Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler anlässlich der Eröffnung der Neuen Messe Stuttgart

Schwerpunktthema: Rede

Stuttgart, , 19. Oktober 2007

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult

"Der Schwabe tut gerne so, als ob er arm sei. Aber er ist beleidigt, wenn andere ihm das glauben." Typisch Manfred Rommel! Und ich musste an ihn denken, als ich mir vorhin auf dem Weg hierher einen ersten Eindruck von der Architektur der Neuen Messe Stuttgart machen konnte.

Schon vom Flugzeug aus konnte ich die geschwungene Form der Messehallen, die Dachbegrünung und die auffällige Brückenkonstruktion über die Autobahn erkennen. Ja, es ist wirklich eine "Landschaft beschwingter Dächer" geworden. Besonders beeindruckt hat mich, dass diese Konstruktion nicht nur elegant ist, sondern auch noch ökologisch vorbildlich, weil Material sparend beim Bau und Energie sparend im Betrieb. Herzlichen Glückwunsch also zu dieser neuen Messe.

Messen sind Marktplätze und damit Orte der Begegnung - für Menschen aus aller Welt. Zehn Millionen Besucher zählen die deutschen Messen pro Jahr, jeder zweite Aussteller und jeder dritte Fachbesucher kommt aus dem Ausland. Das Messewesen ist also ein gutes Beispiel dafür, wie sehr Deutschland Teil unserer globalisierten Welt geworden ist.

Die Globalisierung hat Deutschland als Exportnation eindeutig mehr Chancen als Probleme gebracht. Wir profitieren davon, dass weltweit - nicht zuletzt in den aufstrebenden Schwellenländern - deutsche Waren gefragt sind und dass deutsche Ingenieurskunst überall hoch geschätzt wird.

Zu dem starken Wirtschaftsaufschwung haben neben der guten Weltkonjunktur eine vernünftige Tarifpolitik und die zum Teil ja nicht einfachen Umstrukturierungen der Unternehmen beigetragen.

Aber auch die mutige Reformpolitik in den vergangenen Jahren hat ihren gewichtigen Anteil. Heute stellen wir fest, dass ausländische Unternehmen wieder stärker in Deutschland investieren. Und deutsche Unternehmen, die Produktion ins Ausland verlagert hatten, kommen zum Teil nach Deutschland zurück. Die Investitionsfreude der Unternehmen bleibt nach jüngsten Umfragen auch für die absehbare Zukunft wichtigster Treiber der guten wirtschaftlichen Entwicklung. Das alles schafft Wachstum und Arbeit: In den vergangenen zwölf Monaten sind in Deutschland täglich über 1.900 neue Arbeitsplätze entstanden, insgesamt in den letzten zwei Jahren über 1,3 Millionen. Ein weiterer Pluspunkt: Von dieser guten Entwicklung profitieren überdurchschnittlich viele ältere Arbeitnehmer. Auch bei den Langzeitarbeitslosen zeigen sich erste Verbesserungen.

Diese Erfolge sind von unschätzbarem Wert - für alle, die in Arbeit kommen, und für ihre Familien, Freunde und Bekannten. Denn Arbeit haben, das bedeutet Genugtuung über selber erarbeitetes Einkommen, das bedeutet Teilhabe am beruflichen Miteinander und das schützt vor dem Gefühl, nutzlos abseits zu stehen. Arbeitslosigkeit kann ganze Familien zermürben; sie kostet Lebenschancen, auch und gerade die Lebenschancen von Kindern; und sie verbreitet im Freundes- und Bekanntenkreis die lähmende Unsicherheit: Das kann auch uns passieren. Darum ist es so wichtig, dafür zu sorgen, dass weiterhin viele neue Arbeitsplätze entstehen und dass niemand lange in Arbeitslosigkeit verharren muss.

Dass inzwischen wieder so viele Arbeitsplätze entstehen, das liegt auch daran, dass heute in Deutschland schon bei einem Wirtschaftswachstum von gut einem Prozent neue Mitarbeiter eingestellt werden. In den 90er Jahren waren dafür noch über zwei Prozent Wirtschaftswachstum notwendig. Die Veränderungen der letzen Jahre haben also die Beschäftigungsschwelle des Wachstums gesenkt. Ich halte das für einen ganz zentralen Punkt, der mit Blick auf die gegenwärtige und die künftige Arbeitsmarktentwicklung große Aufmerksamkeit verdient.

Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass Vollbeschäftigung möglich ist in Deutschland. Baden-Württemberg tritt ja fast schon den Beweis dafür an. Ich gratuliere dazu!

Der wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Kurs der vergangenen Jahre war also erfolgreich und sollte fortgesetzt werden, zumal wir doch wissen: Die konjunkturelle Lage wird mit Sicherheit auch einmal wieder schwieriger werden. Also lautet mein Rat: Nutzen wir die günstige Konjunktur und die Erfolge am Arbeitsmarkt als Rückenwind für weitere strukturelle Verbesserungen!

Gute Politik sollte stärken, was Arbeit schafft, und sollte immer vor Augen haben, wer Arbeit schafft: Gerade mittelständische Unternehmen - oft Familienunternehmen - sind es, die sich in der Globalisierung behaupten und für Arbeit und Einkommen sorgen. Wir müssten den global agierenden Unternehmen auf zentralen Politikfeldern - bei den Steuern, beim Bürokratieabbau, bei den Finanzierungsbedingungen - unsere besondere Aufmerksamkeit widmen. Aber ich frage mich, ob wir das tun?

