Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler anlässlich der Eröffnung des 67. Deutschen Juristentages

Schwerpunktthema: Rede

Erfurt, , 23. September 2008

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult

Der Deutsche Juristentag zum ersten Mal im schönen, traditionsreichen Erfurt - und ich freue mich, heute hier bei Ihnen zu sein.

Bei der Vorbereitung auf diesen Tag wurde ich auf eine Broschüre aufmerksam, mit der die Juristen von England und Wales und die britische Regierung bei ausländischen Unternehmen für ihr Rechtswesen werben. Es sei das beste von allen, meinen sie, klar und schnell und viel besser als die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen. Wie unsere Vettern jenseits des Kanals da ihr Rechtswesen als ganzes vermarkten und dynamisch anbieten, das zeigt anschaulich: Neben den Unternehmen und ihren Arbeitnehmern stehen zunehmend auch die Rechtssysteme, die staatlichen Rechtsordnungen und Rechtskulturen im weltweiten Wettbewerb. Alle bisherige Erfahrung lehrt: Diesen Wettbewerb besteht am besten, wer ihn unverzagt annimmt und an ihm wächst.

Manche hiesigen Juristen finden vermutlich die Aussicht, nun auch noch von auswärts noch stärkere Konkurrenz zu bekommen, nur mäßig amüsant. Ganz ähnlich - wir sind in der Stadt, in der Martin Luther Rechtswissenschaften studierte und zum Theologen wurde - ganz ähnlich dürfte vor knapp fünfhundert Jahren Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen und Besitzer einer dem Spendenaufkommen nach gutgehenden Sammlung von Reliquien, die Nachricht aufgenommen haben, da offeriere neuerdings jenseits der Landesgrenzen der Dominikaner Tetzel auch den Sachsen gegen klingende Münze Ablassbriefe für eigene Sünden, für die Sünden von Verwandten und Verstorbenen und sogar für künftige Übeltaten.

Ich erwähne diese Geschichte, weil sie zeigen hilft, um welches Produkt sich der wachsende rechtliche Qualitätswettbewerb dreht. Bei der Entscheidung über die Investition knapper Finanzressourcen in Reliquienkult oder Ablasshandel ging es für die Konsumenten damals um dasselbe attraktive und wertvolle Gut wie heute bei der Wahl zwischen konkurrierenden Rechtsordnungen: Es ging und es geht um den Erwerb möglichst großer Erwartungssicherheit.

Erwartungssicherheit zu stiften ist eine der wichtigsten Funktionen des Rechts.

Eine gute Rechtsordnung stabilisiert die Erwartungen aller ihrer Adressaten darüber, wie sich alle anderen verhalten werden. Sie erleichtert dadurch ganz entscheidend die Koordinierung des eigenen Verhaltens mit dem der anderen, das Verfolgen eigener Zwecke, langfristige Planungen und das Management von Risiken. Sie stellt dafür Begriffe, Handlungsformen und Institutionen bereit, in denen oft die Erfahrung von Jahrhunderten gespeichert ist. Wir alle profitieren täglich davon. Im Grunde stehen wir auf den Schultern von intellektuellen Riesen.

Eine gute Rechtsordnung ist auch ein entscheidender Standort- und Wettbewerbsvorteil. Erwartungssicherheit durch gutes, klares, verlässliches und effizient durchsetzbares Recht ist eine unentbehrliche Grundlage für dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand. Unsere Soziale Marktwirtschaft zum Beispiel setzt rechtliche Regeln und Institutionen voraus wie die Eigentums-, die Vertrags-, die Wettbewerbs- und die Geldordnung. Ohne diese Ordnungen wären die dezentrale Koordination der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und ein fairer Wettbewerb nicht möglich.

Mit Blick auf die Wirtschaftsgeschichte stellt zum Beispiel der Mitherausgeber der Financial Times Martin Wolf mit Recht fest, der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen reich gewordenen und arm gebliebenen Gesellschaften sei, dass die Bürger der ersteren verlässlich langfristige Vertragsbeziehungen eingehen konnten.

