Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler zum zehnten Jahrestag der Gründung der Bürgerstiftung Wismar

Schwerpunktthema: Rede

Wismar, , 14. Oktober 2008

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult

Ich freue mich, heute bei Ihnen in Wismar zu sein, und das aus mehreren Gründen. Zunächst: Ich bin zum ersten Mal in Ihrer schönen Stadt. Besonders freudig stimmt mich der Anlass, denn wir feiern heute den zehnten Geburtstag der Bürgerstiftung Wismar und zugleich alle anderen Bürgerstiftungen in Deutschland. Die Bürgerstiftung Wismar ist die älteste in Ostdeutschland und war bundesweit eine der ersten dieser Institutionen wachen Bürgersinns. Darum habe ich gern zugesagt, als ich die Einladung zur heutigen Festveranstaltung bekam.

"Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer." - So schreibt der französische Schriftsteller Antoine de Saint Exupéry, den meisten bekannt durch sein Buch "Der kleine Prinz". Dieser Satz verrät viel über die Motive von Menschen, die sich bürgerschaftlich engagieren. Engagierte brechen zu neuen Ufern auf. Sie lassen sich durch ein gemeinsames Ziel motivieren. Und sie stecken andere mit ihrer Begeisterung an.

Der Satz von Saint Exupéry passt besonders gut nach Wismar, denn eines der vielen Projekte, das die hiesige Bürgerstiftung unterstützt hat, ist der originalgetreue Nachbau der "Poeler Kogge", die inzwischen als Botschafterin dieser Stadt über die Meere segelt.

Die mehr als 100 Stifterinnen und Stifter, die sich vor zehn Jahren zusammenfanden, um die Bürgerstiftung Wismar zu gründen - viele von ihnen sind heute hier -, verband ein Motiv: Sie wollten etwas für "ihre" Stadt und ihre Mitbürger tun. Und mit dieser Idee haben sie auch andere begeistert. Mittelweile haben über 600 Personen Geld gespendet oder zugestiftet, und das Stiftungsvermögen hat sich mehr als verdreifacht.

Was Bürgerinnen und Bürger gemeinsam vermögen, beweist schon der Ort unserer heutigen Festveranstaltung. Sankt Georgen, dieses prächtige Zeugnis der norddeutschen Backsteingotik, verdankt seinen Wiederaufbau auch den vielen Spenden von Privatpersonen, Organisationen und Unternehmen. Und wie ich gehört habe, will sich auch die Bürgerstiftung noch an der Renovierung der Kirche beteiligen. Und wer den Wiederaufbau dieser Kirche mit ermöglicht hat, wird es gewiss begrüßen, wenn hier bei entsprechenden Anlässen auch wieder Gottesdienste gefeiert werden.

Seiner Heimatstadt etwas zu stiften, das hat eine gute und eine lange Tradition in Deutschland. Und genauso reicht die Bürgerstiftungsidee weit zurück, denn schon im Mittelalter waren es nicht allein vermögende Einzelpersonen, die mit einer Stiftung das Gemeinwohl fördern wollten. So taten sich zum Beispiel in der Partnerstadt von Wismar, in Lübeck, gegen Ende des 13. Jahrhunderts einige Kaufleute zusammen, um das Heiligen-Geist-Hospital zu errichten. Nicht ein Einzelner gab das Geld, sondern es waren mehrere Bürger, die dort gemeinsam eine der ersten Sozialeinrichtungen in Europa gründeten - ihr Werk hat bis heute Bestand.

Die Gründung der ersten modernen Bürgerstiftung, wie wir sie heute kennen, entsprang ebenfalls sozialem Denken, denn als 1914 im US-Bundesstaat Ohio die Cleveland Foundation aus der Taufe gehoben wurde, da wollten die Initiatoren damit die Gemeinschaft zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in ihrer Stadt stärken. Es ging darum, Integration zu fördern - ein Ziel, das bei uns hochaktuell ist und dem sich viele Bürgerstiftungen mit ihrer Arbeit verschrieben haben.

Heute umspannt das Netz der Community Foundations - so die amerikanische Bezeichnung für Bürgerstiftungen - die ganze Welt. Über die Grenzen von Ländern und Kontinenten hinweg folgen sie einer gemeinsamen Idee und bilden eine Art Lerngemeinschaft. Dabei gehören Wismar und die Landschaft der Bürgerstiftungen in Deutschland zu einer Gründungsgeneration zum Beispiel mit den Stiftungen in Polen, in der Tschechischen Republik, in Belgien, in Russland und in Südafrika.

