Tischrede von Bundespräsident Horst Köhler beim Abendessen für die Mitglieder des Ordens Pour le mérite

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 4. Juni 2007

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult

Herzlich willkommen in Bellevue. Ich freue mich auf die Stunden in dieser hochansehnlichen, frohen Runde. Besonders herzlich begrüße ich die neuen Mitglieder, die heute ihre Ordenszeichen erhalten haben. Sie sind in den Orden Pour le mérite aufgenommen worden, weil Sie sich, wie es seine Satzung beschreibt, durch "weit verbreitete Anerkennung ihrer Verdienste (...) einen ausgezeichneten Namen erworben haben". Und ich will hinzufügen: Gewiss haben sich die neuen Mitglieder vorgenommen, am Leben des Ordens regen Anteil zu nehmen. Betrachten Sie die Einladung auch künftig als festen Teil im Leben des Ordens - wir sehen uns hoffentlich auch in den kommenden Jahren wieder.

So unterschiedlich die Verdienste der Ordensmitglieder ihrer Art nach sind: Sie alle verbindet ein Motiv: die Suche nach Wahrheit.

Denn Erkenntnis ist das Ziel nicht nur aller wissenschaftlichen, sondern auch jeder künstlerischen Arbeit. Dem ersten Teil dieser Aussage wird wahrscheinlich jeder gerne zustimmen. Aber wie steht es mit den Künsten? Was hat das Schöne mit dem Wahren zu tun? Eine eher zweideutige Antwort auf diese Frage hat Picasso gegeben, als er gesagt hat: "Die Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt". Vielleicht ist diese Sichtweise ja von ferne verwandt mit Goethes viel zitiertem "Geist, der stets verneint" und am Ende "doch das Gute schafft". Jedenfalls stellen sich auch dort spannende wissenschaftliche Fragen, wo es um den Erkenntniswert von Kunst und um die Frage geht, was "der Geist" eigentlich will und was er dabei womöglich anrichten kann.

Was ist "Geist"? Wir Deutschen neigen ja dazu - zumindest wird uns das immer noch gelegentlich bescheinigt -, diesem Begriffe "Geist" nachzuspüren, der so ätherisch wie unverwüstlich "anwest". Das liegt gewiss nicht zuletzt daran, dass das Deutsche mit dem Wort "Geist" sehr Unterschiedliches bezeichnet: den Sinn der Weltläufte etwa, eine herausragende Persönlichkeit im Allgemeinen und ihren Witz im Besonderen, die menschliche Verstandestätigkeit und - nicht zu vergessen: mancherlei Gespenster und Spukgestalten. Und vielleicht darf ich Ihnen eine für mich durchaus auch amüsante Anekdote schildern: Als ich Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten wurde, sagte mir ein wohlmeinender Bekannter: Als gelernter Ökonom sollte ich mich, wenn ich gewählt werde, doch auch besonders um das geistige Deutschland kümmern. Irgendwie bestand hier die Assoziation: Die Ökonomen können es nicht so wirklich gut mit dem Geist meinen.

Andere Sprachen als die deutsche sind in Fragen des Geistes wesentlich eindeutiger. Vielleicht haben diese anderen Sprachen aber deshalb auch nicht zu dem Wort gefunden, das vor allem Wilhelm Dilthey, ein Ordensmitglied, geprägt hat: Das Wort Geisteswissenschaften. Damit fassen wir alle akademischen Disziplinen zusammen, die sich dem menschlichen Geist in seinen vielfältigen Ausdrucksformen verschrieben haben - ein fast universales Programm also.

"Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er" - in diesem kurzen Satz verdichtet Dilthey seine Sicht auf Gegenstand, Methode und Besonderheit der Geisteswissenschaften. Und ein wenig klingt hier wohl auch jene Überlegenheit in der Erkenntnissuche an, die manche Geisteswissenschaftler lange Jahre für sich in Anspruch nahmen. Heute indes hat man manchmal den Eindruck, als sei das einstmals ausgeprägte Selbstbewusstsein der Geisteswissenschaften einem ausgewachsenen Minderwertigkeitskomplex, jedenfalls aber dem Gefühl einer deutlichen Vernachlässigung und Benachteiligung gegenüber den Naturwissenschaften gewichen. Da ist bisweilen von der Krise, vom Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften die Rede, da wird ihre mangelnde ökonomische Relevanz konstatiert, da wird beklagt, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit und Förderung vor allem auf die Naturwissenschaften richte, welche sich nun sogar anschicken, unter der begrifflichen Fahne der "Lebenswissenschaften" an Pforten der Seinsdeutung zu rütteln, die bisher allein die Geisteswissenschaftler öffnen zu können glaubten.

Sind solche Klagen berechtigt? Darüber wird in diesem Jahr hier in Deutschland besonders viel diskutiert, das ja zum "Jahr der Geisteswissenschaften" ausgerufen wurde. Es ist das achte Jahr in einer Reihe von Wissenschaftsjahren, die bislang vor allem den Natur- und Lebenswissenschaften und zuletzt der Informatik gewidmet waren.

Der späte Auftritt in dieser Chronologie mag ein Indiz dafür sein, dass für uns in Deutschland die Geisteswissenschaften nicht bzw. nicht mehr die Stellung einnehmen, die ihnen zukommt und die sie im Ensemble der Wissenschaften und der Künste des Ordens Pour le mérite zu Recht besitzen.