Der peruanische Wirtschaftswissenschaftler Hernando de Soto wiederum hat mit guten Gründen dargelegt, eines der wichtigsten Entwicklungshemmnisse in der Dritten Welt sei bis heute das Fehlen verlässlicher Eigentumsordnungen, weil es ohne die auch kein funktionierendes Kreditwesen und keine Grundlage für Kapitalbildung - also für verlässliche Investitionen - gibt.

Und für Deutschland heißt das: Dass unser Land insgesamt auf den Weltmärkten so erfolgreich ist und ausländische Geschäftsleute und Investoren sich bei ihren Projekten mit und in Deutschland wohl fühlen, das ist nicht zuletzt auch unserer Rechtsordnung und damit den hiesigen Juristinnen und Juristen zu verdanken. Ich bin auch hergekommen, um Ihnen das ganz offiziell zu sagen.

Aber ich will auch gleich in Caveat anfügen: Natürlich beobachtet das Ausland auch sehr aufmerksam, ob das deutsche Recht handels- und investorenfreundlich bleibt. Wir sind darum wirtschaftspolitisch gut beraten, an der Weltoffenheit unserer Rechtsordnung festzuhalten.

Ein gutes Rechtswesen ist aber nicht nur Voraussetzung für Investitionen, sondern es hängt selber von Investitionen ab.

Da denke ich zunächst einmal natürlich an die angemessene Organisation und Professionalisierung der juristischen Kompetenz: Die Qualität einer Rechtsordnung ist angewiesen auf die gute personelle, finanzielle und sächliche Ausstattung von Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz, auf eine leistungsstarke und leistungsgerecht verdienende Anwaltschaft, auf ein hohes Niveau der wissenschaftlichen Forschung und Lehre und auf gute Studienbedingungen für den juristischen Nachwuchs. Investieren wir auf all diesen Feldern schon genug oder auf manchen vielleicht schon zuviel? Sie werden Ihre eigenen Antworten darauf haben.

Die segensreiche Wirkung einer Rechtsordnung beruht aber nicht allein auf der Güte ihrer Institutionen, ihrer Spezialisten und ihrer Nachwuchsgewinnung. Auch das gesellschaftliche Klima in Rechtsfragen und die Anteilnahme der Bürgerinnen und Bürger an ihrem Rechtswesen sind wichtig. Jedes rechtstreue Verhalten - selbst das geduldige Warten an der roten Ampel, obwohl "doch alles frei" ist - jedes rechtstreue Verhalten also ist eine Investition in die Bedingungen für künftige Erwartungssicherheit. Und jede Regelübertretung ist dementsprechend eine Desinvestition, auch wenn deshalb natürlich nicht gleich gegen Falschparker das Überfallkommando anrücken muss. Jeder gesellschaftliche Zuspruch zum Rechtswesen und zu seinem Funktionieren - bis hin zur Kinoliebe fürs "Court Room Drama" - stärkt den Rechtsgedanken und das Rechtsempfinden und die allgemeine Bereitschaft, sich ans Recht zu halten.

Wie steht es hierzulande um dieses allgemeine Interesse und Verständnis der Bürgerinnen und Bürger für Fragen des Rechts und der Rechtlichkeit? Wie ist es um ihr Vertrauen in die Fairness der Rechtsordnung bestellt, um ihre Rechtstreue und um ihre Zuversicht, dass die allermeisten Mitbürger das Recht achten und niemand über dem Gesetz steht? Wie viel "Ansprache" hat die Öffentlichkeit zu diesen Themen? Anhand welcher Informationen und Eindrücke bildet sie sich ihre Meinung darüber, in welcher Verfassung Deutschland rechtlich ist? Ich glaube, solche Fragen haben Bedeutung. Nach meinem Eindruck ließe sich viel tun, um die Bürgerinnen und Bürger in der Gewissheit zu bestärken, dass das geltende Recht konsequent durchgesetzt wird; und es ließe sich gewiss auch einiges verbessern, wo es darum geht, ihnen auf unaufdringliche Weise Wert und Wirkung des Rechts nahe zu bringen.

