Ansprache von Bundespräsident Horst Köhler bei der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Herrn Landesrabbiner Dr. Henry G. Brandt

Schwerpunktthema: Rede

Bonn, Villa Hammerschmidt, , 2. März 2008

Der Bundespräsident und Landesrabbiner Brandt reichen sich die Hände.

Herzlich willkommen in der Villa Hammerschmidt, dem ersten Amtssitz eines Bundespräsidenten nach 1945. Ich freue mich sehr darüber, heute Abend hier einen weit über unser Land hinaus hoch angesehenen Rabbiner mit dem Verdienstkreuz Erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland auszuzeichnen. Sie, verehrter Herr Rabbiner Brandt, haben viele jüdische Gemeinden - in Deutschland und anderswo - zum Blühen gebracht und unermüdlich das gedeihliche Miteinander der Religionen gefördert.

Ich freue mich auch darüber, dass wir heute Abend zugleich die Institution würdigen, der Sie schon lange als jüdischer Präsident dienen und die nun bald sechzig Jahre alt wird: den Deutschen Koordinierungsrat, der als Dachverband von mehr als 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit den Dialog und das gegenseitige Verständnis von Juden und Christen in Deutschland voranbringt. Herzlich willkommen allen Mitgliedern, und ebenso herzlich willkommen auch den Repräsentanten des International Council of Christians and Jews, dem Dachverband von 38 jüdisch-christlichen Organisationen weltweit. Ich begrüße und gratuliere schließlich Herrn Stef Wertheimer - Ihnen wurde heute Vormittag bei der feierlichen Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen -, meinen herzlichen Glückwunsch dazu, und möge Ihnen diese schöne Auszeichnung im vierzigsten Jahr ihres Bestehens extra viel Freude machen.

Sie, lieber Herr Rabbiner Brandt, haben vor einigen Monaten Ihren zweiten vierzigsten Geburtstag gefeiert. Wer Ihre Biographie betrachtet, bekommt unweigerlich das Gefühl: Das von Ihnen Erlebte, Erfahrene und Erlittene hätte für mehr als eine Lebensgeschichte gereicht.

Am Anfang dieser Lebensgeschichte stand eine Überlebensgeschichte: Als jüdische Deutsche mussten Sie und Ihre Familie vor dem Terror der nationalsozialistischen Herrscher fliehen. Sie sind nach Palästina entkommen - ein Glücksfall in dem riesigen Meer von Unglück. Von Ihrer Kindheit in München blieben Ihnen Erinnerungen: an den weltoffenen Geist der liberalen jüdischen Gemeinde ebenso wie an den dumpfen, mörderischen Rassenwahn.

In Palästina dann der erste Neubeginn: Sie halfen mit, den Boden zu bereiten, auf dem vor 60 Jahren der Staat Israel gegründet wurde - als landwirtschaftlicher Helfer im Kibbuz, als Flottenoffizier, der gegen den Willen der britischen Mandatsmacht jüdische Flüchtlinge ins Land brachte. Ihr Studium der Wirtschaftswissenschaften brachte Sie dann nach Großbritannien und mittelbar auch zu dem wohl bedeutsamsten Neuanfang in Ihrem Leben: Mit dreißig Jahren - Sie standen schon mitten im Berufsleben und hatten eine Familie gegründet - entschlossen Sie sich, am gerade erst gegründeten und später nach Leo Baeck benannten College in London eine Ausbildung zum Rabbiner zu machen. Und in der Rückschau zeigt sich: Sie haben damals nicht nur einen neuen Beruf ergriffen - Sie wurden von Ihrer Berufung ergriffen.

Ein halbes Jahrhundert ist das nun her. Knapp die Hälfte davon wirkten Sie als Gemeinderabbiner; erst in Großbritannien, später in der Schweiz und dann in Schweden. Dann kam ein Schritt, der mehr war als noch ein Umzug: Sie taten den Schritt zurück nach Deutschland, in das Land, aus dem Sie vertrieben worden waren, in das Land mit einer uralten jüdischen Tradition, von dem der Versuch ausging, alle jüdische Tradition in Europa auszureißen und alles jüdische Leben in Europa zu vernichten. Als Landesrabbiner - zunächst von Niedersachsen, dann von Westfalen-Lippe - hegten und pflegten Sie die zarten Pflanzen jüdischen Gemeindelebens, die nach dem Holocaust in Deutschland wieder aufgekeimt waren. Und statt den verdienten Ruhestand zu genießen, haben Sie vor wenigen Jahren noch einmal eine jüdische Gemeinde übernommen: Die Augsburger dürfen sich glücklich schätzen!

