50 Jahre Wissenschaftsrat - Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler bei der Festveranstaltung im Deutschen Historischen Museum Berlin

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 5. September 2007

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult, dahinter die Aufschrift "50 Jahre Wissenschaftsrat - Festveranstaltung"

50 Jahre Wissenschaftsrat: Das ist ein stattliches Jubiläum - zumal für eine Institution, deren Grundlage - das Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern - am 5. September 1957 zunächst nur auf drei Jahre abgeschlossen wurde. Spätestens bei jeder Verlängerung hat sich bei ordnungsgemäßer Ermessensausübung ja dann wohl gewiss die Frage gestellt: Brauchen wir den Wissenschaftsrat noch? Da sind - auch angesichts der rauen Winde, die dem Rat gelegentlich entgegen wehten - die bisher 13 Verlängerungen kein schlechtes Testat.

Und allen, die zu diesem guten Testat beigetragen haben, möchte ich gratulieren und für ihre Arbeit herzlich danken.

Der Wissenschaftsrat ist, das ist oft beschrieben worden, ein einzigartiges Konstrukt: Er ist mehr als ein Politikberatungsgremium, mehr als ein Koordinationsausschuss, aber weniger als ein demokratisch legitimiertes Leitungs- und Beschlussorgan.

Die Geber und Empfänger von Rat respektive Geld sitzen miteinander am Tisch, um in der Wissenschaftsförderung das Wünschbare mit dem Machbaren abzugleichen. Vertreter von Bund und Ländern - je mit eigenen Interessen, abgestuften Zuständigkeiten und unterschiedlichen Machtmitteln - beraten sich mit Fachleuten aus der Wissenschaft und Freunden der Wissenschaft aus dem öffentlichen Leben über die Ziele der Wissenschaftspolitik. Im Wissenschaftsrat soll sich der Blick der einzelnen Akteure mit ihren unterschiedlichen Präferenzstrukturen weiten und soll ihre Sicht sich öffnen auf das Ganze: auf die wahrhaft nationale Aufgabe, der Wissenschaft und Forschung in einem föderalen Staat beste, international konkurrenzfähige Entfaltungsmöglichkeiten zu geben.

Erinnern wir uns: Bereits die Väter des Wissenschaftsrates sorgten sich, die große Wissenschaftsnation Deutschland könnte den Anschluss verlieren an die rasanten wissenschaftlich-technischen Entwicklungen in anderen Teilen der Welt. Und auch den Gründervätern stellte sich die Frage, wie in einem Bundesstaat die Mehrung und Vermittlung des Wissens ausreichend finanziert und gut organisiert werden könnte. Ihn beschäftige, schrieb Bundespräsident Heuss 1956 an Bundeskanzler Adenauer, die "Sorge, wie die vorhandenen Mittel, die ganz gewiss ... einer sehr bedeutenden Steigerung bedürfen, zum höchsten Wirkungsgrad gebracht werden können". Vor dieser Frage stehen wir auch heute, nur ist der damalige Schatz im Juliusturm leider längst ausgegeben, und das macht die Aufgabe nicht leichter.

Wie also kann unter den heutigen Bedingungen das deutsche Wissenschaftssystem zum höchsten Wirkungsgrad gebracht werden? Und woran misst man den überhaupt? Möglichst viele Nobelpreisträger? Möglichst viele Patente? Möglichst viele Publikationen? Möglichst hohe Plätze in einschlägigen Ranglisten? Möglichst viele Studierende, besser noch: Absolventen? Schon eine Standortbestimmung für das Wissenschaftssystem ist alles andere als trivial. Umso größer ist die Herausforderung, seiner Entwicklung Richtung und Dynamik zu geben.

Der Wissenschaftsrat hat das immer wieder versucht: mal mit großen Entwürfen, mal mit sehr konkreten Vorschlägen, mal mit größerem, mal mit kleinerem Erfolg. Manche Empfehlung des Wissenschaftsrates entfaltete Wirkung erst nach einer gewissen Latenzzeit: Wer zum Beispiel in den 60er Jahren im Wissenschaftsrat für die Einführung gestufter Studiengänge eintrat und dafür herbe Kritik einstecken musste, wird ihre unter dem Siegel von Bologna laufende Einführung jetzt begrüßen und sich vielleicht auch fragen: Warum bedurfte es eigentlich erst des äußeren, des europäischen Drucks, um diese wohl umfassendste Studienreform in der Geschichte der Bundesrepublik anzustoßen?

Und warum brauchte es, um ein anderes Beispiel herauszugreifen, eigentlich so lange, ehe das Leitbild der autonomen, wettbewerbsorientierten Universität sich in konkreten Veränderungen bis hin zur laufenden Exzellenzinitiative niederschlug, obwohl der Wissenschaftsrat dieses Leitbild schon mit seinen Empfehlungen von 1985 fundiert hat? Hängt das mit föderalen oder sonstigen institutionellen Hindernissen zusammen, und wenn ja, wer berät dann die Politik darin, wie sie diese Hindernisse überwindet?