Dabei verdienen meines Erachtens neben den Inhalten von Schulunterricht und Berufsausbildung auch die Programme der Massenmedien Aufmerksamkeit. Die Anwaltsserie "Liebling Kreuzberg" war ja eigentlich ein guter, weil im juristischen Gehalt beachtlich präziser Anfang, "Ally McBeal" eine nette Verrücktheit; aber welch' unliebsame Wirkungen auf das allgemeine Rechtsgefühl zum Beispiel die Serie "24" haben mag, mit Jack Bauers Motto, gegen Terroristen sei notfalls alles erlaubt, das schwant inzwischen so manchem Betrachter.

Kurzum: Die Themen "allgemeines Rechtsbewusstsein" und "Recht in den Medien" verdienen durchaus das Interesse des Deutschen Juristentages, wie ich finde.

Noch im Mittelalter wurde alles Recht als Teil der gottgegebenen, notwendigen Ordnung gedacht; so schien jede Rechtsetzung vor allem Akt der Erkenntnis. Alle moderne Rechtsetzung dagegen ist Willensakt, legitimiert durch bestimmte Verfahren.

Diese Emanzipation durch Recht eröffnet in unserer freiheitlichen Demokratie unendliche Chancen für politische Selbstbestimmung, für private Autonomie und für das Gemeinwohl - kluge Willensbildung vorausgesetzt.

Zur nötigen Rechtsklugheit gehört zuallererst, dass die Bürgerinnen und Bürger keine überspannten Erwartungen hegen, was Gesetze überhaupt leisten können. Deshalb sind auch die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften von Bund und Ländern und auf der Ebene der Europäischen Union klug beraten, solche überspannten Erwartungen gar nicht zu wecken oder gar im politischen Meinungskampf zu instrumentalisieren.

Eine Gesetzgebung zum Beispiel, die in allen möglichen Bereichen Einzelfallgerechtigkeit verspricht und programmieren will, erreicht mit hoher Wahrscheinlichkeit nur die allmähliche Undurchdringlichkeit und Unsicherheit des Rechts, möglicherweise ständig unzufriedenes Anspruchsdenken der Bürger, und riskiert den Infarkt von Verwaltung und Rechtsprechung.

Der Gesetzgeber sollte übrigens auch der Versuchung widerstehen, durch allerlei Gesetze die gesellschaftliche Entwicklung technokratisch oder moralisierend steuern zu wollen. Derlei geht allzu leicht auf Kosten der individuellen Freiheit und hat fast immer unbeabsichtigte Nebeneffekte. Schon die Verhaltenssteuerung durch Subventionen darf hinterfragt werden. Wir wissen so vieles über unbeabsichtigte Nebeneffekte.

Immer neue gesetzliche Pflichten sind möglicherweise noch problematischer. Die Bürger sollten stattdessen - das ist meines Erachtens die Grundrichtung - möglichst viel selber entscheiden und so gestalten können, wie es ihnen nach den bewährten Regeln der Alltagsvernunft richtig erscheint. Diese Alltagsvernunft gibt es.

Zu all diesen Fragen und Vorfragen kluger Rechtsetzung wünsche ich mir von den Juristinnen und Juristen möglichst viel gutes "Erwartungsmanagement": Erheben Sie Ihre Stimme gegen überzogene Erwartungen und Ansprüche an Gesetz und Recht. Tun Sie, was Sie können, um Prozesshanselei zu verhüten. Und: Achten Sie bitte darauf, auch selbstkritisch, dass unser Rechtsstaat nicht zum Rechtswegestaat missrät - ehe das geschieht, sollten besser einige Fahrbahnen und Instanzenzüge stillgelegt werden - zumindest wäre das eine Überlegung. Denn Recht soll durch Berechenbarkeit Zeitprobleme lösen statt sie schaffen durch langwierige Ungewissheit; es soll normative Erwartungen stabilisieren, nicht zerrütten; und: Verfahrensdauer darf nicht an Rechtsverweigerung grenzen.

