Ansprache von Bundespräsident Horst Köhler zur Eröffnung der zweiten Runde der Gesprächsreihe "Vielfalt der ModerneAnsichten der Moderne"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 21. Oktober 2008

Der Bundespräsident sitzt mit den Teilnehmern am Tisch

"Wisdom and the pursuit of knowledge" haben wir diese Runde überschrieben - im Deutschen lautet der Titel "Weisheit und Wissenschaft". Und da tauchen auch schon die ersten interkulturellen Fragen auf: Ist "science" gleichbedeutend mit "Wissenschaft"? Meint "wisdom" genau das Gleiche wie "Weisheit"? Und wo liegt der Unterschied zwischen "Wissenschaft" und "science" auf der einen und "Weisheit" und "wisdom" auf der anderen Seite?

Für manchen sind Weisheit und Wissenschaft schlicht gleichbedeutend. Andere sehen in ihnen einen Gegensatz - im Deutschen gibt es den Spruch: "Weisheit ist die Fähigkeit, zu merken, wann man mit seinem Wissen am Ende ist." Weisheit wird meist definiert als eine Mischung aus Lebenserfahrung, Klugheit, Einsicht und innerer Reife - als eine besondere Art von Wissen also, die es uns erlaubt, verantwortungsbewusst mit unserem Wissen und unseren Möglichkeiten umzugehen. Welche Rolle spielt sie in unserer heutigen Welt, die sich gern als globale Wissensgesellschaft versteht? Wie viel Weisheit braucht die Wissenschaft?

Um Fragen wie diese soll es heute gehen. Wir wollen auch darüber sprechen, wie jene wissenschaftlich-technische Zivilisation entstanden ist, die heute das Leben der meisten Menschen auf diesem Globus prägt; wie sie um die Welt gegangen ist; wie sie sich und die Welt verändert hat. Wir wollen reden über Neugier und Entdeckungslust, über die innovative Dynamik der Wissenschaft und über den Gewinn an Wohlstand und Wohlergehen wie auch die Risiken, die sie hervorgebracht hat.
Indem wir darüber reden, wollen wir uns zugleich deutlich machen, wie unterschiedlich man all diese Phänomene betrachten kann. Im Talmud gibt es eine schöne Weisheit; sie lautet: "Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern so, wie wir sind". Sie trifft das Kernanliegen dieser Gespräche. Ich verstehe sie als Gelegenheit, die Perspektiven zu wechseln, unterschiedliche Weltsichten zu entdecken und vielleicht auch die eine oder andere Leerstelle im eigenen Denken zu füllen. In einer vielfach verflochtenen und voneinander abhängigen Welt ist diese Bereitschaft, sich in die Position der anderen hineinzudenken, unverzichtbar. Sie ist die Grundlage erfolgreicher Kooperation - und damit eine ganz wichtige Voraussetzung dafür, dass wir die Herausforderungen, vor denen wir als Menschheit stehen, bewältigen können.

Die Entwicklungen in Wissenschaft und Technik haben erheblich zu diesen Herausforderungen beigetragen. Bleibt die spannende Frage, ob sie auch den Schlüssel zu ihrer Lösung in sich tragen. Mit künftigen wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen verbinden sich viele Hoffnungen, zugleich aber auch manche Befürchtungen. Wie lernfähig ist unsere Wissenschaft? Auch darüber werden wir heute gewiss diskutieren.

Albert Einstein hat gesagt: "The world we have created is a product of our thinking; it cannot be changed without changing our thinking." Diese Gesprächsreihe soll dazu einen Beitrag leisten. Ich danke unseren Kooperationspartnern, dem Veranstaltungsforum der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck und der BMW-Stiftung Herbert Quandt, wünsche uns gute Beratungen und übergebe das Wort nun an Herrn Professor Joas, der unser heutiges Gespräch - wie auch die übrigen Runden - als sachkundiger Moderator leiten wird.

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