ZDF-Sommerinterview - Der Bundespräsident im Gespräch mit Peter Hahne

Schwerpunktthema: Rede

Seebad Ückeritz, , 15. Juli 2007

Der Bundespräsident und Peter Hahne sitzen auf einer Holzveranda unter einem Sonnenschirm

Zum ZDF-Sommerinterview mit Bundespräsident Horst Köhler.

ZDF:Im Osten tut sich viel, es boomt. Und doch scheint es typisch für uns Deutsche, dass wir immer wieder jammern.
Horst Köhler:Ich stelle fest, der Aufschwung hat eindeutig auch diese Region erfasst, Ostdeutschland insgesamt. Die Menschen, denen ich begegne, die jammern eigentlich nicht, die packen an. Und so möchte ich es auch sehen.

ZDF:Aber es gibt auch viele Zweifel, teilweise sogar Verzweiflung. Viele Menschen wandern ab, insbesondere die jungen. Muss die Politik da nicht eine Antwort finden?
Horst Köhler:Ja, die Politik hat noch Aufgaben, da gibt es überhaupt nichts. In Ostdeutschland hat sich bereits viel getan, von der Infrastruktur bis hin zu modernen
Forschungseinrichtungen. Aber es muss noch mehr geschehen, vor allen Dingen muss mehr unternehmerisches Verhalten hier rein. Aber wenn Sie sich doch insgesamt umschauen, vor allen Dingen auch hier, im Ostseeraum, da geschieht viel. Polen boomt, Russland boomt, die skandinavischen Länder boomen. Ich habe überhaupt keine Zweifel: Die Region hat Zukunft und das wird sich auch bald herausstellen.

ZDF:Sie äußern Ihre Vorstellungen auch gegenüber Politikern sehr deutlich. Hört Frau Merkel auf Sie?
Horst Köhler:Wir haben regelmäßig unsere Gespräche. Und ich habe den Eindruck, sie macht einen ganz guten Job.

ZDF:Die Steuermilliarden sprudeln nun, die Bundesagentur für Arbeit hat Milliardenüberschüsse - wird es da nicht Zeit, den Bürgern etwas zurückzugeben?
Horst Köhler:Zunächst sollten wir uns wirklich alle freuen, dass die Steuereinnahmen gut laufen. Das Wichtigste ist, dass die Bundesagentur für Arbeit jetzt in der Lage ist, weniger Arbeitslosengeld auszuzahlen, weil die Beschäftigung zunimmt und die Arbeitslosigkeit abnimmt. Das ist der Erfolg nicht nur der guten Wirtschaftskonjunktur, sondern auch der Reformen. Und ich glaube schon, dass wenn man konsequent darauf setzt, dass wir noch mehr die Arbeitslosigkeit abbauen wollen, dass dann die guten Einnahmen bei der Bundesagentur dazu genutzt werden sollten, die Lohnnebenkosten weiter zu senken, das heißt den Arbeitslosenversicherungsbeitrag zu senken.

ZDF:Weichen Sie von ihrer These vom Sparen ab, damit wir Kindern und Enkeln die Schulden nicht hinterlassen?
Horst Köhler:Also wichtig ist einfach für alles - für soziale Sicherheit, für die kulturelle Entwicklung dieses Landes, dass eben auch eine ökonomische Grundlage da ist, die dynamisch ist, die zeigt, dass das Land im internationalen Wettbewerb mithalten kann. Und für das sollten wir daran denken: Wir müssen investieren. Wir konsolidieren heute immer noch zu viel im Vergleich zu dem, was wir für eine gute Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder brauchen. Und investieren heißt vor allem: Arbeit schaffen und die Rahmenbedingungen auch für die Wirtschaft so weiter zu verbessern, dass die Investitionsquote steigt. Die ist nämlich trotz des erfreulichen Aufschwungs immer noch vergleichsweise niedrig.