Wissenschaftspolitik - zumal im Föderalismus - scheint jedenfalls nichts für Ungeduldige zu sein. Umso mehr treibt mich die Frage um, ob uns schon klar genug ist, wie fundamental die weltweite Wettbewerbsfähigkeit unseres Wissenschaftssystems für den Wohlstand und das Wohlergehen unseres Landes ist. Ich frage mich - und ich frage natürlich Sie: Gelingt es uns an den Hochschulen hierzulande, ausreichend viele junge Leute optimal darauf vorzubereiten, ein anspruchs- und verantwortungsvolles Berufsleben zu meistern und sich in der globalen Wissensgesellschaft erfolgreich zu behaupten? Gelingt es uns, gerade jungen Wissenschaftlern in ihrer kreativsten Lebensphase den gleichen Freiraum für eigenes Forschen zu eröffnen, den viele von unseren Nachwuchswissenschaftlern hierzulande vermissen und deswegen im Ausland suchen? Und gelingt es uns, Forschungsergebnisse schnell und zielgerichtet aus der Wissenschaft in die Wirtschaft und damit auf den Markt zu bringen?

Ich bin überzeugt: Wir könnten in allen diesen Bereichen deutlich erfolgreicher sein und das wünsche ich mir. Wie das zu beginnen wäre, dazu hat auch der Wissenschaftsrat immer wieder Impulse gegeben - jüngst etwa mit den "Empfehlungen zur künftigen Rolle der Universitäten im Wissenschaftssystem" und mit seinen Überlegungen zum besseren Zusammenspiel von Wissenschaft und Wirtschaft.

Die laufende Exzellenzinitiative wirkt nun anscheinend wie ein Katalysator: Sie bringt die Hochschulen dazu, das eigene Profil zu schärfen, sie begünstigt neue Kooperationsformen zwischen Hochschulen und außeruniversitärer Forschung, sie eröffnet neue Möglichkeiten der Nachwuchsförderung.

Freilich kann und soll auch die Exzellenzinitiative nicht alle Probleme der deutschen Hochschulen lösen - zumal wir heute noch nicht absehen können, wie sie sich auf diejenigen auswirkt, die nicht unmittelbar von ihr profitieren. Eins dürfen wir jedenfalls nicht tun: diesen Universitäten die Chance eines Aufstiegs in die Exzellenzliga verbauen. Deswegen muss nicht zuletzt der Wissenschaftsrat weiter nachdenken darüber, wie wir für alle Hochschulen den Anreiz erhalten, die eigenen Stärken auszubauen. In künftigen Wettbewerben könnten sich dann ganz andere Ranglisten ergeben - zumal dann, wenn zum Beispiel die Exzellenzkriterien passgenauer für die Geistes- und Kulturwissenschaften sind, und wenn statt der Forschung auch die herausragende Lehre eine Rolle spielt.

Sie alle wissen, wie groß der Handlungsdruck in der Lehre ist. Dass immer noch ein Viertel der Studierenden das Universitätsstudium abbricht, dass die deutliche Überschreitung der Regelstudienzeit eher die Regel denn die Ausnahme zu sein scheint, dass in manchen Fächern die Examensvorbereitung durch private Trainer teure Normalität ist, liegt sicher nicht alleine in der Verantwortung der Hochschulen. Es ist und bleibt aber eine unerhörte Verschwendung von Lebenszeit und Lebenschancen, von geistigen und von finanziellen Ressourcen. Wir brauchen mehr - und nicht weniger - engagierte Lehrende, und wir brauchen eine bessere Lehre an den Hochschulen, wenn die laufende Studienreform bei steigenden Studierendenzahlen Erfolg haben soll! Mit großer Spannung erwarte nicht nur ich die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Stärkung der Qualität von Lehre und Studium. Dabei sollte klar sein: Die Förderung der Lehre und der Forschung darf nicht in Realkonkurrenz stehen. Das "Mehr" für die eine darf nicht zulasten der anderen gehen. Gerade wer die Humboldt´sche Einheit von Forschung und Lehre mit neuer Vitalität erfüllen will - und das sollte unser Ziel sein -, der muss die Lehre aus ihrem Stiefkind-Dasein an deutschen Hochschulen befreien. Dazu braucht es auch angemessene Mittel: Der Hochschulpakt, auf den Bund und Länder sich im vergangenen Jahr geeinigt haben, kann nur ein erster Schritt sein, um die Hochschulfinanzierung auf neue, solide Grundlagen zu stellen.

Dazu braucht es aber auch mehr Einsatz seitens der Lehrenden: Wer in der Lehre nur eine lästige Verpflichtung sieht, der hat seinen Beruf als Hochschullehrer verfehlt und verpasst überdies die Chance, junge Menschen für ein Fach zu begeistern, zum Fortschritt darin zu befähigen und - von ihnen zu lernen.

