Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler beim Festakt zum 40jährigen Bestehen des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 17. Februar 2009

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult, Blick in den Saal

Ich gratuliere herzlich zum Jubiläum des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Die Gründung des Wissenschaftszentrums vor 40 Jahren fiel in eine bewegte Zeit, und noch viel mehr hat sich seither bewegt und verändert in unserem Land und weltweit: auf wunderbare Weise durch den Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs, schleichend durch den demografischen Wandel, beschleunigt durch den Einzug von Computern und Neuen Medien in unseren Alltag, tiefgreifend durch die Globalisierung. Reichlich Anschauungsmaterial also für Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler.

Der Wandel gehört zu den Konstanten menschlicher und gesellschaftlicher Existenz. Manches deutet allerdings darauf hin, dass wir seit rund zwanzig Jahren Umwälzungen erleben, wie sie niemals zuvor in der Geschichte in solcher Tiefe und Geschwindigkeit zugleich stattgefunden haben. Und Krisen wie die gegenwärtige, die sich gerade erst richtig zu entfalten beginnt, stellen uns noch drängender vor die Frage: Auf welche Zukunft steuern wir zu? Wie lernfähig ist unser Gemeinwesen? Und: Was können wir selbst dazu beitragen?

"Gesellschaften gedeihen nur, wenn sie auch sozial innovativ sind", sagt der Soziologe Peter Weingart. Bloß: Was bedeutet hier "innovativ"? Wie bleiben oder werden wir es, und welche Rolle spielt dabei die Sozialwissenschaft? Wenn es um technologische Neuerungen geht, dann fällt die Antwort leichter: Zumeist fußen sie auf exzellenter Natur- oder Ingenieurwissenschaft. Das erlebe ich zum Beispiel alle Jahre wieder, wenn ich den Deutschen Zukunftspreis verleihe - den Preis des Bundespräsidenten für Technik und Innovation. Im Falle sozialer Innovationen liegt der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Fortschritt indes nicht immer so klar auf der Hand: Unsere Gesellschaft ist keine Maschine, sondern ein hochkomplexes Gefüge, getragen von Millionen von Menschen mit Abermillionen von Interessen und Prägungen. Und dieses Gefüge steht nicht für sich allein, sondern wird von einer Vielzahl äußerer Faktoren beeinflusst. Wie stark und wie wenig kontrollierbar, das erleben wir gerade wieder. Die Gesellschaft, das ist auf mittlerer Distanz die Welt, in der wir leben. Wir tragen sie. Sie prägt unser Verhalten. Wir tun deshalb gut daran, diese Umgebung zu erkunden: ihre Wirkkräfte, Strömungen und deren Folgen, die Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung. Für diese Erkundung sind die Sozialwissenschaften unverzichtbar. Sie helfen der Gesellschaft, sich ein Bild von sich zu machen - und diese Wahrnehmung wiederum ist die wichtigste Voraussetzung für Selbststeuerung und damit für eine selbstbestimmte, freie Gesellschaft.

Die Lotsendienste der Sozialwissenschaften können für die Politik hilfreich sein. Ihr Entscheidungshilfen an die Hand zu geben und Orientierung zu vermitteln, das war vor 40 Jahren eine der Gründungsideen des Wissenschaftszentrums. Die Notwendigkeit, politische Entscheidungen auch wissenschaftlich vorzubereiten und zu begründen, hat seitdem sicherlich noch zugenommen. Dabei sollte die Politik von den Sozialwissenschaften keine detaillierten Gebrauchsanweisungen für praktisches Handeln erwarten, wohl aber fundierte Aussagen über strukturelle Linien, über Geschichte und Kultur des Gewordenen, über dessen Eigenheiten, Vorzüge und Nachteile - auch im internationalen Vergleich - und über die erwartbaren Folgen und Nebenfolgen von politischen Entscheidungen. Darum gilt auch für die Sozialwissenschaften das Gebot: Werdet wesentlich! Und: Macht Euch vernehmbar und verständlich! Denn: Was nutzt der beste Kompass, wenn seine Windrose so kleinteilig beschriftet ist, dass man bei voller Fahrt die Richtung nicht mehr ablesen kann? Was hilft ein GPS, wenn es den Weg in einer unverständlichen Sprache ansagt?