ZDF:Sie sprechen von einem erfreulichen Aufschwung: Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Wirtschaftsdaten gehen nach oben. Ein Aufschwung für die Politiker ist nicht zu verzeichnen. Die Politik verliert dramatisch an Vertrauen.
Horst Köhler:Ich denke auch, wenn sich die Regierung weniger öffentlich streiten würde, dann würde der Erfolg, den wir doch sehen in der wirtschaftlichen Entwicklung, am Arbeitsmarkt - und damit auch den Erfolg der Reformen, die wir sehen -, dann würden das die Leute auch mehr schätzen und sich weniger an den Streitigkeiten aufhalten. Also insoweit (vergibt) sich die Regierung auch ein bisschen ihre eigenen Möglichkeiten, den Erfolg zu ihren Gunsten zu reklamieren. Aber ich glaube darüber hinaus, dass wir schon ein grundlegenderes Problem haben. Wir müssen uns wirklich fragen: Wieso ist das Vertrauen der Bürger in die Politik - und
manchmal könnte man sogar sagen, in unser demokratische System - so wenig ausgeprägt? Und für mich stellt sich die Frage insbesondere im Zusammenhang: Wie können wir die Bürger an politischen Prozessen besser beteiligen? Hier hat eine Entfremdung stattgefunden. Und ich glaube, dass sich jeder Gedanken machen sollte, wie wir dieser Entfremdung zwischen Politik und Bürgern etwas entgegensetzen.

ZDF:Aber wie soll man Vertrauen in die Politik gewinnen, wenn sich die Politik selber misstraut? Wollen Sie als Bundespräsident in die Geschichte eingehen, der zweimal Neuwahlen angeordnet hat?
Horst Köhler:Sicherlich nicht, und das ist auch nicht meine Annahme oder Prognose. Das, was ich aus den Gesprächen mit den führenden Leuten der großen Koalition weiß, ist, dass sie eindeutig entschlossen sind, die Arbeit der großen Koalition bis zum regulären Ende dieser Legislaturperiode fortzusetzen, weil sie auch wissen, erstens: Es gibt noch viele unerledigte Aufgaben. Und zweitens: Sie wissen auch, dass die Bürger das dann vielleicht wirklich übel nehmen würden, weil es ja doch so aussieht, als würde man Parteipolitik höher setzen als die Lösung der Sachprobleme. Ich glaube, die Vernunft wird da sein. Und ich rechne nicht mit dem Fall, dass ich noch einmal in so eine Situation komme, wie 2005.

ZDF:Aber es ist auch die Stunde des Populismus. Die Leute sehnen sich nach einer Alternative zu diesem Streit.
Horst Köhler:Ich glaube, die Bürger sehnen sich nicht nach Populismus. Ich glaube, sie sehnen sich danach, dass sie ernst genommen werden, dass man Politik erklärt, dass man auch nicht übermäßige Versprechungen, Verheißungen in die Welt setzt. Das kann manchmal ankommen - da haben wir derzeit ja auch eine Variante in der Politik. Aber ich glaube, am Ende wird das Beine haben. Ich schätze die deutschen Bürgerinnen und Bürger viel vernünftiger ein, viel aufgeklärter. Die wissen, dass man nicht das Blaue vom Himmel versprechen kann, ohne dass man das einlösen muss. Wir sind weitergekommen mit dem Reformweg, den - das muss ich fairerweise sagen - Gerhard Schröder eingeschlagen hat. Der Reformweg zahlt sich jetzt aus. Ganz wichtig ist, dass man darauf hinweist, dass sich Reformen eben auszahlen. Und wenn das doch noch mehr sozusagen wahrgenommen wird, glaube ich auch, haben wir eine wichtige Voraussetzung geschaffen, dass die Bürger weiter mitmachen, es sogar wollen, dass wir jetzt nicht auf halber Strecke stehen bleiben. Es gibt nämlich noch viele unerledigte Aufgaben.