Gutes Recht stabilisiert Erwartungen und reduziert Unsicherheit über die Zukunft. Es schützt unsere Freiheit und erschließt uns ihren Gebrauch. Ohne moderne Rechtsordnung keine vitale Gesellschaft und kein dauerhafter wirtschaftlicher Erfolg. Ohne starkes Rechtsgefühl und realistische Erwartungen der Allgemeinheit an das Recht und ohne kluges Maßhalten des Gesetzgebers statt wohlgeordneter Freiheit nur rechtliche Hypertrophie.

Das soll natürlich nicht heißen, es gäbe beim Bauen an unserer Rechtsordnung bis auf weiteres nichts mehr zu tun. Im Gegenteil, und das zeigt das Programm des Deutschen Juristentages zu Erfurt auf eindrucksvolle Weise.

Eine gute Rechtsordnung nimmt sich nämlich im Dienste der Gesellschaft aller wichtigen Veränderungen im Leben der Bürger an, auf die rechtliche Antworten sinnvoll und nötig sind.

Eine solche wichtige Veränderung im Leben ist zum Beispiel, dass dieses Leben immer länger dauert und die geschenkten Jahre für die meisten gute, spannkräftige Jahre sind. Auf der jüngsten Konferenz des von mir initiierten Forums Demographischer Wandel hat uns z.B. Frau Professor Staudinger die Befunde der kognitiven Altersforschung vorgestellt. Sie sind eindrucksvoll: Es schwindet zwar im Alter die Schnelligkeit der Verarbeitung von neuen Informationen, die "geistige Mechanik" - und das übrigens schon ab dem zarten Alter von 25 Jahren -, aber wir gewinnen mit der Zeit immer mehr "geistige Pragmatik" hinzu, immer mehr Wissen und Erfahrung, und das erlaubt es, die "mechanischen" Defizite zu kompensieren. Wenn also die Anreizsysteme für lebenslanges Lernen stimmen, dann sind die Älteren - und deren Bevölkerungsanteil nimmt bekanntlich zu - ein noch viel zu wenig entdecktes Potential für das bürgerschaftliche Engagement und die Arbeitswelt.

Welche Konsequenzen sollten Befunde wie dieser für das geltende Arbeits- und Sozialrecht haben, in dem ältere Arbeitnehmer einerseits privilegiert, andererseits durch Altersgrenzen und Tarifvertragsklauseln aus dem Arbeitsleben verabschiedet werden? Der Deutsche Juristentag berät darüber und erwartet eine spannende Debatte, wie ich den Unterlagen entnommen habe. Ich bin meinerseits gespannt darauf, zu welchen Ergebnissen Sie kommen!

Übrigens stellt sich in dem Zusammenhang zugleich auch eine andere Frage: Wie lassen sich die gewonnenen, guten Jahre Lebenszeit auch für die jungen Leute besser nutzen? Bisher stecken sie um die dreißig in einer wahren "rush hour of life", weil sie in Studium und Beruf erfolgreich sein, den Partner fürs Leben finden und Kinder haben wollen - und das wollen sie wirklich! Diese rush hour ließe sich entzerren, wenn wir auch in unserer Rechtsordnung konsequent Zwänge und falsche Anreize beseitigten, die in Zeiten geringerer Lebenserwartung und falscher Annahmen über die Leistungsfähigkeit im Alter entstanden sind.

Ich bin auch dankbar dafür, dass der Deutsche Juristentag sich der Frage annimmt, ob die familienrechtlichen Ausgleichssysteme angesichts der gewandelten Lebensführung und Familienverhältnisse weiter angepasst und systematisiert werden müssen. Die heutige Lage ist durch das komplexe Zusammenspiel vieler Faktoren entstanden, von der modernen Empfängnisverhütung bis zur Lockerung traditionaler Bindungen, von der stärkeren Gleichberechtigung der Geschlechter bis zur Mobilisierung durch wirtschaftliche Zwänge. Eine gute Rechtsordnung lässt die Menschen mit diesen die ganze Gesellschaft erfassenden Veränderungen nicht allein und sorgt vor allem dafür, dass sie möglichst nicht auf Kosten der Kinder und ihrer Lebenschancen gehen.