Ich weiß: Forscherinnen und Forschern des Wissenschaftszentrums diesen Rat zu geben, heißt Eulen nach Athen zu tragen. In Veröffentlichungen des WZB finde ich viel von dem wieder, was ich bei meinen Besuchen in Betrieben, Schulen oder Sozialprojekten und in Gesprächen mit Volksvertretern, Ehrenamtlichen, Bürgerinnen und Bürgern am praktischen Beispiel über die Notwendigkeit und die Möglichkeit der Modernisierung unseres Landes erfahre. Ich denke zum Beispiel an den ebenso lesens- wie bedenkenswerten Essayband zur "Zukunftsfähigkeit Deutschlands". Die beteiligten Autorinnen und Autoren zeichnen darin ein Bild von der Leistungs- und Wandlungsfähigkeit unseres politischen Systems, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Sie tun es facettenreich und aus wechselnden Perspektiven heraus: aus verfassungsrechtlichen, politikwissenschaftlichen, soziologischen und ökonomischen; aus nationalen wie internationalen Blickwinkeln. Wenn das Bild, das dabei entstanden ist, manchen Betrachter nicht uneingeschränkt erfreut, dann liegt das nicht an den Zeichnern, sondern am Gegenstand.

Ich bin überzeugt: Wir können, wir müssen unser Land besser rüsten für die Zukunft - und wir brauchen dabei gerade auch Wegweisung aus den Sozialwissenschaften. Arbeit, Bildung und Integration - das sind die wichtigsten Aufgaben im Innern. Eine kooperative Weltpolitik, die ökonomische, ökologische und soziale Entwicklungen miteinander in Einklang bringt - das ist die globale Herausforderung. Sie am WZB sind auf vielen Feldern zu Hause, und Sie suchen nach neuen, auch interdisziplinären Wegen jenseits ausgetretener Pfade.

Ich denke zum Beispiel an die Zusammenhänge zwischen Bildung, Arbeit und Lebenschancen, denen Sie, liebe Frau Professor Allmendinger, einen Forschungsschwerpunkt am WZB widmen. Das finde ich ebenso richtig wie wichtig. Denn Bildung ist unbestritten der wichtigste Schlüssel, um den Menschen in unserem Land die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben, auf gesellschaftliche Teilhabe und auf persönliches Fortkommen zu eröffnen. Gute Bildung für alle schafft mehr Gerechtigkeit. Hierüber haben wir kein Erkenntnisdefizit mehr. Aber handeln wir auch schon genug nach dieser Erkenntnis? Ich meine: Wir können, wir müssen mehr tun, um das Ziel "Gute Bildung für alle" zu erreichen. Kluges Handeln aber setzt Wissen voraus - das Wissen über die Faktoren, die den Bildungserfolg beeinflussen. An welchen kritischen Punkten entscheidet sich, ob ein Mensch seine Möglichkeiten voll entfalten kann oder seine Talente verkümmern? Was befördert die individuelle Bildungsbereitschaft vom Kindergarten bis zur Rente? Solche und andere Fragen soll das Nationale Bildungspanel - in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum - in einer großangelegten Längsschnittstudie bearbeiten. Am Ende werden wir hoffentlich noch mehr darüber wissen, wie es gelingen kann, möglichst vielen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft zu guter Bildung zu verhelfen. Schon jetzt wissen wir: Dazu braucht es mehr als die Fassadensanierung unserer Kitas, Schulen und Hochschulen - so nötig die auch ist.

Auch der demografische Wandel zwingt uns - nicht allein im Bildungswesen - zum Umdenken; zu größerer Hinwendung zu denjenigen, die aufgrund ihrer Herkunft schlechtere Startchancen haben. Wir müssen jeden einzelnen für unsere Gesellschaft gewinnen mit dem - tatsächlich einlösbaren - Versprechen, dass Aufstieg durch Bildung und Leistung möglich ist. Wer muss, wer kann dabei helfen? Welche erfolgversprechenden Modelle gibt es - bei uns in Deutschland und in anderen Ländern?

Ich denke, es lohnt sich auch, die Chancen in den Blick zu nehmen, die ein längeres Leben dem Einzelnen und der ganzen Gesellschaft bietet. Werden wir die Fantasie haben, die neuen Möglichkeiten erfolgreich zu nutzen? Wird es uns gelingen, die Freundschaft zwischen den Generationen zu stärken? Schaffen wir es, mit neuen Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens von Jung und Alt denjenigen eine lebenspraktische Antwort zu geben, die einen "Krieg der Generationen" befürchten? Und was kann der Staat dafür tun, dass junge Menschen mehr noch als bisher von der Erfahrung und dem Engagement Älterer profitieren können? Der Akademiebericht "Altern in Deutschland", der unter Ihrer Federführung, lieber Herr Professor Kocka, gerade vorbereitet wird, gibt uns dazu, so hoffe ich, viele neue Ideen.

Theorie mit Lebensnähe - das Wissenschaftszentrum selbst nennt es: "Problemorientierte Grundlagenforschung", das ist das Kennzeichen Ihres Hauses. In diesem Sinne: Forschen Sie am Wissenschaftszentrum unverdrossen weiter über und für eine gute Zukunft! Halten Sie unserem Land den Spiegel vor - und geben Sie ihm weiterhin einen guten Kompass mit auf den Weg!