Laudatio von Bundespräsident Horst Köhler auf Professor Odo Marquard anlässlich seines 80. Geburtstages und der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 13. März 2008

Der Bundespräsident steht am Rednerpult, daneben stehen Frau Köhler, Herr und Frau Marquard

"Das Leben ist kurz": Dieser Satz ist in Ihren Schriften oft zu finden. Das Leben ist kurz: Das ist einer der Ausgangspunkte Ihres Denkens und Ihrer Philosophie.
Meistens wird der Satz ergänzt. Es heißt dann: "Das Leben ist zu kurz, um ..." - zum Beispiel, um alles auszuprobieren, oder zum Beispiel, um alle Gedanken zu Ende zu denken. Es ist auch zu kurz, um alles zu revolutionieren und sich selbst und die Gesellschaft und die Menschheit neu zu erfinden.

Weil das Leben zu kurz ist, so Ihre These, muss man an vieles anschließen, was es schon gibt, muss man sich verlassen auf das, was sich bewährt hat, muss man an der Stelle anfangen zu denken, zu leben und zu arbeiten, an die man gestellt ist, an der man sich vorfindet. Das Leben ist zu kurz, um alles auf den Kopf zu stellen. Mit dieser Überzeugung wird man, wenn ich es richtig sehe, ein lebenskluger Konservativer.

Ich will diesen Gedanken über die Kürze des Lebens jetzt nicht weiter ausführen, denn eines steht auf jeden Fall fest: Das Leben ist zu kurz, um lange Geburtstagsreden zu halten, erst recht dann, wenn man, wie wir heute Mittag, zu einem kleinen Fest zusammen gekommen ist, um miteinander zu sprechen, zu essen und ein bisschen zu feiern. Eine lange Rede über Leben und Werk des zu Ehrenden verbietet sich für mich auch deshalb, weil Sie, liebe Gäste, bestens mit Odo Marquard vertraut sind.

So will ich hier vor allem eines tun, nämlich danken. Zunächst danke ich dafür, dass Sie, Herr Professor Marquard, meiner Einladung hierher ins Schloss Bellevue gefolgt sind und dass Sie einige Freunde, Kollegen und Schüler mitgebracht haben, vor allem aber Ihre verehrte Frau. Seien Sie alle ganz herzlich Willkommen.

Es ist nicht selbstverständlich, dass Philosophen um ihrer selbst willen beim Staat zu Gast sind. Heute soll das so sein. Sie sind nicht als Politikberater hier, Sie sind auch nicht hier, weil wir uns mit Ihnen schmücken oder Sie auf eine andere Weise instrumentalisieren möchten. Sie sind hier, weil ich Ihnen danken möchte, und zwar ganz ausdrücklich als deutscher Bundespräsident, für das, was Sie für unser Land geleistet haben.

Die Geisteswissenschaften und unter ihnen die Philosophie haben zurzeit keinen leichten Stand. Wie weit das möglicherweise selbst verschuldet ist oder wie weit das gewissen geistigen oder, besser gesagt, ungeistigen Strömungen der Gegenwart zuzurechnen ist, will ich hier nicht erörtern.

Sie, Herr Professor Marquard, haben über die Vernachlässigung der Geisteswissenschaften durch die Gesellschaft nie gejammert. Im Gegenteil: Sie haben immer sehr selbstbewusst und unbeirrt von der Notwendigkeit der Geisteswissenschaften gesprochen. Ja mehr noch: Für Sie sind Geisteswissenschaften nicht nur notwendig, sondern schlicht unvermeidlich.

Immer wieder haben Sie herausgestellt, dass wir um das Denken, um das Philosophieren und um die Geisteswissenschaften eigentlich gar nicht herum kommen können - es sei denn, um den Preis des Dummbleibens, um den Preis der Unfähigkeit, das Leben zu meistern und die anstehenden Probleme des eigenen Lebens und der Gesellschaft als ganze so gut wie möglich zu bewältigen.

Weil das Leben kurz ist und weil wir begrenzte und endliche Wesen sind, können wir nicht in allen Dingen, nicht einmal in allen relevanten Dingen, kompetent sein.
Es ist eher umgekehrt: In den allermeisten Dingen und auf den allermeisten Feldern sind wir als einzelne inkompetent. Wir können nicht alles können, wir können nicht alles wissen, wir können nicht alles selber erfahren. Diese nicht hintergehbare grundlegende Inkompetenz können wir aber meistern, wenn wir sie kompensieren.
Die Inkompetenz des Einzelnen können wir kompensieren, so haben Sie geschrieben, indem wir uns mit möglichst vielen anderen Menschen auseinander setzen. Unsere kurze Lebenszeit gewinnt umso mehr an Erfahrung und Fülle, je mehr wir diese Lebenszeit, wie Sie es einmal ausgedrückt haben, "mit anderen Lebenszeiten synchronisieren".