Viel ist derzeit in Bewegung in unserer Wissenschaftslandschaft. Ob dabei Substanz und Richtung stimmen, darüber wird nicht zuletzt der Wissenschaftsrat mit zu wachen haben, und ich bitte den Wissenschaftsrat, das mit Ehrgeiz anzugehen. "Prüfet alles, das Gute behaltet": Dieser Übung nach Anweisung des Hl. Paulus hat sich der Wissenschaftsrat in den vergangenen fünfzig Jahren schon des Öfteren unterzogen - am intensivsten wohl Anfang der 90er Jahre, in der Phase der Bewertung der außeruniversitären Forschung der ehemaligen DDR.

Und wie in diesem Fall sollte der Wissenschaftsrat auch künftig offen dafür sein, die eigenen Verfahren und Ergebnisse kritisch hinterfragen zu lassen - das dürfte neben der Unabhängigkeit der ehrenamtlichen Ratsmitglieder aus Wissenschaft und Gesellschaft die beste Vorsorge sein gegen den Vorwurf, ein Machtkartell der "beati possidentes" zu sein.

Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates haben besonderes Gewicht - aber der Wissenschaftsrat ist seit einigen Jahren auf dem Gebiet der wissenschaftspolitischen Beratung nicht mehr alleine, und das ist gut so, denn Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft. Das erleben auf anderem Feld gerade die Wirtschaftsforschungsinstitute. Und weil der Zwang zum Konsens zwischen Ratgeber und Ratnehmer im Wissenschaftsrat ja quasi "eingebaut" ist, sollte er sich freuen über Impulse von außen: aus "Denkfabriken" oder von einzelnen "Wissenschaftswissenschaftlern".

Wo Politik über komplexe Fragen entscheidet, will sie gut beraten sein - und gottlob sieht sie das imer öfter genauso. Ihre Nachfrage nach Beratung aus der Wissenschaft über die Wissenschaft verändert auch immer wieder das Feld der Anbieter. Im nächsten Monat feiere ich mit "acatech", dem Konvent für Technikwissenschaften, dass er Nationale Akademie wird. Ob wir weitere Veränderungen in der Architektur der Akademienlandschaft erleben werden, steht noch dahin; Empfehlungen dazu hat der Wissenschaftsrat vorgelegt. Letztlich aber liegt die Entscheidung hier bei der Politik, das heißt bei den demokratisch legitimierten Parlamenten und Regierungen.

Zum Geschäft der guten Politikberatung gehört aus meiner Sicht auch, nachzuverfolgen, was die Adressaten daraus gemacht haben. Erst vor wenigen Jahren hat der Wissenschaftsrat sich vorgenommen, die eigene Wirksamkeit systematischer zu überprüfen. In diesem Vorsatz möchte ich ihn bestärken. Und auf einem Feld ist es mir besonders wichtig, dass der Wissenschaftsrat die Maßstäbe, die er an das Wissenschaftssystem anlegt, auch in der eigenen Organisation umsetzt: Mit dem Wissenschaftsrat bin ich überzeugt, dass wir mehr dafür tun müssen, um qualifizierten Frauen bessere Chancen in der Wissenschaft zu eröffnen. Dazu gehört eben auch, dass sie angemessen im Wissenschaftsrat selbst vertreten sind. Vorschlagslisten ohne weibliche Kandidaten sollten also deswegen eigentlich der Vergangenheit angehören.

Wenn ich mir heute auch ein paar kritische Anmerkungen zum Wissenschaftsrat erlaubt habe, dann aus der Überzeugung heraus, dass wir nicht ehrgeizig und beharrlich genug sein können, wenn es darum geht, Wissenschaft und Bildung voran zu bringen in Deutschland. Letztlich ist das der aussichtsreichste Weg für unser Land, das zu erreichen, was wir alle wollen: Frieden, soziale Gerechtigkeit, Wohlstand. Deswegen dürfen hier nicht nur rhetorisch Prioritäten gesetzt werden - es braucht die entsprechenden Ressourcen - und dafür bedarf es politischer Unterstützung.

Beim Blick auf das Programm der heutigen Festveranstaltung mit der Einlage von Herrn von Hirschhausen könnte die Frage aufkommen: Ist der Wissenschaftsrat ein Fall fürs Kabarett? Gewiss nicht. Trotzdem ist es gut, wenn eine Institution, die der Wissenschaftspolitik den Spiegel vorhalten soll, sich immer wieder selber bespiegeln lässt. Der Wissenschaftsrat hat diese Aufgabe heute nicht allein einem Eulenspiegel anvertraut, sondern auch einem veritablen Wissenschaftler: Lieber Herr Frühwald, ich freue mich auf Ihren Festvortrag!