Sie waren und sind ein großer Glücksfall für unser Land und für die jüdische Gemeinschaft, weil Sie so vieles in Ihrer Person vereinigen: intime Kenntnis des hiesigen kulturellen Umfelds und große Weltläufigkeit, Freude an der Vermittlung der alltäglichen Glaubenspraxis und Lust an akademischer Gelehrsamkeit, selbstbewusste Pflege der spirituellen Reichtümer des Judentums und einladende Offenheit gegenüber dem nichtjüdischen Umfeld.

Dies alles ließ Sie bestens vorbereitet sein für den gewaltigen Neuaufbruch, den die jüdischen Gemeinden in Deutschland nahmen, als nach der Wende in Osteuropa Zehntausende von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Ihnen, lieber Herr Rabbiner Brandt, gebührt - wie auch dem deutschen Rabbinat und den vielen, vielen Ehrenamtlichen - großer Dank dafür, dass Sie sich dieser Herausforderung, die ja zugleich auch eine riesige Anstrengung bedeutet, gestellt haben; mit Optimismus und mit langem Atem.

So ist viel Gutes in Gang gekommen: Zum ersten Mal seit der Nazi-Diktatur werden in Deutschland wieder Rabbiner ordiniert; neue Synagogen werden errichtet - so wie in Ihrer Geburtsstadt München, wo mit der Einweihung der wunderbaren neuen Hauptsynagoge das jüdische Leben wieder in die Mitte der Stadt zurückgekehrt ist. Sie haben dieses Wiedererblühen des Judentums in Deutschland mehr als einmal ein Wunder genannt. Das ist es gewiss. Und es ist ein Geschenk für unser Land - ein Geschenk, das uns zugleich gemahnt, wachsam zu bleiben gegenüber allen Anzeichen von Antisemitismus, Antijudaismus und Fremdenfeindlichkeit.

"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist" - dieses Wort von David Ben Gurion ist Motto der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit. Hinter manchem, was man "Wunder" nennt, verbirgt sich allerdings auch harte Arbeit. Dass es vor zwei Jahren ein Spitzentreffen zwischen Vertretern des Vatikan, der christlichen Kirchen und der Rabbiner Deutschlands gab; dass morgen in Düsseldorf zum dritten Mal ein Begegnungstreffen zwischen Rabbinern und christlichen Kirchen in Deutschland stattfindet - das sind auch Früchte Ihrer aller Arbeit, liebe Anwesende.

Und dass wir wieder guten Mutes von Geschwisterlichkeit zwischen Juden und Christen sprechen dürfen, das verdanken wir Menschen wie Ihnen, verehrter Herr Rabbiner Brandt. Sie sind ein Freund des offenen Wortes, Sie verbinden Selbstbewusstsein mit Gelassenheit. Zum interreligiösen Dialog gehört zuallererst das Verstehen der eigenen Herkunft und ihrer Tradition, so lautet Ihr Credo. Zu Recht, denn wer einen Dialog führen möchte, muss nicht nur zuhören können, sondern sollte auch selber etwas zu sagen haben, sollte Verbindendes und Trennendes klar benennen können.

Wie tief bei Juden und Christen beides, Verbindendes wie Trennendes, in der Geschichte verwurzelt ist, das haben Sie selbst einmal in anrührenden Worten so formuliert: "Ich lebe gern in meinem Volke Israel und bewundere den neben mir wachsenden Baum des Christentums. Hätte man die Dinge vor und während zweitausend Jahren so gesehen, wäre uns die blutige und tragische Geschichte unserer bisherigen Beziehungen erspart geblieben."

Verehrter Herr Rabbiner Brandt, Sie haben Ihre ganze Kraft dafür eingesetzt, dass gute Gemeinsamkeit wächst. Darum freue ich mich sehr, Sie nun im Namen der Bundesrepublik Deutschland mit dem Verdienstkreuz Erster Klasse ehren zu können. Ich wünsche Ihnen weiterhin Gesundheit, Schaffenskraft und Freude und Gelingen bei allem, was Sie sich weiter vornehmen.