Rede von Bundespräsident Horst Köhler anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Bücherverbrennungen

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 9. Mai 2008

Bundepräsident Horst Köhler am Rednerpult, dahinter eine Büste an der Wand

Am 11. Mai 1933, einen Tag nach den Bücherverbrennungen in über zwanzig deutschen Städten, erging folgender Vorstandsbeschluss:

"Der Vorstand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler ist sich mit der Reichsleitung des Kampfbundes für deutsche Kultur und der Zentralstelle für das deutsche Bibliothekswesen darin einig geworden, dass die zwölf Schriftsteller (es folgen die Namen) für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten sind. Der Vorstand erwartet, dass der Buchhandel die Werke dieser Schriftsteller nicht weiter verbreitet. Leipzig, den 11. Mai 1933. Der Gesamtvorstand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig."

Was einen Tag zuvor im symbolischen Ritual der Verbrennung vollzogen wurde, nämlich die Verachtung und Vernichtung der Werke der jüdischen, liberalen, linken und pazifistischen Intelligenz, bekam jetzt bürokratische Form. Und tatsächlich wurden die Werke dieser Schriftsteller entfernt aus Bibliotheken und Leihbüchereien, aus den Buchhandlungen und den Verlagsprogrammen - und zwar schon bevor es die Anordnung einer staatlichen Stelle, ein Gesetz oder einen Befehl dazu gab: Es war eine freiwillige Selbstaufgabe des Geistes, wie sie in zivilisierten Staaten beispiellos ist.

Es ist richtig, dass der Börsenverein des Deutschen Buchhandels heute daran erinnert, gemeinsam mit dem PEN-Club, mit dem Verband der deutschen Schriftsteller und mit der Akademie der Künste. Alle vier Institutionen bzw. ihre Vorgänger sind von dem Ereignis vor 75 Jahren betroffen gewesen:

Den Börsenvereinsbeschluss habe ich bereits zitiert,
der internationale PEN-Club konnte sich 1933 nicht auf eine gemeinsame Stellungnahme zur Bücherverbrennung in Deutschland einigen,
die Akademie der Künste verlor viele ihrer berühmtesten Mitglieder, die zum Austritt gezwungen oder ausgeschlossen wurden,
und der "Schutzverband Deutscher Schriftsteller", ein Vorgänger des heutigen Schriftstellerverbandes, löste sich 1933 auf.

Wir erinnern uns heute mit Scham daran, dass vor 75 Jahren nicht nur hier in Berlin, sondern überall in Deutschland zehntausende applaudiert und gejubelt haben, als die Bücher von Erich Kästner, Sigmund Freud, Karl Marx, Kurt Tucholsky und vielen anderen von Studenten ins Feuer geworfen wurden. In aller Öffentlichkeit entfaltete sich ein barbarischer Ungeist, der sich für das wahre Deutschland hielt.

Genau darauf nahm ein zorniger und gleichzeitig stolzer Artikel Bezug, den der große Schriftsteller Joseph Roth im Pariser Exil nach der Bücherverbrennung über das Schicksal der jüdischen Schriftsteller schrieb:

"Viele von uns sind während des Krieges im Felde gewesen, viele sind gefallen. Wir haben für Deutschland geschrieben, wir sind für Deutschland gestorben. Wir haben unser Blut für Deutschland in zweifacher Weise vergossen: das Blut, das unser physisches Leben nährt, und dasjenige, mit dem wir schreiben. Wir haben Deutschland besungen, das wahre Deutschland! Deshalb werden wir heute von Deutschland verbrannt!"

Wir erinnern uns heute an dieses Ereignis, das kein zufälliges oder gar spontanes Spektakel war, sondern das eine lange und exakt geplante Vorgeschichte und schreckliche Folgen hatte.

Es waren gerade auch Akademiker - Studenten und Professoren -, die gegen alles, was sie für undeutsch hielten, Propaganda machten. Schon früh kursierten in studentischen Traktaten und Hochschulzeitschriften so genannte Schwarze Listen, auf denen jüdische Professoren verzeichnet waren oder entschiedene Demokraten und Linke, und auch diejenigen Schriftsteller und ihre Werke, die man eines Tages aus dem kulturellen und geistigen Leben der Nation ausschließen wollte.

