepartnerschaft eingehen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier denkt sogar an eine europäisch-russische Freihandelszone. Sind das Überlegungen, die Sie teilen?
Horst Köhler:Wir müssen konstruktiv mit Russland sprechen. Ich finde, der Bundesaußenminister verfolgt eine vernünftigeLinie.

SPIEGEL: Auch Sie sind Präsident, aber einer mit sehr eingeschränkter Machtbefugnis. Guckt man da bewundernd auf einen Präsidenten wie Putin?
Horst Köhler:I wo. Ich bin unserem Land und seinem Grundgesetz treu. Und ich glaube, dass Deutschland in den vergangenen 60 Jahren demokratische Reife und politische Statur gewonnen hat.

SPIEGEL: Und das wird uns vom Ausland gutgeschrieben?
Horst Köhler:Draußen in der Welt haben die Deutschen einen guten Ruf. In Afrika und Lateinamerika sagen die Leute: Ihr seid leistungsfähig. Ihr seid fair. Jetzt sagen die Leute sogar in London und New York: Ihr habt Humor. Das zeigt mir: Das Land ist auf einem guten Weg.

SPIEGEL: Herr Bundespräsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.