Solch' fundamentale, gesamtgesellschaftlich wirksame Veränderungen bringen auch die zunehmende Europäisierung und Globalisierung von Wirtschaft, Politik und Kultur mit sich. Dabei stellen der Bedeutungszuwachs und die Fortentwicklung des Europarechts, des Völkerrechts und der vielfältigen transnationalen Privatrechtsregime die deutsche Rechtsordnung und Rechtswissenschaft - wie ich finde - vor große Herausforderungen. Ich wünsche mir im Umgang mit diesen Herausforderungen sportliches Selbstbewusstsein und Zähigkeit, damit wir weltweit das Recht mit dem verbessern helfen, was wir an Gutem mitbekommen und aufgebaut haben.

Immerhin haben wir - das glaube ich auch als Nichtjurist ganz gut beurteilen zu können - ja doch einiges zu bieten. Das beginnt mit Deutsch als Rechtssprache. Die deutsche Sprache ist so geschmeidig wie präzise und nicht zuletzt von Juristen geprägt - die Literaturgeschichte wimmelt geradezu von ihnen. Und wer die schlanken deutschen Vertragsentwürfe mit denen anderer Rechtskulturen für die gleichen Sachverhalte vergleicht, und ich musste das ein paar Jahre lang, wird ein wenig Mitleid empfinden bei dem Gedanken, wie viel Lebenszeit in jenen Kulturen wohl mit der Lektüre solcher Konvolute vertan wird.

Entsprechend selbstbewusst dürfen wir Deutsche in den Recht setzenden Organen der Europäischen Union und bei völkerrechtlichen Konferenzen agieren. Das ist jedenfalls mein Rat. Ich habe gehört, da habe einmal ein deutsches Delegationsmitglied verlegen gestanden, die englische Sprache zwinge ihn, Sachen zu sagen, die er gar nicht meine. Das muss nicht sein. Deutsch als Verhandlungssprache und Beratungstexte in Deutsch sind zumindest in der Europäischen Union nicht zuviel verlangt. Es ist außerdem dringend zu wünschen, dass nicht die einen ihre heimische Dogmatik und Begrifflichkeit in die Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union schreiben, während die anderen vorwiegend sentimental darüber werden, wie schön Europa doch zusammenwächst. Kurzum: Wir brauchen für die Gestaltung des Europa- und des Völkerrechts Frauen und Männer mit vorzüglich geschulten Köpfen und - das wünsche ich mir - auch mit ein bisschen Patriotismus im Herzen.

Was die deutschen Unternehmen anlangt: Die sollten ruhig mit ihrer Leistungskraft auch für das uns vertraute Rechtsdenken und seine weitere Verbreitung werben - schließlich tun das andere Wettbewerber mit ihren Rechtstraditionen seit eh und je. Es sollen gar nicht alle nach unserer Fasson selig werden - das geht nicht -, aber wir haben hierzulande zum Beispiel im Vertragsrecht, im Gesellschaftsrecht, im Haftungsrecht und im Bilanzrecht viel Gutes entwickelt. Das sollte in den weltweiten juristischen Diskurs Eingang finden. Dafür ist es nie zu spät. Aktuell bieten die nötigen Aufräumarbeiten auf den internationalen Finanzmärkten neue Chancen dafür. Diese Chancen sollten wir unbedingt nutzen. Wir brauchen dringend einen globalen Ordnungsrahmen mit wirksamen und verlässlichen Regeln für die internationalen Finanzmärkte. Wenn wir das jetzt begriffen haben und wenn das als Arbeitsauftrag für die internationale Gemeinschaft akzeptiert wird, dann hat diese Krise sogar noch was Gutes.

Umgekehrt können wir vom Recht unserer Partner in Europa und der Welt manches lernen, was dem Finanzplatz Deutschland, dem Anlegerschutz und dem deutschen Mittelstand gut tut. Auch damit beschäftigt sich der diesjährige Deutsche Juristentag, und auch dafür wünsche ich fruchtbringende Beratungen.