Die Geschichte der geistigen Vorbereitung der Bücherverbrennung führt uns die beschämende Tatsache vor Augen, dass die ersten Institutionen in Deutschland, in denen der Nationalsozialismus die Meinungsführerschaft und dann auch, etwa in Studentenausschüssen, die Mehrheit erobert hatte, die deutschen Universitäten waren. Hier, an den Stätten, die doch der geistigen Freiheit, der Kritik, der argumentativen Auseinandersetzungen hätten dienen sollen, wurde der Geist der Unfreiheit, der Intoleranz, der Ausgrenzung erzeugt.

Der Hass auf alles Freiheitliche, Demokratische, Republikanische, vor allem aber auf alles Jüdische, bekam ausgerechnet von deutschen Intellektuellen geistige Nahrung. Wenn jemals mit Recht von geistigen Brandstiftern gesprochen werden kann, dann im Hinblick auf die akademische Vorgeschichte des 10. Mai 1933.

Walter Jens, der Ehrenpräsident dieser Akademie, der sicher bei uns wäre, wenn er könnte, hat vor 25 Jahren in einer großen Rede zum Gedenken an die Bücherverbrennung diese Vorgeschichte an zwei Beispielen illustriert:

"Dabei gewesen sind, am 10. Mai 1933, Deutschlands Professoren, die einem Erich Ludendorff das Ehrendoktorat verliehen, sich aber weigerten, auf einer und derselben Tribüne mit dem demokratisch gewählten Staatsoberhaupt, dem Sozialdemokraten Ebert, die Plätze zu teilen.

Dabei gewesen sind die Studenten, die - ein exemplarischer Vorfall! - im Jahre 1922 dafür plädierten, dass in allen klinischen Vorlesungen 'die ersten vier Bankreihen nur von Studierenden germanischer Abstammung' besetzt werden dürften."

Die Bücherverbrennung war keine staatliche Maßnahme, keine Aktion der SA oder der NSDAP. Durch die ständige Wiederholung der immer gleichen Wochenschauaufnahmen von Berlin, bei der wir immer wieder Goebbels hören und sehen, vergessen wir, dass der Propagandaminister keineswegs Veranstalter, sondern Gastredner war. Veranstalter war die Deutsche Studentenschaft, nicht einmal der Nationalsozialistische Hochschulbund.

In allen deutschen Universitätsstädten waren Studenten die Veranstalter; Professoren, Dekane und Rektoren nahmen im Talar daran teil, Musikkapellen marschierten mit, Polizei und Feuerwehr unterstützten die Veranstaltung. Überall war eine begeisterte Öffentlichkeit dabei: 15.000 auf dem Frankfurter Römer, 30.000 in Kassel und 50.000 auf dem Königsplatz in München. 70.000 Menschen waren es allein hier in Berlin, auf dem Opernplatz, wie er damals hieß, gegenüber der Universität, gleichsam unter den Augen Humboldts.

Die quasi-religiöse Zeremonie mitten in der Nacht wurde vom Deutschlandsender direkt übertragen; aus München berichteten - ebenfalls direkt - alle bayerischen Sender.

Das Ereignis fand also vor der denkbar größten Öffentlichkeit statt - wie auch der Boykott der jüdischen Geschäfte nur wenige Wochen zuvor -, so dass sich niemand mehr Illusionen darüber machen konnte, wohin es mit Deutschland gekommen war und wohin es in Zukunft gehen würde.

In Dortmund zum Beispiel skandierten Schüler "Fort mit den falschen Propheten, lasst sie von anderen anbeten, wir aber wollen sie töten."

Das zeigt: Es war nur ein kleiner Schritt von der Ausgrenzung der Juden zur Verbrennung ihrer Bücher, und abermals ein kleiner Schritt von der Verbrennung der Bücher zur Verbrennung der Menschen. Und es gab kaum Widerstand gegen die Aktion.

Da, wo die Bücherverbrennung wegen starken Regens am 10. Mai ausgefallen war, wurde sie später nachgeholt; und noch 1938 fand, nach dem so genannten Anschluss Österreichs, eine große Verbrennung auf dem Salzburger Residenzplatz statt. Es scheint, als hätte man unter einem seltsamen Zwang gestanden, das geistfeindliche Ritual unter allen Umständen nachzuholen, um zu zeigen, welche Kultur nun im Deutschen Reich zu herrschen und welche zu verschwinden habe.

