Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler anlässlich der Eröffnung des Museums Gunzenhauser

Schwerpunktthema: Rede

Chemnitz, , 1. Dezember 2007

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult, im Hintergrund ein Foto des Museums Gunzenhauser

Vielleicht darf ich diese kleine Rede mit einem Paradox einleiten: Kunst ist nicht notwendig. Kunst ist mehr als notwendig.

Tatsächlich kann man sich eine Stadt auch ohne Museum denken. Tatsächlich kann man sich ein Gemeinwesen auch ohne Kunst, also ohne Theater, ohne Kinos, ohne Oper, ohne Bibliotheken und eben auch ohne Museen vorstellen. Braucht es mehr als genügend Arbeitsplätze, eine passable Infrastruktur, Schulen, Ausbildungsplätze und eine funktionierende Verwaltung? Nein, so kann man sagen: Alles was darüber hinausgeht, das ist nicht notwendig.

Das ist richtig: Notwendig ist es nicht. Aber weil wir ganze Menschen sind, Menschen mit Leib und Seele, mit Herz und Verstand, brauchen wir manchmal mehr als das Notwendige. Manchmal brauchen wir sogar das nicht Notwendige mehr als alles andere.

Die ältesten archäologischen Funde zeigen: Seitdem es den Menschen gibt, macht er mehr als das Notwendige, seitdem es den Menschen gibt, produziert er Kunst.

Der Mensch ist anfällig für das nicht Notwendige, für das scheinbar Überflüssige, das nicht sofort für den Alltag oder das Überleben Brauchbare. Der Mensch ist anfällig für das Schöne.

Deswegen werden auch in den Zeiten knapper Kassen Museen eröffnet in unserem Land - und deswegen freuen wir uns heute, dass die Sammlung Gunzenhauser in Chemnitz ein Zuhause bekommen hat und so der Öffentlichkeit zugänglich wird, die hier in Chemnitz traditionell der Kunst besonders aufgeschlossen gegenübersteht.

Es freut mich, dass Sie so entschieden zugegriffen haben, als sich die Chance bot, diese einmalige Sammlung hier in Chemnitz zu präsentieren. Für die Stadt und für die Region wird damit wieder einmal ein kulturelles Zeichen gesetzt. Bei allem wirtschaftlichen Aufschwung, den es hier zum Glück gibt, haben Sie deutlich erkannt, wie wichtig kulturelles Engagement für das Selbstgefühl, für das Selbstverständnis und auch für das Selbstbewusstsein einer Bürgerschaft ist. Das Interesse und das starke bürgerliche Engagement für die Kunst tun der Stadt gut.

Es ist eine besondere Sammlung, die sich heute in die schon bisher herausragende Kunstlandschaft von Chemnitz einfügt. Es sind Meisterwerke der klassischen Moderne, der europäischen und deutschen Avantgarde des letzen Jahrhunderts; es sind wunderbare Bilder, die heutzutage viele Menschen anziehen.

Wie sehr die Menschen dieses nicht Notwendige, aber mehr als Notwendige brauchen, konnten wir neulich wieder in Berlin erleben, als die große Ausstellung der französischen Impressionisten aus New York in der Nationalgalerie gezeigt wurde. Schon im Mai waren alle Führungen bis in den Oktober hinein ausgebucht.

Ständige Ausstellungen haben für gewöhnlich nicht einen solchen Massenandrang zu verzeichnen. Aber auch die durch diese Sammlung Gunzenhauser ergänzte Museumslandschaft hier in Chemnitz wird großen Publikumszuspruch haben, da bin ich mir ganz sicher.

