Gemeinsamer Beitrag von Bundespräsident Horst Köhler, des Präsidenten der Portugiesischen Republik, Aníbal Cavaco Silva, und des Präsidenten von Slowenien, Janez Drnovsek, in der Frankfurter Rundschau

Schwerpunktthema: Rede

21. März 2007

Europafahne

Am 1. Januar 2007 haben Deutschland, Portugal und Slowenien die erste Trio-Präsidentschaft in der Geschichte der Europäischen Union übernommen. Sie bilden damit ein auf anderthalb Jahre angelegtes Team. Gleichzeitig nehmen sie ihre Ratspräsidentschaft jeweils in eigener Verantwortung wahr. Die Trio-Präsidentschaft sichert Kontinuität, ermöglicht langfristige Planung und erleichtert die konsequente Umsetzung eines gemeinsamen Arbeitspro­gramms. Unsere Trio-Präsidentschaft ist Ausdruck von Einheit in Vielfalt in Europa.

In wenigen Tagen begehen wir in Berlin feierlich die 50. Wiederkehr der Unterzeichnung der Römischen Verträge, mit denen die Grundlage für unsere heutige Europäische Union gelegt wurde. Seit ihrer Unterzeichnung ist mit der Europäischen Union ein großes Werk des Friedens, des wirtschaftlichen und sozialen Wohlstands, der Festigung der Demokratie und der Förderung der Menschenrechte geschaffen worden. Uns Europäer einen die selben Wertvorstellungen. Dieses verbindende Verständnis der Zugehörigkeit zu Europa, seiner Kultur, seinen Traditionen und seiner Identität hat es uns in den vergangenen 50 Jahren ermöglicht, einen festen institutionellen Rahmen - die Europäische Union - zu schaffen und ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Gleichzeitig haben Erzeuger und Verbraucher in Europa mit dem Binnenmarkt und der Wirtschafts- und Währungsunion in einer immer stärker globalisierten Welt einen großen Heimatmarkt bekommen.

Die Europäische Union ist für andere Länder und Regionen zum Modell geworden: Die erfolgreiche Verbindung von Marktfreiheit mit individueller Verantwortung und mit sozialem Ausgleich wird weltweit bewundert. Seit ihrer Gründung durch sechs Länder hat sich die Europäische Union auf 27 Mitgliedstaaten erweitert. Weitere Staaten wollen dazu kommen. Auch ihr Integrationsmodell dient anderen Teilen der Welt als Inspiration. Die Afrikani­sche Union etwa erinnert nicht nur in ihrem Namen an die Europäische Union. Auch ihr institutioneller Aufbau orientiert sich an dem der Europäischen Union.

Doch täuschen wir uns nicht: Am Beginn des 21. Jahrhunderts stehen Europa und die Euro­päer vor enormen neuen Herausforderungen:

- ökonomisch, weil nach dem Ende des Kalten Krieges die Weltwirtschaft zunehmend ver­flochten ist und inzwischen Milliarden Menschen zusätzlich mit Fleiß und Ideenreichtum am weltweiten Wettbewerb um Arbeit und Einkommen teilnehmen;

- ökologisch, weil der Klimawandel und seine Auswirkungen wie Wasserknappheit, Dürren und Überschwemmungen auch die Lebensgrundlagen in Europa verändern und der globalen Erwärmung nur mit einer globalen Anstrengung, insbesondere seitens der Industrieländer, begegnet werden kann;

- kulturell. Die Wahrung und Förderung der kulturellen Vielfalt gehören von jeher zu den ehernen Grundsätzen der Gemeinschaft. Andererseits hat der Dialog der Kul­turen im Zeitalter der Globalisierung eine inhaltliche Wendung genommen. Die anderen fragen: Für welche Werte steht Ihr Europäer? Was ist Euch wirklich wichtig? Was erwartet Ihr von uns, und was können wir von Euch erwarten?

-Und weil Europa eine wichtige Rolle bei der Erhaltung des Weltfriedens spielt und wir fragen müssen, wie Europa diese Rolle erfolgreich ausfüllen kann.

Europa wird nur dann sein Gesellschaftsmodell bewahren und ein Vorbild für andere bleiben können, wenn es uns Europäern gelingt, sich auf die neuen Bedingungen des 21. Jahrhunderts einzustellen. Das Institut für Weltwirtschaft in Budapest hat festgestellt, dass Europa 700 Jahre lang zu den Wachstumszentren der Welt gehörte. Wenn wir diese Rolle behalten wollen, müssen wir wieder ein Zentrum für Innovation, Investition und wirtschaftliche Dynamik werden. Das europäische Modell muss seine Bedeutung für die Welt durch wirt­schaftliche und innovative Stärken beweisen.