Die Geisteswissenschaften und alle, die ihnen wohl gesonnen sind, sollten aber aus meiner Sicht weniger über unangemessene Kritik und Krise sprechen als über Stärke und Chancen und Bedeutung. Dass sie es dabei schwerer haben als die Anwälte der Naturwissenschaften, konstatierte um die Mitte des vorigen Jahrhunderts bereits Hans-Georg Gadamer, auch er ein Mitglied des Ordens, als er sagte: "Die Geisteswissenschaften haben es nicht leicht, für die Art ihrer Arbeit bei der größeren Öffentlichkeit das rechte Verständnis zu finden. Was in ihnen Wahrheit ist, was bei ihnen herauskommt, ist schwer sichtbar zu machen."

Für dieses Sichtbar-Machen von Wahrheit ist Sprache unverzichtbar. Allen Wissenschaften ist gemein, dass sie sich der Sprache oder eines vergleichbaren Zeichensystems als Kommunikationsmittel bedienen. Ohne Sprache könnten sie ihre Erkenntnisse nicht vermitteln. Jede Wissenschaft lebt davon, dass sie Dinge entdeckt, sie "zur Sprache" - und damit zu den Menschen "bringt". Für die Geisteswissenschaften ist die Sprache aber noch mehr als ein bloßes Kommunikationsmittel: Sie ist zugleich auch Werkzeug und Gegenstand ihrer Arbeit.

Anhand und mit Hilfe der Sprache ordnen und analysieren die Geisteswissenschaften kulturelle und soziale Erfahrungen und Entwicklungen. Anhand und mit Hilfe der Sprache versuchen die Geisteswissenschaften Antworten auf die immer neue Frage nach dem Sinn dieser Entwicklungen und Erfahrungen zu geben. Anhand und mit Hilfe der Sprache "übersetzen" sie uns die oft schwer verständliche und unzugängliche Gegenwart.
Und darum hoffe ich, dass das "Jahr der Geisteswissenschaften" dazu beiträgt, die Moral der "moral sciences" zu heben und die öffentliche Wertschätzung für diese Wissenschaften zu fördern. Denn ich glaube, das ist in unser aller Interesse. Und das ist manchmal auch da von Nöten, wo man solche Wertschätzung eigentlich für selbstverständlich hält: in den Universitäten. Knappe Mittel, die von der Politik eingeforderte Schärfung des Hochschulprofils und zuweilen auch die Verwertungsinteressen der Wirtschaft veranlassen manche Universität dazu, ihre Ressourcen eher für andere Disziplinen als für die Geisteswissenschaften bereitzustellen. Aber auch die bedürfen der nährenden Brust der Alma Mater. Zu meinem Verständnis von "Universitas" gehört es unverzichtbar dazu, dass Literatur, Kunst, Geschichte, Philosophie und Religion an unseren Universitäten erforscht, vermittelt und diskutiert werden sollten.

Für problematisch halte ich es auch, wenn die Geisteswissenschaften auf die Rolle des nützlichen Interpreten der Naturwissenschaften reduziert werden. Keine Frage, wir brauchen die Geisteswissenschaften auch als Vermittler zwischen "technisch-naturwissenschaftlicher" und "geistiger" Kultur, denn immer öfter stellen uns technische Entwicklungen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse auch vor Grundfragen unserer menschlichen Existenz: Ich nenne als Beispiel die Neurowissenschaften: Ist das Denken nur eine Folge chemischer und biophysikalischer Prozesse, gibt es keinen freien Willen? Oder nehmen wir die zunehmende Virtualisierung unserer Welt: Manche Menschen sind soweit, dass sie glauben, sich im Internet täglich neu und multipel erfinden zu können - was heißt dann noch "unverwechselbares Individuum"? Vor solche Fragen gestellt, sollten sich Natur- und Geisteswissenschaften als gleichwertige, gleichberechtigte und auch auf einander angewiesene Partner in der Erklärung der Welt und des Menschen verstehen.

Deswegen ist es gut, dass Interdisziplinarität, dass Kooperation und Forschungsverbünde zwischen Natur- und Geisteswissenschaften an Bedeutung gewinnen. In gewisser Weise liefert der Orden Pour le mérite die Blaupause für ein fruchtbares Miteinander der wissenschaftlichen Kulturen. Hier im Orden kommt zusammen, was zusammengehört. Einer, der wie wenige diese Einheit personifiziert hat, war Carl Friedrich von Weizsäcker, dessen wir heute Nachmittag gedacht haben.

Wir brauchen in den Wissenschaften zunehmend die Forschungskooperation, die Zusammenarbeit vieler Wissenschaftler bei komplexen wissenschaftlichen Vorhaben.

Aber bei aller Bedeutung der Frage: "Wie können wir zusammenwirken" will ich auch noch etwas anderes sagen: Wir brauchen am Ende vor allem auch die herausragenden einzelnen Forschergestalten. So war's immer, so wird's immer sein. Auf den Einzelnen kommt es an. Ich zitiere zum Schluss noch einmal ein früheres Mitglied des Ordens, Karl Popper. Er meinte: "Der Geist der Wissenschaft hat sich geändert, als eine Folge der organisierten Forschung. Wir müssen hoffen, dass es trotzdem immer wieder große Einzelgänger geben wird." Solche Einzelgänger sind Persönlichkeiten, die mit ihrer originellen, mit ihrer unverwechselbaren Art von Anschauung, Denken und Sprache unser aller Denken und unsere Kultur prägen und bereichern, heute wie schon in der Vergangenheit: Wir können sie nicht entbehren, wir müssen sie fördern und ehren. Ich will hinzufügen: Wir haben Glück, wenn wir solche Einzelpersönlichkeiten immer wieder finden.

Auch dafür gibt es den Orden Pour le mérite, und auch dafür sind Abende wie dieser in Schloss Bellevue gedacht. Seien Sie nochmals herzlich willkommen!