Die Inkompetenz, die durch die Begrenztheit unserer Wissens- und Erfahrungsmöglichkeiten bedingt ist, können wir kompensieren, indem wir zu denken lernen, zu urteilen lernen, zu verstehen lernen, indem wir Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden lernen. Das aber ist von Anfang an der Sinn der Philosophie und des Nachdenkens in den Geisteswissenschaften. Dass man auch lernt, Sinn von Unsinn zu unterscheiden, ist dabei immer Ihre Hoffnung gewesen und Sie haben es in Abwandlung eines Satzes von Wilhelm Busch so formuliert: "Der Sinn - und dieser Satz steht fest - ist stets der Unsinn, den man lässt."

Wenn es gut geht, erreichen wir durch philosophisches Denken das, was Sie mit einer wunderbaren Worterfindung so einzigartig bezeichnet haben: Nämlich die "Inkompetenzkompensationskompetenz". Das heißt, wir lernen, mit unserer Inkompetenz kompetent umzugehen. Wir können sie durch skeptisches Denken kompensieren.

Skeptisches Denken ist ein weiterer Ihrer zentralen Begriffe. Die Skepsis, die schon in der Antike eine philosophische Haltung war, ist ganz grundlegend für Ihr Denken: Skepsis gegenüber Alleskönnern, Alleswissern, Alleslösern. Skepsis gegenüber totalen Erklärungen, totalen Systemen, totalen Umstürzen, totalen Reformen.
Diese Haltung ist, Sie selber haben immer wieder darauf hingewiesen, durch Ihre frühe Lebenserfahrung mitgeprägt, als Sie auf einer nationalsozialistischen Eliteschule totalitär programmiert werden sollten. Diese Erfahrung hat Sie für Ihr Leben gegenüber jeder Form von Dogmatismus und Alleinvertretungsansprüchen immunisiert: Es muss doch mehr als eine Sichtweise, eine Theorie, eine Überzeugung, einen Glauben geben. Das skeptische Denken lehrt auch Gelassenheit, wenn es gilt, Unterschiede auszuhalten.

Von heute aus sehen wir vielleicht besser als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren, wie sehr gerade Ihr Denken und Ihre Philosophie die guten Seiten der, wie man heute so sagt, "alten Bundesrepublik" mitgeprägt haben. Ihr Denken ist unpathetisch und antitotalitär, es macht Vorschläge und gibt keine Rezepte, es ist selbstkritisch, es überzeugt eher durch Argumente als dass es begrifflich auftrumpft, es ist zivil und zivilisierend, es verteidigt die Bürgerlichkeit im besten Sinne.

So begegneten Sie auch den "Bewegungen" von 1968 mit großer Skepsis. Nicht nur, weil Sie schon einmal eine antibürgerliche "Bewegung" in Deutschland am eigenen Leib erlebt hatten, sondern auch, weil Sie in jedem radikalem Furor, und sei er zunächst auch noch so theoretisch, die inhumanen Konsequenzen erkennen. Vielleicht auch, weil Sie hier zu viel nicht-kompensierte politische und denkerische Inkompetenz am Werke sahen und zu wenig bürgerliche Gesinnung und Haltung - und nicht zuletzt zu wenig Selbstironie und Humor.

Das ist mein letztes Stichwort: Neben der angenehmen Lesbarkeit und Verständlichkeit ist Ihr ganzes Denken und Schreiben von Humor geprägt; dieser Humor entsteht wohl aus der Einsicht in die Endlichkeit all unseres Wissens und Könnens. Übrigens: Welcher andere deutsche Philosoph hätte eine Laudatio auf Loriot halten können?

Lieber Herr Professor Marquard, verstehen Sie bitte die Einladung hierher ins Schloss Bellevue auch als einen Akt der Kompensation: der Kompensation für die häufige Vernachlässigung der Geisteswissenschaften in Staat und Gesellschaft. Verstehen Sie die Einladung aber vor allem als Dank für Ihre Ermutigung zu engagierter und gelassener Bürgerlichkeit, zum skeptischen Denken, und auch als Dank für Ihre Ermutigung zur Zustimmung zu den guten und schönen Seiten des Lebens.

Auch der größte Skeptiker, so sagen Sie, muss zugeben: Wenn vielleicht auch nicht alles gut wird - es ist nicht alles schlecht.

Als sichtbaren Ausdruck des Dankes möchte ich Ihnen nun das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland überreichen.