Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler anlässlich der Eröffnung der Ausstellung zum Werk Walter Kempowskis in der Akademie der Künste in Berlin

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 19. Mai 2007

Frau Kempowski und der Bundespräsident stehen hinter einer Vitrine.

Wir alle sind traurig, dass die Hauptperson des heutigen Tages, Walter Kempowski, jetzt nicht bei uns sein kann. Wir wissen alle, wie sehr er sich auf diesen Tag gefreut hat, an dem nun die Ausstellung zu seinem Werk eröffnet wird. Und ich bin sicher: Er hätte seine helle Freude daran, denn die Ausstellung, ich konnte mich gerade selber davon überzeugen, ist mit großer Subtilität und Kenntnis, vor allem aber mit großer Liebe zu seinem Werk gestaltet. Sie zeigt, welch außerordentlicher Künstler Walter Kempowski ist und wie umfangreich und vielfältig das ist, was er gesammelt und geschaffen hat.

Ich bin froh, dass Sie, Frau Kempowski gekommen sind. Sie werden Ihrem Mann berichten können, was hier gezeigt und gesagt wird - und er wird es sicher mit Freude und Genugtuung hören.

Es gibt nicht viele große Werke, von denen wir das genaue Datum ihrer Entstehung - oder des ersten Ideenfunkens ihrer Entstehung - kennen. Von Walter Kempowskis Echolot, seinem großen Hauptwerk, kennen wir es. Es war der 14. März 1978. An diesem Tag notiert Kempowski in sein Tagebuch: "Gedanke, ein Archiv für ungedruckte Biographien aufzumachen". Dieser kurze Satz, dieser Gedanke, erweist sich im Nachhinein als die Keimzelle für eine der bedeutendsten Leistungen der deutschen Literatur. Am Ende ist nicht nur ein unvergleichliches Archiv zustande gekommen, sondern auch das inzwischen zehnbändige Echolot, sozusagen als die jedermann zugängliche Auswahl aus diesem Archiv.

Ich weiß nicht, ob Walter Kempowski an jenem 14. März 1978 auch nur entfernt geahnt hat, was mit diesem "Gedanken" und mit diesem in einem einzigen Satz skizzierten Vorhaben auf ihn zukommen sollte. Wahrscheinlich nicht. Ich habe aber die sichere Vermutung, selbst wenn er geahnt hätte, welche Mühe und welche ungeheure Arbeitsleistung auf ihn zukommt, er hätte es trotzdem in Angriff genommen.

Diese Vermutung ist nicht aus der Luft gegriffen. Ich erinnere mich sehr gut an eine unserer Begegnungen, es war in seinem wunderbaren Haus in Nartum am 17. Juni 2005. Meine Frau und ich saßen mit dem Ehepaar Kempowski zusammen. Bei Kaffee und Kuchen, liebe Frau Kempowski, erzählte Ihr Mann von seiner Arbeit und sprach von dem, was er zustande gebracht hat, und von dem, was er noch an Projekten plant. Auf einmal sagten Sie, Frau Kempowski: "Wissen Sie, Herr Bundespräsident, wir alle sagen doch oft: 'Ich hatte immer vor, dies und jenes zu machen, ich wollte auch einmal gerne das und das in Angriff nehmen, oder ich hätte so gerne einmal ...' Was meinen Mann davon unterscheidet, ist: Er hat alles, was er sich vorgenommen hat, in die Tat umgesetzt. Er hat bis heute alle seine Pläne verwirklicht".

Liebe Frau Kempowski, was Sie damals über ihren Mann gesagt haben, das habe ich nicht vergessen. Nicht nur, weil es so beeindruckend ist, sondern vor allem, weil es stimmt: Er hat - seit seiner Entlassung aus Bautzen - all das, was er sich vorgenommen hat, in die Tat umgesetzt. Er hat ein Lebenswerk geschaffen, für sich und für uns, das in der deutschen Literatur beispiellos ist - und die Ausstellung, die wir ab heute hier anschauen können, legt ein Zeugnis davon ab.