Im Ausland gab es Proteste. Schon nach der Ankündigung der Bücherverbrennung schrieben amerikanische Autoren einen offenen Brief an die deutschen Studenten. Am 10. Mai selbst haben sich in New York mehr als 100.000 Menschen an einer Demonstration beteiligt.

In Deutschland aber ging man den Weg des Ungeistes weiter, der der Weg des Unheils schließlich für ganz Deutschland und ganz Europa wurde.

Der Verleger Peter Suhrkamp zog 1947 bei einer Gedenkveranstaltung auf dem Opernplatz in Berlin die Linie der tödlichen Folgen nach:

"Die Flammen, die zuerst über den Bücherhaufen prasselten, verschlangen später im Feuersturm unsere Städte, menschliche Behausungen, die Menschen selbst. Nicht der Tag der Bücherverbrennung allein muss im Gedächtnis behalten werden, sondern diese Kette: von dem Lustfeuer an diesem Platz über die Synagogenbrände bis zu den Feuern vom Himmel auf die Städte."

Das Gedenken an die Bücherverbrennung erinnert uns nicht nur an ein schreckliches Geschehen mit furchtbaren Folgen. Es erinnert uns auch an eine bleibende Aufgabe, eine Verpflichtung: Den Schutz des Geistes und der Humanität.

Das hat zunächst ganz einfache, praktische Konsequenzen: Viele der Schriftsteller, die auf den Schwarzen Listen der Nazis standen, haben im Ausland, vor allem in den Vereinigten Staaten, Aufnahme gefunden. Es waren in manchen Fällen erbärmliche Verhältnisse, in denen sie leben mussten, weil sie kein Auskommen fanden, als sie aus dem Land ihrer Heimat und ihrer Sprache vertrieben worden waren. Aber sie konnten ihre Freiheit und ihr Leben retten.

Viele, Hans Sahl, Thomas und Heinrich Mann, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Franz Werfel, Ernst Bloch, um nur einige wenige Namen zu nennen, haben im Exil bedeutende Werke verfasst, so dass der Begriff "Exilliteratur" nicht nur an schwere Schicksale und an die dunkelste Epoche deutscher Kultur erinnert, sondern auch an große Literatur.

Wir haben aus dieser Geschichte von Vertreibung und Exil gelernt: Das demokratische Deutschland ist zur Exilheimat, wenn man es so nennen kann, von verfolgten und bedrohten Autoren aus aller Welt geworden. Das ist gut. Sie leben und arbeiten hier - aber sie arbeiten damit auch für die Freiheit in ihren Heimatländern. Wir sind froh darüber, dass wir Verfolgten Schutz gewähren und ihnen Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten geben können. Für verfolgte Schriftsteller soll ganz besonders gelten, was Walter Jens in seiner Rede vor 25 Jahren gesagt hat:

"Ein Land, in dem einmal die Scheiterhaufen brannten: zuerst für Bücher und dann für Menschen bestimmt - dies Land sähe sich eines Tages durch keine Auszeichnung mehr als durch die Worte geehrt: Jedermann guten Willens war hier willkommen. Die Bürger hatten aus der Geschichte gelernt."

Ebenso wichtig - und das ist eine Aufgabe unserer Innenpolitik, aber auch aller gesellschaftlichen Gruppen - ebenso wichtig ist es, darauf Acht zu geben, dass unser freiheitliches Land freiheitsliebend bleibt.

Die Freiheit des Wortes und die freiheitliche Kunst sind Fundamente unserer Kultur. Kunst und Literatur brauchen Freiheit - und wo sie die Freiheit nicht haben, wo sie sich nicht frei artikulieren können, da geht es nicht nur der Kunst, da geht es am Ende dem ganzen Gemeinwesen schlecht, da werden alle Menschen in Unfreiheit gehalten.

Deshalb müssen wir Angriffe auf diese Freiheit zurückweisen. Gerade am heutigen Tag müssen wir sagen: Wer Bücher, wer Filme, wer Theateraufführungen, wer Karikaturen verbieten will, der ist auf dem falschen Weg. Jeder kann sich in Wort und Schrift gegen das wehren, was ihm nicht passt oder was ihn möglicherweise verletzt. Verbot und Unterdrückung aber zerstören Freiheit und Humanität. Eines will ich noch hinzufügen: Aufrufe zu Hass und Vernichtung gehören nicht zur Freiheit, die die Literatur beanspruchen darf.