Mit Freude habe ich aber vernommen, dass die Zahl der Bürgerstiftungen in Deutschland so schnell zunimmt wie nirgendwo sonst. An die 200 dieser Stiftungen gibt es inzwischen bei uns, und ihr gemeinsames Kapital hat gerade die 100-Millionen-Euro-Marke überschritten. Der weltweite Erfolg dieser Idee ist auch damit zu erklären, dass immer mehr Menschen angesichts der Globalisierung das Bedürfnis haben, ihre unmittelbare Lebenswelt selbst zu gestalten. "Think global, act local", das ist ein Motto, das zu vielen Bürgerstiftungen passt - auch und gerade da, wo sie sich um grenzüberschreitend wichtige Belange wie den Erhalt der Umwelt kümmern.

In ihrer Verschiedenheit spiegeln die Bürgerstiftungen in Deutschland die ganze Vielfalt unseres Landes: In Münster pflanzen Baumpaten "Bürgerbäume", in Freiburg wagen Photographen "fremde Blicke", in München wurden "mit Trommeln Brücken gebaut", in Barnim initiieren Vorlesepaten den "Lesezauber", und in Hamburg geben Rechtsanwälte ehrenamtlich "guten Rat vor Ort" - so die Namen einiger ausgewählter Projekte.

Die Stiftungen engagieren sich für junge Menschen, für gute Bildung, gelingende Erziehung und für soziale und kulturelle Zwecke. Damit leisten sie einen großen Beitrag zu unserer demokratischen Kultur, der weit über den konkreten Ertrag der vielen einzelnen Projekte für mehr Toleranz, Zivilcourage und ein gutes Miteinander der Generationen hinausreicht. Die Stiftungen ermöglichen zivilgesellschaftliche Teilhabe, und sie sind auf diese Weise im Tocquevilleschen Sinne "Schule der Demokratie". Die Bürger haben es selbst in der Hand.

Bürgerstiftungen vereinen Menschen, die gestalten wollen, Verantwortung übernehmen und sich einsetzen für ihr Lebensumfeld. Engagement stiftet Lebensqualität und ist Lebensqualität. Es ist eine Investition für ein gesellschaftliches Miteinander, wie es sich die meisten von uns wünschen und zu dem alle beitragen können. Diese Investition kann auf vielerlei Weise getätigt werden: Mit Geld natürlich, aber genauso mit Zeit oder mit Ideen.

Engagierte Bürgerinnen und Bürger geben eine überzeugende Antwort auf die Frage, wie unser Gemeinwesen zukunftsfähig bleibt. Viele der Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft heute steht, werden wir nur dann bewältigen, wenn wir viel mehr noch als heute Freiwillige und ihr Engagement einbeziehen. Die Kommunen als eigentliche Arena des bürgerschaftlichen Engagements sind gut beraten, alles dafür zu tun, dass sich noch mehr Menschen einbringen können - und dass diejenigen, die schon dabei sind, auch dabei bleiben. Dafür sind auch Investitionen in die soziale Infrastruktur unverzichtbar, denn in vielen Bereichen würde es ohne Hauptamt kein Ehrenamt geben.

Mir hat die Vorstandsvorsitzende einer Bürgerstiftung erzählt, dass die Verwaltung ihrer Stadt das Engagement gern annehme und nach dem Motto "Dafür haben wir jetzt ja die Bürgerstiftung" eigene Initiativen zurückfahre. Doch so funktioniert das nicht: Bürgerschaftliches Engagement darf auch in Zeiten knapper Kassen nicht zum Ausfallbürgen des Sozialstaates werden. Ganz im Gegenteil: Erst die partnerschaftliche Kooperation von Kommune und Engagierten, die Verzahnung von öffentlichen Pflichtaufgaben und privatem Engagement, lässt uns den Schatz unseres Gemeinwesens wirklich heben.

Ich denke etwa an soziale Aufgaben, an die Pflege älterer Menschen oder eben die Integration von Zuwanderern. Eine Voraussetzung für Integration ist Identifikation: mit sich selbst, mit der Gemeinschaft, ihrer Geschichte und den zu bewältigenden Aufgaben. Wer sich engagiert, wirft einen Anker aus. Deshalb ist für eine gelingende Integration nicht nur das Engagement für Zugewanderte unverzichtbar, sondern ebenso auch das Engagement von Zugewanderten.