Der Zuspruch zu solcher Kunst ist nicht selbstverständlich. So wie die Kunst der Impressionisten, die in Berlin noch einmal so triumphal erfolgreich war, anfangs auf starke Ablehnung gestoßen ist, so hat auch die Kunst der Sammlung Gunzenhauser eine sehr wechselvolle Geschichte hinter sich. Es ist genau diese Kunst, die in der Zeit des Nationalsozialismus als "entartet" galt und daher aus dem öffentlichen Museum entfernt wurde. Mit der Berufung auf das so genannte "gesunde Volksempfinden" wurden Bilder beiseite geschafft, wurden verboten und verbannt, Künstler wurden ins Exil getrieben. Auch hier in Chemnitz sind durch diesen Wahn viele Lücken in die Sammlung gerissen worden, die nun durch die Bilder in dem schönen neuen Haus langsam wieder gefüllt werden.

Wir sollten aber auch an diesem Feiertag nicht vergessen, dass Gegenwartskunst immer umstritten ist. Das ist dann nicht weiter schlimm, wenn darüber zivil gestritten und debattiert wird, wenn es Auseinandersetzungen gibt, die die Beteiligten mit Respekt führen und in einer Weise, dass alle davon geistig gewinnen. So konnte ich das im August erleben, als ich die wunderbare Skulpturenausstellung in Münster in Westfalen besucht habe, die dort unter freiem Himmel über das ganze Stadtgebiet verteilt zu sehen war. In Münster sind längst nicht alle Arbeiten auf Akzeptanz oder Bewunderung gestoßen. Die Bevölkerung und die Gäste haben engagiert darüber diskutiert. In einer zivilen Gesellschaft hat auch und gerade diejenige Kunst, die verstört oder erschreckt oder einfach nur festgefahrene Seh-Gewohnheiten irritiert, einen Platz.

Künstler sind eigensinnige Menschen. Gerade deswegen sind sie mehr als notwendig. Wir brauchen in unserer Gesellschaft die Individualisten, die Eigensinnigen. Sie eröffnen uns Sichtweisen auf die Welt, auf die wir selbst nicht kommen, auf die wir uns aber mit Gewinn einlassen können.

Und selbst wenn wir diese Sichtweise ablehnen: Das Recht auf Eigensinn, das gehört zu unserer freien und freiheitlichen Gesellschaft und das werden wir uns nicht nehmen lassen, sondern verteidigen.

Indem die Stadt Chemnitz heute ein neues Museum eröffnet, indem sie dieses Museum eröffnet, mit den zum Teil einst verfemten Werken aus der Sammlung Gunzenhauser, gibt sie nicht nur ein leuchtendes Bekenntnis ab zur Kunst, sondern auch zum Eigensinn des Individuums und damit zur freiheitlichen Gesellschaft, die diesen Eigensinn schätzt - und schützt.

Die Werke eines besonders eigensinnigen Künstlers habe ich mir gerade vor dieser Veranstaltung nebenan angesehen. Der Versuchung, mir einmal Malerei von Bob Dylan anzuschauen, konnte ich nicht widerstehen. Ich gratuliere Chemnitz auch zu dieser einmaligen Ausstellung. Dieser großartige Liedermacher und Sänger Bob Dylan, den ich seit langem schätze, hat sein Publikum immer wieder überrascht und irritiert - aber in all seinen Wendungen immer wieder mit wunderbaren Liedern beschenkt. Schon in einem sehr frühen Lied hat er nicht nur ein Bekenntnis zum eigenen, künstlerischen Eigensinn abgelegt, sondern auch seine Hörer dazu aufgerufen, ihren eigenen Weg zu finden: "Don't follow leaders."

Auch bedeutende Sammler sind eigensinnige Menschen. Sie folgen nicht der Mode, dem Zeitgeist, auch keinen Kunstpäpsten oder sonstigen "leaders", sondern ihrem Geschmack und ihrem Kunstverständnis. Ein solcher Sammler sind Sie, Herr Dr. Gunzenhauser. Herzlichen Dank für die Stiftung Ihrer Sammlung hierher nach Chemnitz. Menschen wie Sie beweisen, dass Eigensinn und Bürgersinn sich nicht ausschließen, sondern zusammengehören.

In diesem Sinne freue ich mich, wenn heute die Sammlung Gunzenhauser in Chemnitz eröffnet werden kann. Viel Erfolg und vielen Dank!

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