Für die Freiheit der Meinung, für die Freiheit des Wortes, für die Freiheit des Glaubens und der Weltanschauung treten wir aber nicht nur hier bei uns in Deutschland ein.

Was die Freiheit angeht, so können wir auf Dauer nicht mit doppelten Maßstäben leben. Unsere geschichtlichen Erfahrungen sollten uns genügend Ansporn sein, mit den Mitteln, die wir haben, auch in anderen Teilen der Welt für die Freiheit zu werben - zu werben! - und uns dafür einzusetzen. Wir müssen dafür arbeiten, dass in allen Ländern der Welt Literatur und Sprache Freiheit genießen und dass niemand gezwungen wird, ins Exil zu gehen. Wenn Deutschland die Kulturnation ist, als die es sich wieder begreift, dann müssen gerade wir unermüdlich für die Freiheit der Sprache, der Kunst, der Kultur eintreten und kämpfen.

Es war kein Zufall, dass gerade die Verbrennung von Büchern zum symbolischen Ausdruck von Gesinnungsterror und von Unterdrückung der Meinungsfreiheit geworden ist. Bücher symbolisieren bis heute wie kein anderes Medium das individuelle Denken, die Welterkenntnis und die Lebenserfahrung des Einzelnen. Bücher sind - wie kein anderes Medium - Symbole und Mittel von Bildung und Aufklärung, von Kritik und Auseinandersetzung.

Bücher sind die geistigen Lebensmittel schlechthin. Deswegen müssen wir bei uns dafür sorgen, dass jedermann Zugang zu Büchern haben kann, und dafür - ich wiederhole meinen Appell aus Weimar vom vergangenen Oktober -, dass unsere öffentlichen Bibliotheken angemessen ausgestattet und in Stadt und Land ausreichend präsent sind.

Der heutige Tag ist ein Tag des Gedenkens, aber auch ein Tag der Zukunftsorientierung.

Wir gedenken der verbrannten und verbannten Schriftsteller. Wir werden gleich einige Texte der Autoren hören, die in Deutschland vernichtet und vergessen werden sollten und die in Wahrheit zu unseren Besten gehören.

Ich freue mich, dass heute auch Jürgen Serke unter uns ist, der sich seit Jahrzehnten um die Erinnerung an diese verbrannten und verbannten Dichter kümmert, und aus dessen großer Sammlung vor wenigen Wochen in Solingen ein Museum eröffnet werden konnte.

Ich danke Ihnen, Herr Serke, sehr herzlich für diese unermüdliche Arbeit, für diese Beharrlichkeit, mit der Sie so vieles vor dem Vergessen bewahrt haben und ich wünsche Ihrem Museum viele Besucher und viel Erfolg.

Ganz besonders wünsche ich Ihrem Museum viele junge Besucher, denn die Erinnerung kann nur Bestand haben, wenn sie an die kommenden Generationen weitergegeben wird.

Ein Beispiel dafür, wie diese Weitergabe von Erinnerung gelingen kann, ist der Beitrag, den gleich die Schülerinnen und Schüler der Dathe Oberschule aus Berlin und der Maxim Gorki Schule in Schönebeck vorstellen werden.

Sie haben sich nicht nur intensiv mit der Geschichte der Bücherverbrennung beschäftigt, sondern auch heutige Beispiele von Gewalt und Menschenverachtung gesammelt. Das ist konsequente, für das Heute und für die Gegenwart fruchtbar gemachte Erinnerung. Ich bin gespannt auf Ihren Beitrag.

Kultur und Zivilisation sind nie ein für alle Mal gesicherte gesellschaftliche Errungenschaften. Sigmund Freud, dessen Bücher zu den verbrannten gehörten, hat immer wieder intensiv darauf hingewiesen. Und gerade die Geschichte des Dritten Reiches, gerade die Geschichte der Bücherverbrennung mit ihrem Vorlauf und mit ihren Konsequenzen zeigt das. Wir sind für Humanität und Toleranz verantwortlich, jeder an seinem Platz. Von Generation zu Generation muss weiter und immer neu an einer Zivilisation gearbeitet werden, in der niemand wegen seines Glaubens, seiner Herkunft, seiner Überzeugungen ausgegrenzt oder verfolgt wird. Immer neu müssen wir uns dafür engagieren, dass wir in einer Welt leben können, in der - um es mit den schlichten Worten Bertolt Brechts zu sagen -, in der der Mensch dem Menschen ein Helfer ist.