Die intensive Beteiligung an der Entwicklung der europäischen und internationalen Rechtsordnungen ist nicht nur aus wohlverstandenem Eigeninteresse nötig, sie kann auch helfen, die Globalisierung fairer für alle zu gestalten. Zum Beispiel klammern, wie jüngst eine Studie berichtete, Standardverträge über transnationale Bauvorhaben wichtige Fragen des Umweltschutzes und der Menschenrechte aus. Ähnliche Blindheiten für Werte des globalen Gemeinwohls gibt es in unübersehbar vielen Privatrechtsregimen. Auf absehbare Zeit kann sie kein Staat und keine internationale Organisation durch Rechtsangleichung heilen. Dazu bedarf es vielmehr eines ständigen dezentralen Prozesses, in dem Sie als Juristen und als Mitglieder unserer demokratischen Öffentlichkeit eine wesentliche Rolle spielen können. Denn die geschilderten Blindheiten können am leichtesten durch kritische Anmerkungen und konstruktiven Dialog geheilt werden, durch den Hinweis auf bewährte bessere rechtliche Lösungen und die Aufforderung, die ignorierten Gemeinwohlbelange endlich zu berücksichtigen und die selbstgesetzten Regeln zu ändern. So werden Partikularinteressen zurückgebunden an die bessere Gestaltung der Globalisierung und dazu angehalten, gefälligst zu dieser besseren Gestaltung beizutragen.

Unser Recht muss auch Antworten finden auf ein anderes globales Phänomen, auf die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Unsere Grunderkenntnis aus dem Unrecht der beiden Diktaturen auf deutschem Boden ist unumstößlich: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt - so unser Grundgesetz.

Wir haben aber auch erfahren, wie schwer angesichts brutaler Straftaten und des menschenverachtenden weltweiten Terrorismus mit diesem Gebot umzugehen ist, wenn es für Unschuldige um Leben und Tod geht. Die Suche nach Antworten auf diese Bedrohung steht in den westlichen Demokratien erst am Anfang. In den USA wird sie sich im Trialog von Exekutive, Oberstem Gerichtshof und Kongress vollziehen. Großbritannien hat nach den schweren Terroranschlägen dieses Jahrhunderts eine Reihe von Tätern mit rechtsstaatlichen Mitteln überführt und bestraft. Ich bin überzeugt: Unser Streben nach Sicherheit darf uns nicht die Freiheit kosten. Und ich füge hinzu: Wenn wir uns mit unseren Mitteln und Methoden auf die Stufe der Terroristen hinunter begäben, dann würden wir nicht nur unsere Verfassung beschädigen, sondern auch unser Seelenheil.

Es ist gut, dass der Deutsche Juristentag über die Frage nachdenkt, wie wir Deutsche uns rechtlich noch besser auf Herausforderungen vorbereiten, die wir hoffentlich nie erleben müssen.

Doch zurück zum friedlichen Wettstreit der großen Rechtssysteme und der nationalen Rechtsordnungen. Er wird nicht nur in Auswärtsspielen ausgetragen, er fordert uns auch daheim. Mit Rücksicht auf meine Redezeit nur drei skizzenhafte Beispiele.

Das erste Beispiel liegt in Erfurt als Sitz des Bundesarbeitsgerichts und in Anwesenheit des Präsidenten des Deutschen Juristentages besonders nahe: Für unsere Rechtsordnung sollte die internationale Konkurrenz ein zusätzlicher Ansporn sein, die eigene Wesensart zu pflegen und im Interesse der Bürger nach Selbstvervollkommnung zu streben.

Deutsches ist grundsätzlich kodifiziertes Recht. Das deutsche Arbeitsrecht nicht mehr, obwohl es auf etwa 30 Gesetze verstreut ist - es ist nämlich längst nolens volens von den Arbeitsrichtern geprägt. Hat da also das Case Law seine attraktive Überlegenheit erwiesen? Ich denke: nein. Ein einheitliches Arbeitsvertragsgesetz wäre ein Segen für die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber in Deutschland - und für die Gerichte auch. Wann also finden wir endlich die Kraft dazu, das Arbeitsrecht neu und zusammengefasst zu kodifizieren? Der Auftrag dazu und exzellente Vorarbeiten liegen nach meiner Information doch vor! Es ist wirklich an der Zeit, diesen für die Bürger und für den Standort Deutschland besonders wichtigen Rechtsbereich wieder überschaubar und durchschaubar zu ordnen.