So erfreulich die gegenwärtige wirtschaftliche Belebung in Europa ist, sie wird nur dann Bestand haben, wenn die notwendigen Strukturreformen - auf Gemeinschaftsebene, aber in erster Linie auf Ebene der Mitgliedstaaten glaubwürdig angepackt werden.

Die Lissabon-Strategie hat die richtigen Ziele benannt. Damit Europa wettbewerbsfähig bleibt, brauchen wir vor allem Investitionen in Bildung sowie Forschung und Entwicklung.

Europa ist mit 480 Millionen Menschen der größte Binnenmarkt der Welt, davon haben mehr als 300 Millionen eine gemeinsame Währung. Der Euro ist zur zweitwichtigsten Währung der Welt geworden. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist eine der Antworten Europas auf die Globalisierung.

Aber man muss auch feststellen, Europa ist an vielen Stellen noch kein einheitlicher Wirt­schaftsraum. Zur Vollendung des Binnenmarktes sind weitere Anstrengungen notwendig. Dabei muss die Öffnung noch geschützter Märkte im Vordergrund stehen. Die Liberalisierung der Märkte für Strom und Gas bleibt ein wichtiges Ziel. Hier sollte es keine falsch verstande­nen nationalen Interessen geben. Ein wirklicher Binnenmarkt in Europa, zusammen mit einer bewährten Sozial- und Kohäsionspolitik, hat langfristig für alle Mitgliedstaaten mehr Vorteile. Er macht Europa fit für den weltweiten Wettbewerb. Die gemeinsame Wäh­rung allein garantiert noch keine störungsfreie Wirtschaftsentwicklung.

Wenn die Union als einer der Hauptakteure auf der internationalen Bühne wahrge­nommen werden will, muss sie sich wie ein solcher verhalten. Dazu gehört ein breites Spektrum internationaler Beziehungen, die bei unseren Nachbarn in Osteuropa und im Mittelmeerraum beginnen. Im letzten Sommer haben uns - wie schon in den Jahren davor - Bilder entsetzt und tief berührt: völlig erschöpfte Männer, Frauen und Kinder aus vielen afri­kanischen Ländern, die sich auf den Weg nach Europa gemacht hatten und die verzweifelt ums Überleben kämpften. Diese Bilder zeigen: das Schicksal unseres Nachbarkontinents kann uns nicht gleichgültig sein. Europas Zukunft ist mit der Zukunft Afrikas eng verbunden. Des­halb brauchen wir einen offenen und gleichberechtigten Dialog mit Afrika. Wir müssen end­lich anfangen mit Afrika zu sprechen, und nicht nur über Afrika.

Die Europäische Union hat sich auf den Weg gemacht. In ihrer Afrika-Strategie aus dem Jahr 2005 trägt sie der Tatsache Rechnung, dass sich die politischen Rahmenbedingungen in Afrika insgesamt verbessert haben. Sie unterstützt die Afrikanische Union in deren Bemü­hungen, die Angelegenheiten des Kontinents selbst in die Hand zu nehmen.Die Europäische Union ist als Vermittler in Krisen von Côte d'Ivoirebis Darfur aktiv. Gerade die Mission in Darfur sollte ein Zeichen der Hoffnung für die afrikanischen Länder sein. Frieden und Stabi­lität in Sudan und anderswo in Afrika sind Voraussetzungen für wirtschaftlichen Fortschritt, auf den die Menschen in vielen afrikanischen Ländern schon so lange warten.

Europa und Afrika haben viele gemeinsame Themen, über die sich zu sprechen lohnt. Doch beim Gespräch allein darf es nicht bleiben: konkretes Handeln ist gefragt. Zum Beispiel bei der Öffnung der westlichen Märkte für afrikanische Produkte. Wir hoffen auch sehr, dass der im zweiten Halbjahr 2007 geplante Gipfel der europäischen und afrikanischen Staats- und Regierungschefs ein Erfolg wird. Deutschland und Portugal werden alle Anstrengungen unternehmen, um gute Voraussetzungen für sein Gelingen zu schaffen.

In Afrika, in Nairobi, hat im November 2006 die Internationale Klimakonferenz stattgefun­den. Im März jährt sich zum fünften Mal der Tag, an dem die Umweltminister der Euro­päischen Union grünes Licht für das Kyoto-Protokoll zum weltweiten Klimaschutz gegeben haben. Aktuelle wissenschaftliche Studien belegen, dass sich das Klima bis zum Ende dieses Jahrhunderts so schnell verändern wird wie noch nie. Wir müssen erkennen: Der Klimawan­del findet nicht in ferner Zukunft statt, er ist bereits Realität. Deshalb ist entschiedenes Han­deln gefragt. Die massive Verminderung der klimaschädlichen CO2-Emissionen ist kein Ziel, das wir auf die lange Bank schieben können. Die Europäische Union muss umgehend die Weichen stellen für ein zukünftiges internationales Klima-Regime. Nur wenn die EU auf diese Weise eine glaubwürdige Vorreiterrolle in der Klimapolitik übernimmt, können wir auch andere Staaten mit hohen Emissionen dazu bewegen, ihre Treibhausgase zu verringern. Das gilt insbesondere für Schwellenländer wie Indien und China, aber auch für Afrika, das mit Recht darauf hinweist, dass der weit überwiegende Teil der Umweltbelastung auf der nördlichen Halbkugel erzeugt wird.