Vor zwei Jahren habe ich meine Berliner Rede zum Thema Bildung gehalten - und zwar in einer Hauptschule in Neukölln. Wir alle wissen, dass gerade unter schwierigen Bedingungen gute Bildung nur gelingt, wenn alle dabei mittun. Die Bürgerstiftung Neukölln - unter deren 165 Gründungsstiftern sich Menschen aus rund 20 Herkunftsländern finden - hat mit dieser Hauptschule ein Mentorenprojekt initiiert. Die Mentoren helfen Schülern, nach dem Abschluss eine Lehrstelle zu finden - mit großem Erfolg. Solche Projekte gibt es an vielen Orten, und ihre Geschichten verdienen es, erzählt zu werden. "Tue Gutes, und rede darüber" - das motiviert andere, Gleiches zu tun.

Ein großes Plus von Stiftungen ist ihre Nachhaltigkeit, denn ihr Kapital ist auf Dauer - und auf Zuwachs! - angelegt. Und Bürgerstiftungen wecken mit ihren transparenten Strukturen und Finanzen und ihrer Offenheit gegenüber jedermann Vertrauen. Das ist eine wichtige Voraussetzung, damit sich Menschen einbringen. Zudem wollen Spender darauf vertrauen, dass ihre Gabe eine möglichst große Wirkung entfaltet - ökonomisch gesprochen: dass die Transaktionskosten niedrig sind. Bürgerstiftungen erfüllen diese Kriterien. Sie sind vermutlich das wirksamste Instrument zur Verbreitung des Stiftergedankens, weil hier Menschen ohne große Vermögen zu Stiftern werden können - über 13.000 sind es schon bei uns in Deutschland.

In der Literatur, im Grünen Heinrich von Gottfried Keller und in den Novellen von Theodor Storm etwa, erscheinen Stifter oft in der Gestalt des reichen, wohl situierten und kinderlosen Gönners. Natürlich haben wir solche Mäzene auch heute noch. Sie tun viel Gutes, und ich bin dankbar dafür. Hinzugekommen ist aber ein neuer Typus: Immer mehr ganz normale Familienväter und -mütter ohne große Reichtümer stiften - vor allem in Bürgerstiftungen. Wer stiftet, denkt eben voraus. Stifter investieren nachhaltig in einen selbst gewählten Zweck. Diese Verewigung des eigenen Willens funktioniert in Gemeinschaftsstiftungen auch mit kleinen Beträgen. Und da das Grundkapital bei den meisten Bürgerstiftungen durch Spenden und durch Erbschaften stetig wächst, können sie langfristig auch höhere Erträge abschöpfen.

Die Stifter werden immer jünger. Zwar wird auch bei den Bürgerstiftungen der Kapitalstock erst dank großer Testamente erheblich wachsen, aber es gibt viele Beispiele von jungen Menschen, die sich mit größeren Beträgen einbringen - in Leipzig etwa, wo die Gruppe Tokio Hotel "ihrer" Bürgerstiftung eine ganz ordentliche Summe überlassen hat.

Geld ist aber bei weitem nicht alles. Sicher, gerade hier in Ostdeuthschland fehlt mancherorts "altes Geld" - doch hier wie überall verfügen Bürgerstiftungen auch ohne materielle Reichtümer über ein großes ideelles Kapital von Engagement, Zeit und Ideen.

Ich wünsche uns noch viele Bürgerstifter, Spender, Zeitstifter und Ideengeber, die wissen, wie man Schiffe baut, die zu neuen Horizonten aufbrechen wollen und die diese Sehnsucht auch bei anderen zu wecken verstehen. Und vor allem wünsche ich uns Bürgerinnen und Bürger, die immer wieder aufs Neue bereit sind, sich für ein gelingendes Miteinander einzusetzen und für eine gute Zukunft unseres Gemeinwesens zu wirken.

Liebe Bürgerstifter in Wismar und überall in Deutschland, herzlichen Glückwunsch zu zehn Jahren Bürgerstiftung. Ich danke allen, die mitgetan haben an diesem Gemeinschaftswerk, und ich freue mich auf jeden, der noch dazukommt und Teil der Bürgerstiftungsfamilie wird. Weiterhin engagiertes Schaffen und vielen Dank!