Um Transparenz geht es auch in meinem zweiten Beispiel: Die Briten verehren noch immer Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, also den Ehemann der großen Königin Victoria. Albert hatte Rechtswissenschaften und Nationalökonomie studiert und ließ seinen Sinn für Ordnung und Effizienz der gesamten Hofhaltung zugute kommen. Dabei stellte er einige Unzulänglichkeiten fest, die wirklich "shocking" waren. Beispielsweise hatte die Säuberung der Palastfenster von innen der Lordkämmerer zu veranlassen und die Forstverwaltung von außen. Da sich nun aber die beiden nie auf den gleichen Termin einigen konnten, hatte die Königin nie ganz saubere Fenster.

Der deutsche Föderalismus ermöglicht oft ganz ähnliche Zustände. Und ich sage das als Anhänger des Föderalismus. Entsprechende Berichte gibt es zum Beispiel aus den Arbeitsgemeinschaften, in denen Bund und Kommunen Langzeitarbeitslose und deren Familien betreuen. Die Bemühungen um die Reform der föderalen Ordnung, um klarere Zuständigkeiten und mehr Konnexität zwischen Aufgaben, Ausgaben und Finanzkraft werden leider oft nur als staatsinternes Nullsummenspiel begriffen. In Wahrheit geht es auch darum, eine rechtliche und politische Ordnung zu schaffen, die beim guten Verwalten und Gestalten jeden internationalen Vergleich aushält. Alles andere bezahlen die Bürger teuer, zum Beispiel mit einer höheren Steuer- und Abgabenlast oder mit einem niedrigeren Niveau öffentlicher Leistungen als in anderen Staaten. Das sage ich als überzeugter Anhänger des Föderalismus.

Damit zum dritten Beispiel dafür, was der globale Wettbewerb, auch der Wettbewerb der Rechts- und Sozialordnungen, uns abverlangt, solange wir nicht aus ihm aussteigen - und Ausstieg ist keine Option. Wir brauchen im Interesse der hier lebenden Menschen den Umbau vom nachsorgend-betreuenden zum vorsorgend-ertüchtigenden Sozialstaat, ich sage auch den investiven Sozialstaat. Und das allein birgt genug Arbeit für eine halbe Juristengeneration.

Es ist ein hohes Ziel, unserem Land wohlgeordnete Freiheit zu sichern und seinen Bürgerinnen und Bürgern eine Rechtsordnung, die Erwartungssicherheit bietet und die dem Tüchtigen Hilfe ist und dem Schwachen Schutz. Danach zu streben ist eine Daueraufgabe, aber utopisch ist das Ziel nicht, sonst hätten ja Sie alle und hätte der Deutsche Juristentag die Hände längst abgetan von dem Werk, der Öffentlichkeit Vorschläge zu unterbreiten für die gute Fortentwicklung der deutschen und der europäischen Rechtsordnung mit all ihren internationalen Bezügen - und Konkurrenten.

Dafür bleibt noch viel zu tun. Wird es irgendwann Anlass geben, zufrieden zu sein mit dem Erreichten? Ist ein so wohlgelungener Zustand unseres Rechtswesens vorstellbar, und werden wir ihn dann erkennen und der juristischen Sekunde zurufen: "Verweile doch! Du bist so schön!"?

Meine Damen und Herren, ich weiß es nicht, aber lassen Sie mich ausnahmsweise eine Anleihe beim Case Law nehmen und diese Fragen nach der Bestform unseres Rechtswesens mit den Worten von Lord Justice Stuart-Smith im Fall Cadogan gegen Morris beantworten: "This seems to me an application of the well known elephant test. It is difficult to describe, but you know it when you see it."

Viel Erfolg Ihren Beratungen; herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.