Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler beim Festakt anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "Vor 100 Jahren - Kandinsky, Münter, Jawlensky, Werefkin in Murnau"

Schwerpunktthema: Rede

Murnau, , 10. Juli 2008

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult vor dem Museum

Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich sehr, heute hier bei Ihnen in Murnau zu sein!

Wenn ich mich hier so umschaue, an diesem Ort mit seiner wunderschönen Umgebung, dann geht mir das Herz auf. Und denen, deren Leben und Werk uns heute hier zusammenführen, ging es vor hundert Jahren wohl ebenso. Auch Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin waren damals bezaubert von diesem Fleckchen Erde. Sie haben Murnau zu einem Ort gemacht, an dem sich Kunst und Landschaft auf das wunderbarste verbinden. Deutschland ist reich an solchen Kulturlandschaften auch fernab der großen Städte und Ballungsräume. Das haben meine Frau und ich in den vergangenen Wochen bei Festspielbesuchen in Ludwigsburg im Württembergischen, Bad Hersfeld in Hessen und Wunsiedel in Franken wieder erfahren, und erleben es hier in Murnau aufs Neue.

Kunst und Kultur in Deutschland - das sind nicht allein Glanzlichter wie die Berliner Museumsinsel, die Regensburger Domspatzen, die Bayreuther Festspiele und die Berlinale. Die Kultur in Deutschland wird wesentlich bestimmt durch all die ungezählten Festivals und Festspiele, die großen und kleinen Theater, Bibliotheken, Konzert- und Opernhäuser und eben auch die vielen Museen.

Nehmen wir nur die Museumslandschaft in und um Murnau - welche Fülle auf so engem Raum. Da sind das Schlossmuseum und das Gabriele Münter-Haus in Murnau selbst. Gleich in der Nachbarschaft gibt es das Franz Marc Museum in Kochel am See, dessen Erweiterungsbau erst kürzlich eröffnet worden ist, und das Buchheim Museum in Bernried. Ich erinnere mich gerne an meinen Besuch dort und freue mich sehr darüber, dass auch Sie, verehrte Frau Buchheim, heute hier sind.
Ein Grund für die kulturelle Vielfalt in unserem Land liegt in seiner Entstehung aus vielen Volksstämmen. Die unterschiedlichen Regionen mit ihren Landschaften und ihren Geschichten, die Mundarten und Traditionen machen den Reichtum der Kulturnation Deutschland aus.

Ich weiß, das Wort "Kulturnation" wurde im Lauf der Geschichte auch schon dazu missbraucht, die eigene Kultur als etwas Besseres als die der Nachbarn darzustellen. Diesen Missbrauch dürfen wir nicht zulassen. Ich möchte an das Beste anknüpfen, das sich mit dem Begriff Kulturnation verbindet:

  • an die Vorstellung einer Gemeinschaft von Menschen, die sich durch eine gemeinsame Sprache, durch gemeinsame Traditionen und Werte miteinander verbunden fühlen;
  • an die Vorstellung einer Gemeinschaft, die dazu fähig ist, neue Einflüsse aufzunehmen, ohne sich aufzugeben oder gar selbst zu verlieren;
  • an die Vorstellung einer Gemeinschaft, die jedem, der dazu bereit ist, die Möglichkeit gibt, in sie hineinzuwachsen und sie mitzugestalten.

Wie sehr sich Sichtweisen im Laufe der Zeit verändern können, wie viel Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen voneinander lernen können, das zeigen auch die vier Künstler, die uns hier zusammen geführt haben. Bis auf Gabriele Münter kamen alle - also Kandinsky, Jawlensky und Werefkin - aus Russland. Sie waren Zuwanderer. Aber würde heute jemand auf die Idee kommen, ihre Malerei als typisch russische Kunst zu betrachten? Wohl kaum! Vielmehr sehen wir die vielen schönen Bilder, die hier in Murnau entstanden sind, ganz selbstverständlich als Teil eines kulturellen Erbes an, das keine Nationalitätsgrenzen kennt.

So etwas gelingt natürlich nur, wenn das Miteinander der Einheimischen und der "Reingeschmeckten", der Zuwanderer aus anderen Regionen, Nationen und Kulturkreisen fruchtbar ist. Zuwanderer zum Beispiel, die mitten im Werdenfelser Land ein "Russenhaus" beziehen. Auf Dialog und Mischung kommt es an, darauf, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, Respekt und ein offenes Ohr füreinander zu haben, die eigene Lebensart anziehend zu vertreten und bereit zu sein, vom anderen zu lernen.

Sich des Eigenen versichern, empfänglich für Neues sein, lernen und bilden - das ist ein Leitmotiv der vier Künstler gewesen, die uns heute zusammenführen. Kandinsky zum Beispiel hat oft gefordert, dass die Wissenschaften und Künste wie Physik, Musik und Malerei einander im Blick behalten und voneinander lernen; er hat die Bedeutung des Dialogs der Kulturen betont; er hat sich in Moskau und am Bauhaus Weimar jahrelang der Erziehung junger Menschen gewidmet; und er war optimistisch, dass dank Kunst, Wissenschaft und Bildung die gesamte Gesellschaft sich "vorwärts und aufwärts" bewegen könne.

Damals, vor hundert Jahren, mögen die Expressionisten ihren Zeitgenossen noch fremd, weil neu und unbekannt, erschienen sein - heute gehören sie ganz fraglos zum Kanon der klassischen Moderne. An diesem Beispiel zeigt sich auch: So schwer wir uns zuweilen mit zeitgenössischer Kunst tun - wir sollten ihr offen und unvoreingenommen begegnen und uns dabei vor Augen halten, dass es mitunter eine Weile dauert, bis wir gelernt haben, sie zu sehen und zu schätzen.

Die in und um Murnau entstandenen Landschaftsbilder nehmen uns mit auf diesem Weg zu einem neuen und anderen Blick. Sie zeigen, wie Gegenständliches ins Abstrakte überführt wird. Sie ziehen uns mit ihrer Farbenpracht an und prägen sich dem Gedächtnis bis in Einzelheiten ein. Sie sind gerade hier in Murnau entstanden, weil die vier Künstler das hiesige Licht so sehr schätzten, und werden immer mit Murnau verbunden sein, schon weil man auf ihnen oft den Murnauer Kirchturm so anrührend erkennen kann; aber sie sind weit über Murnau hinaus Teil unseres kulturellen Erbes in Deutschland und Europa.

Dies Erbe will nicht nur bewahrt sein, konserviert, sondern erlebt, genossen, verstanden, geschätzt. Dafür sind Ausstellungen wie diese unverzichtbar. Es ist wunderbar, die Werke von Jawlensky, Kandinsky, Münter und Werefkin in Murnau versammelt zu sehen, es verspricht Augenlust und Erkenntnis, und es bringt uns Betrachter vielleicht wirklich ein wenig weiter "vorwärts und aufwärts", ganz wie Kandinsky und die Seinen es sich gewünscht haben. Wie schön also, heute hier zu sein! Vielen Dank!