Das Vergangene sammeln, bewahren und für die Gegenwart zum Sprechen bringen: Vielleicht ist das, so ganz schlicht und kurz gefasst, das Signum seines Lebenswerkes. Aber ist das nicht auch eine mögliche Definition von Kultur überhaupt? Hat Kultur nicht elementar damit zu tun, das Vergangene aufzubewahren, die Geschichte lebendig zu erhalten und atmen zu hören?

Niemand kann "bei Null anfangen", wie man so sagt. Wir alle sind Erben. Wir alle stehen in einer Geschichte. Nur im Bewusstsein dieser Geschichte, nur im reflektierten Umgang mit dieser Geschichte können wir auch nach vorne schauen und nach vorne gehen. Walter Kempowski hat das einmal so formuliert: "Wer Gegenwart erkennen will, muss sie als etwas Vergangenes sehen. So wie man Vergangenheit nur dann begreift, wenn man sie sich vergegenwärtigt."

Große deutsche Künstler der letzten Jahrzehnte haben um genau diese Idee herum ihre zum Teil monumentalen Werke geschaffen. Dazu gehört Kempowskis mecklenburgischer Landsmann Uwe Johnson mit seinen "Jahrestagen", dazu gehört Alexander Kluge mit seiner literarischen und filmischen "Chronik der Gefühle", dazu gehört Edgar Reitz mit seinem über fünfzigstündigen Filmepos "Heimat" und dazu gehört Walter Kempowski, mit den Romanen und Erinnerungsbüchern seiner "Deutschen Chronik", mit dem Jahrhundertwerk "Echolot", mit dem Tagebuch-, Brief- und Fotoarchiv, das jetzt hier in der Akademie der Künste sein Zuhause gefunden hat, aber auch mit seinem Haus in Nartum, das, wie jemand zu Recht gesagt hat, selber wie ein Roman gebaut ist.

Liebe Frau Kempowski, Ihr Mann hat sein großes Werk weitgehend im Alleingang bewältigt. Natürlich weiß er selbst am besten, was er Ihnen, seiner Frau, zu verdanken hat und den engagierten Mitarbeitern, die er alle aus eigener Tasche bezahlt hat. Aber es hat weder eine Universität noch eine Stiftung, noch eine staatliche Institution Walter Kempowski unterstützt. Er ist ein "Ein-Mann-Geschichts-und-Erinnerungskultur-Unternehmen", wie es kein zweites hierzulande gibt.

Was das kostet, wie viele Widerstände man überwinden muss, wie viel Überzeugungskraft man bei Verlegern, Lektoren, Journalisten leisten muss, wie viel Mut und Durchhaltevermögen dazu gehören, vor allem aber, welche konzeptionelle Kraft über Jahrzehnte notwendig ist, um ein solches Werk entstehen zu lassen, das können wir in seinen Tagebüchern nachlesen, vor allem in seinem Arbeitsjournal "Culpa - Notizen zum Echolot". Immer wieder geht daraus hervor, wie zielstrebig und zäh Walter Kempowski seine Sache verfolgt hat - und wie einsam er sich dabei oft gefühlt hat: "Ich wundere mich manchmal darüber, dass sich so gar keiner für meine Arbeit interessiert". Solche Sätze sind häufig.

Dann zum Beispiel, auch kein unwichtiges Thema, der Eintrag vom 10. April 1985: "Heute kam vom Steuerberater die Nachricht, dass wir für das Archiv bereits fast 300.000 DM ausgegeben haben". Und immer wieder die Zweifel am Gelingen: "Ich habe errechnet, dass das von mir geplante Tagebuchvorhaben etwa 5000 Seiten umfassen müsste, also gar nicht zu realisieren ist. Allein die Korrekturvorgänge würden unlösbare Probleme aufwerfen". Alle diese unlösbaren Probleme - Walter Kempowski hat sie letztlich gelöst.

Schon mit seinem einzigartigen Arbeitsjournal gibt er uns einen erstaunlich intimen und singulären Einblick in seine Arbeitsweise, wie wir das von keinem anderen modernen Schriftsteller haben. Diesem Einblick stellt sich nun die Ausstellung zur Seite, die wir heute eröffnen: "Kempowskis Lebensläufe".