ZDF:Welche wären das zum Beispiel? Was muss die große Koalition in den nächsten zwei Jahren noch schaffen?
Horst Köhler:Für mich ist es ganz wichtig, dass das eine große Koalition ist, die Bund und Länder einschließt - und vor allen Dingen auch die Länder betrifft, nach der
Föderalismusreform, in der Bildungspolitik, bei Forschung und Entwicklung wirklich eine Kraftanstrengung zu machen. Weil, wenn wir die nicht anpacken und wenn wir die nicht schaffen, dann können wir uns in zwei, drei, spätestens fünf Jahren genau so wiedersehen, wie wir es waren vielleicht vor drei oder fünf Jahren in der
Vergangenheit. Wir wollen doch alle den Deutschen gute Arbeitsplätze schaffen, mit guten Einkommen. Das können wir in der Situation der heutigen Volkswirtschaft, der heutigen Weltwirtschaft nicht mehr hauptsächlich mit einfachen Arbeiten. Das heißt, wir müssen wirklich Ernst machen, unseren Bürgerinnen und Bürgern beste Chancen zur Bildung geben - den Jungen, aber auch den Erwachsenen immer wieder neue Möglichkeiten geben zum Weiterlernen, sich weiter zu bilden. Und wenn wir das tun, ist das die halbe Miete.

ZDF:Sie machen sehr konkrete Vorschläge. Viele sagen, dieser Präsident sei zu politisch. Das Etikett Köhler ist neoliberal. Stecken Sie das weg?
Horst Köhler:Ehrlich gesagt, fühle ich mich da nicht getroffen. Neoliberal war noch während des Zweiten Weltkrieges und nach dem Zweiten Weltkrieg die Bezeichnung für Reformer im besten Sinne einer sozialen Marktwirtschaft: Walter Eugen, Alexander Rüstow. Also mich trifft das nicht. Es ist sozusagen ein Totschlagargument. Aber ich glaube doch, dass wir jetzt mit dem Erfolg in der wirtschaftlichen Entwicklung nachweisen können, dass sich Anstrengungen, auch Entbehrungen und Opfer - die auch mit Härten verbunden sind, das will ich überhaupt nicht abstreiten -, dass wir aber doch sehen, es zahlt sich aus. Und ich setze
deshalb auf die Vernunft der Leute.

ZDF:Sie haben aus verfassungsrechtlichen Gründen einige Gesetze nicht passieren lassen. Jetzt liegt das neue Zuwanderungsgesetz bei Ihnen auf dem Tisch. Nach dem Integrationsgipfel gibt es Stimmen aus der türkischen Gemeinde, die sagen: Bitte nicht unterschreiben, in diesem Gesetz steht Rassismus.
Horst Köhler:Das Zuwanderungsgesetz liegt noch gar nicht auf meinem Schreibtisch. Das kommt - ich nehme mal an - nächste Woche. Dann werde ich es prüfen, wie ich das immer tue. Maßstab ist das Grundgesetz. Und wenn ich jetzt im Vorlauf zu dieser Prüfung höre, uns würde Rassismus unterstellt, muss ich Ihnen sagen: Da bin ich doch sehr verwundert. Und ich werde sorgfältig prüfen, und wir werden sicherlich auch eine sorgfältige Antwort formulieren müssen - die Bundesregierung -, wie wir auf diese aus meiner Sicht nicht haltbaren Vorwürfe reagieren.