Und wir sollten auch nicht vergessen, wer die Mittel erarbeitet, die unsere hohen Sozialstandards erst möglich machen. Es ist vor allem die breite Mittelschicht, es sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Facharbeiter, die Angestellten, die mit ihren Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern unser Gemeinwesen tragen. Diejenigen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten, sollten erleben, dass sich ihre Arbeit lohnt. Werden wir heute eigentlich den Bedürfnissen und Sorgen dieser Leistungsträger in der Mittelschicht gerecht?

Der Schlüssel zum Erfolg in der Welt des 21. Jahrhunderts ist Bildung. Warum das so ist, brauche ich Ihnen in Baden-Württemberg nicht zu erklären. Noch vor 150 Jahren gehörte der deutsche Südwesten zu den ärmsten Regionen Deutschlands. Heute steht er in vielen Bereichen an der Spitze der Entwicklung. Der Weg Baden-Württembergs zum "Musterländle" war vor allem ein Bildungsweg, zuletzt mit dem Aufbau eines Netzes von Fachhochschulen und Berufsakademien. Bildung ist - man kann es gar nicht oft genug sagen - für den einzelnen Menschen die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Und für unser Land als Ganzes ist sie der wichtigste Grundstoff für Leistungsfähigkeit und Erfolg auch in der Zukunft.

Nach allen seriösen Untersuchungen gibt es im deutschen Bildungswesen heute aber deutliche Defizite und erheblichen Reformbedarf. So ist es ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, dass fast zehn Prozent eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss verlassen. Es ist beschämend, dass in Deutschland die Wahrscheinlichkeit, eine höhere Schulbildung absolvieren zu können, so sehr wie in keinem anderen Industrieland vom Einkommen und der Vorbildung der Eltern abhängt. Es ist ungerecht und eine Verschwendung wertvollen Potenzials, dass ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie im Vergleich zu dem Kind eines Akademikerpaares nur ein Viertel der Chancen hat, aufs Gymnasium zu kommen. Es ist alarmierend, dass die Hälfte aller Auszubildenden ihre Lehre nicht mehr vor Ort in einem Betrieb absolviert, sondern in öffentlich finanzierten Ausbildungsprogrammen. Angesichts des aufkommenden Facharbeitermangels sollte dies vor allem den Betrieben selbst zu denken geben.

Wir können es uns nicht leisten, Talente brach liegen zu lassen. Denn das ist nicht nur ökonomisch unvernünftig; das gefährdet auch den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Das Thema Bildung muss daher bei Bund und Ländern erste Priorität haben. Auch wenn die Bildungspolitik in erster Linie Sache der Länder ist - Bund und Länder brauchen gemeinsame strategische Ziele, um unser Bildungswesen wieder auf die Höhe der Zeit zu bringen. Wir brauchen eine möglichst frühe und individuelle Förderung unserer Kinder; wir brauchen mehr Exzellenz in Forschung und Lehre und mehr Hochschulabsolventen, vor allem in den Natur- und Ingenieurwissenschaften. Wir brauchen mehr Bereitschaft zum lebenslangen Lernen und bessere Angebote dafür. Und alles das bedeutet dann auch: Wir brauchen deutlich mehr Geld für Bildung und Wissenschaft. Vor allem an dieser Stelle stellen wir die Weichen für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Handeln wir schon entsprechend kraftvoll? Die Chancen der Globalisierung werden wir nur dann optimal nutzen - und es sind große Chancen - wenn wir im Wettbewerb der Wissensgesellschaften um Erkenntnisfortschritt und Innovation in breiter Form die Nase vorn haben. Die beiden jüngsten Nobelpreise für Physik und Chemie an deutsche Wissenschaftler erfüllen uns mit großer Freude. Aber sie sollten uns keine Beruhigung, sondern ein zusätzlicher Ansporn sein.

Wir erleben heute, dass die beruflichen Anforderungen sich infolge des wissenschaftlichen Fortschritts ständig verändern. Wer Sicherheit sucht, findet sie heute nicht mehr in der Beharrung, im Festhalten am Erreichten, sondern im Streben nach Neuem und Besserem. Oder mit den Worten Willy Brandts: "Es muss (...) in das selbstverständliche Bewusstsein der Bürger eindringen, dass Sicherheit nur in der Dynamik, Stabilität nur im Wachstum, Aufstieg nur über Bildung und Ausbildung und Kontinuität nur im Wandel zu erreichen und zu bewahren sind."

Wir leben in einem Land, das von seiner Offenheit nach außen geprägt ist und davon viele Vorteile hat. Das ist Ansporn und Verpflichtung zugleich. Wir haben viele kluge Köpfe und fleißige Hände. Gestalten wir das Leben so, wie es uns lebenswert erscheint; jeder einzelne dort, wo er zu Hause ist. Wer seine Wurzeln kennt und zu ihnen steht, der kann auch offener und optimistischer dem entgegentreten, was die Globalisierung von außen bringt. Wir müssen daher gerade auch die kleinen Lebenskreise stärken, die Familien, Freundschaften und gute Nachbarschaft, die Heimat. Sie gibt - wie die Bildung - Sicherheit in einer unübersichtlicheren Welt. Schätzen und pflegen wir daher das, was uns zu Hause wichtig ist. Und seien wir offen für das, was uns die Welt zu bieten hat.

Ihnen allen wünsche ich für die nächsten Tage und darüber hinaus viel Spaß auf der Neuen Messe, gute Gespräche, interessante Begegnungen und bewegende Ideen.