Konsequenter Klimaschutz ist übrigens nicht nur ein Gebot der ökologischen, sondern gerade auch der ökonomischen Vernunft. Allein die volkswirtschaftlichen Folgen eines unge­bremsten Klimawandels wären immens. Bis zu 20 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts könnten wir einbüßen, wenn wir weitermachen wie bisher, befürchtet der britische Ökonom Nicholas Stern in seiner Studie vom Herbst 2006. Demgegenüber sind die Kosten eines akti­ven Handelns zugunsten eines wirksamen Klimaschutzes gering, etwa ein Prozent des Bruttosozialprodukts wären nötig. Der weltweite Energieverbrauch nimmt ständig zu. Allein in China ist er in den vergangenen drei Jahren um zwei Drittel gestiegen. Mit steigender Nachfrage verteuern sich die fossilen Brennstoffe. Viele Unternehmen sorgen sich angesichts langfristig steigender Energiepreise um ihre Wettbewerbsfähigkeit. Einige Entwicklungslän­der geben mittlerweile 80 Prozent ihrer Devisen nur für Energieimporte aus - da fehlen zunehmend Mittel für die so dringliche Armutsbekämpfung. Es zeugt daher von langfristigem Denken, dass Schweden sich vorgenommen hat, bis zum Jahr 2020 nicht mehr auf Öl, Gas oder Kohle angewiesen zu sein. "Weg vom Öl"-ein ehrgeiziges Ziel, das in die richtige Richtung weist.

Wir begrüßen den soeben vom Europäischen Rat beschlossenen Aktionsplan Energie, in dem die wesentlichen Elemente einer neuen europäischen Energiepolitik festgelegt werden. Die Vollendung des Binnenmarkts - einschließlich der Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte -, mehr Wettbewerb, weniger Verbrauch, mehr Effizienz und der Ausbau der erneuerbaren Energien: Das sind die entscheidenden Faktoren einer nachhaltigen Energie­politik. In Bezug auf erneuerbare Energien ging vom Europäischen Rat eine wichtige Botschaft aus: Es wurde ein Kompromiss dahin gehend erreicht, ein Ziel in Höhe von 20 % für den Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtenergieverbrauch der EU bis 2020 und ein verbindliches Mindestziel in Höhe von 10 % von Biokraftstoffen am gesamten verkehrsbedingten Benzin- und Dieselverbrauch in der EU bis 2020, das von allen Mitgliedstaaten erreicht werden muss, festzulegen. Insbesondere im Bereich der Energieeffizienz bleibt jedoch noch viel zu tun. Glaubt man der Wissenschaft, dann ist eine Steigerung der Energieeffizienz in den kommenden Jahrzehnten um den Faktor 5 keine Uto­pie. Hier gibt es jede Menge Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Umso wichtiger ist es, dass der EU-Aktionsplan Energieeffizienz zügig und konsequent umgesetzt wird. Notwendig ist eine gemeinsame Energiepolitik damit die Rolle der EU in den internationalen Energie­beziehungen ihrem politischen und wirtschaftlichen Gewicht entspricht.

Aber Europa ist nicht nur eine Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft. Europa hat eine Ver­antwortung für eine gerechte und damit stabile Weltordnung und muss dafür sein volles Gewicht in die Waagschale werfen können. Ein wichtiger Schritt dahin ist aus unserer Sicht das Verfassungsprojekt für Europa. Das Ziel des entsprechenden Vertragsentwurfs ist es, die Union demokratischer, transparenter, handlungsfähiger und effizienter zu machen und sie zu einem der Hauptakteure auf der internationalen Bühne werden zu lassen.

Demokratischer,

-indem das Europaparlament mehr Rechte bekommt und die Europäer auf die Politik in Brüssel direkten Einfluss nehmen können, transparenter,

-indem klargemacht wird, wer für was in Europa zuständig ist, mit dem Ziel, Entscheidun­gen dort zu treffen, wo man am nächsten an den Problemen ist, handlungsfähiger,

-indem mehr Entscheidungen mit Mehrheit statt mit Einstimmigkeit zugelassen werden.

Europa ist nicht allein auf der Welt. Die Welt erwartet viel von Europa, aber sie wird nicht auf Europa warten. Bündeln wir also unsere Kräfte - wieder einmal - und zeigen wir uns selbst und der Welt, dass es uns gelingt, Herausforderungen in Chancen zu verwandeln.