Der Titel bedeutet zunächst natürlich, dass es um Walter Kempowski, um sein Leben, sein Werk, seine Sammlung, sein Archiv geht. Aber gleichzeitig ist diese Ausstellung auch ein Wunderkabinett, das uns alle anrühren und bewegen kann. Hier ist eine Welt, ein ganzer Kosmos zu besichtigen, ein Kosmos, der aus lauter Nebensächlichkeiten zu bestehen scheint. Da ist vieles dabei, das andere übersehen, beiseitelegen oder achtlos wegwerfen würden. Es scheint zu klein, zu banal, zu simpel zu sein, um wirklich Bedeutung zu haben. Walter Kempowski hat in sein Werk und sein Archiv aber die gegenteilige Botschaft eingeschrieben: Es gibt nichts, das zu klein, nichts, das zu banal wäre, um nicht Bedeutung zu haben, um nicht etwas erzählen zu können. Er lehrt zu sehen, genau hinzusehen, in jedem kleinen Ding, in jedem Schnappschuss, in jeder Postkarte etwas zu sehen, das Bedeutung hat. Letztlich setzt sich unser aller Leben aus tausenderlei Kleinigkeiten und Alltäglichkeiten zusammen. Am vermeintlichen Kleinen und Unscheinbaren wird uns möglicherweise im Nachhinein viel deutlicher klar, was unser Leben ausmacht, als an den vermeintlich großen Ereignissen, von denen die Medien berichten.

Aus den unendlich vielen Kleinigkeiten, aus den unendlich vielen Zeugnissen von Menschen, "die sich selber als Nebenfiguren betrachten", wie es Alexander Kluge ausdrückt, hat Walter Kempowski ein Panorama des Bedeutsamen geschaffen. Nichts war ihm zu nebensächlich. Alles kann sprechen, alles erzählt von unserem Leben, von unserer Geschichte - und alles redet uns an. Auch wenn Walter Kempowski sich, wie er oft gesagt hat, als jemand vorkam, der mit einer Gießkanne ein Schwimmbad füllen wollte, so kann er heute stolz sagen: Ich habe es geschafft.

Dass er es dabei sich selbst und anderen, sicher auch Ihnen, Frau Kempowski, nicht immer leicht gemacht hat, geht beispielhaft aus einer Notiz seiner Mitarbeiterin Simone Neteler hervor, die er selber in seinem Buch "Culpa" zitiert: "Walter kann stressen und trotzdem auch so witzig sein. Diese Mischung lässt sich nur schwer beschreiben! Aber ich gebe zu: Absurderweise ist es genau das, was mir gefällt." Ich denke, so geht es vielen seiner Freunde, Kollegen und Mitarbeiter.

Auch wenn ich heute als Bundespräsident diese Ausstellung eröffne und auch bei der Vorstellung des letzten Echolot-Bandes anwesend war, auch wenn mein Vorgänger Johannes Rau und ich selber Walter Kempowski zu Hause in Nartum besucht haben, bedeutet das nicht, dass wir ihn für einen "Staatsdichter" halten oder dazu hätten promovieren wollen. Staatsdichter gibt es in der Demokratie nicht. Aber wenn ich heute Walter Kempowski einen Volksdichter nenne, dann hoffe ich, dass er dagegen keinen Einspruch erhebt. Diesen Titel kann er nicht nur in Anspruch nehmen, weil so viele Menschen seine Bücher lesen und noch immer die Verfilmungen von "Tadellöser und Wolff" ansehen, sondern vor allem deshalb, weil er, wie kein anderer, das Volk selbst zum sprechen gebracht hat. Kein anderer hat den Menschen so ihre Stimme gegeben, oder besser gesagt: ihre Stimme erhalten und für alle Zeiten bewahrt.

Deutschland kann dankbar für das sein, was er geschaffen und uns geschenkt hat. Ja, wir sind stolz auf Walter Kempowski.