ZDF:Wir sind hier nur fünf Kilometer von Polen entfernt, immer wieder gibt es antideutsche Schlagzeilen. Haben Sie Sorge, dass hier die Mauer in den Köpfen wieder
wachsen könnte?
Horst Köhler:Ich kann nicht ausschließen, dass einige hier ein bisschen provozieren und so neue Spielchen machen. Aber wenn ich meine eigene Kenntnis der polnischen Gesellschaft nehme - auch, muss ich sagen, meine eigenen Gesprächen mit dem Präsidenten Lech Kaczynski -, dann glaube ich, wird das nicht erfolgen - also neue Mauern zwischen Deutschland und Polen. Wir müssen miteinander reden und wir müssen auch Antworten geben auf manche Sorgen, Besorgnisse in Polen. Aber die Polen, die ich kenne - und das sagen uns auch Umfragen -, die haben ein ganz gutes Verhältnis nicht nur zur Europäischen Union, sondern auch zu den
Deutschen. Und wenn ich mich hier so umgucke: Hier geschieht ja was im Ostseeraum. Es wächst, einschließlich Russland, Finnland, die skandinavischen Länder. Ich glaube, die Polen werden (merken) - und sie wissen es im Grunde schon -, dass wir nur gemeinsam vorankommen: Deutschland und Polen.

ZDF:Auf dem G8-Gipfel war eines Ihrer Herzensanliegen Afrika. Sind Sie enttäuscht über den Kompromiss, den dieses Thema nur gebracht hat?
Horst Köhler:Nein, ich bin überhaupt nicht enttäuscht. Ich glaube, die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, hat hier eine Anstrengung gemacht. Und ich bin ihr sehr dankbar, dass sie das Thema auf die Agenda des Gipfels gesetzt hat. Ich glaube, dass man daran noch viel arbeiten muss. Und wenn wir das tun, bin ich ganz zuversichtlich: Die Welt hat noch große Chancen auf weitere Überwindung von Problemen, die Bekämpfung von Konflikten. Das Wichtigste überhaupt ist, nicht zu vergessen, dass wir auch eine ethische Verpflichtung haben. Uns geht es gut in Deutschland. Und das sollten wir bei allen noch ungelösten Problemen nie vergessen. Uns geht es gut, aber daraus ergibt sich auch eine Verantwortung: nicht die anderen zu vergessen.

ZDF:Jetzt gibt es Vorschläge für neue Sicherheitsgesetze, die kontrovers diskutiert werden. Haben Sie Sorge um unseren Rechtstaat?
Horst Köhler:Ich glaube erst einmal, dass Wolfgang Schäuble die Aufgabe hat, als Innenminister, sich den Kopf (darüber) zu zerbrechen. Das wird von ihm erwartet und das tut er offensichtlich. Man kann darüber nachdenken, ob die Art, wie die Vorschläge kommen - vor allen Dingen in einer Art Stakkato immer wieder neue Dinge -, ob das so optimal ist. Wie sollen das die Leute verkraften? Und ich selber habe meine Zweifel, ob man so zum Beispiel Dinge, wie die Tötung eines vermutlichen Terroristen ohne Gerichtsurteil, ob man das so von der leichten Hand machen kann. Ich habe persönlich meine Zweifel. Das wird diskutiert, das wird ausdiskutiert. Ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass wir am Ende eine Lösung finden, die unseren rechtsstaatlichen Prinzipien Genüge tut.

ZDF:In zwei Jahren gehen Sie in Rente. Dann sind Sie noch gar keine 67 Jahre. Wie wollen Sie es hinkriegen, falls Sie wiedergewählt werden, dieses Thema aus dem parteipolitischen Gerangel rauszuhalten?
Horst Köhler:Ich kann das machen, was ich tue: Ich versuche, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen, nach bestem Wissen und Gewissen, überparteilich den Bürgern zuzuhören. Weil, das ist, glaube ich, ganz wichtig, dass Politiker - wie ich, andere Politiker - mehr den Bürgern zuhören, weil sie unheimlich viele Ideen haben. Die moderne Demokratie des 21. Jahrhunderts ist nicht die Zuschauerdemokratie, wo man danach schaut, was Berlin alles Gutes macht, sondern wie wir die Bürger einbeziehen in politische Prozesse. Auf diesem Weg werde ich weitermachen. Und dann werde ich sozusagen dem weiteren Gang der Dinge überlassen, was daraus wird.