Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler bei der Festveranstaltung "100 Jahre Jugendherbergen"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 27. Februar 2009

Bundespräsident Horst Köhler an einem Rednerpult.

Es ist einfach eine schöne Geschichte, deshalb beginne ich damit: Auf einer Wanderung vom sauerländischen Altena nach Aachen gerät der Lehrer Richard Schirrmann mit seinen Schülern in ein Unwetter. In einer Schule finden sie für die Nacht ein Notquartier, und während draußen die Blitze krachen, hat Schirrmann eine zündende Idee: Überall in Deutschland sollte es Häuser geben, wo jugendliche Wanderer preiswert Unterkunft finden, Häuser, von denen aus sie das Land erkunden, Häuser, wo sie miteinander etwas erleben können.

Es ist die Geburtsstunde der Jugendherberge.

Die Idee fällt in eine Zeit des Aufbruchs, der damals ganz Europa erfasst hat. Den "Weg ins Freie" suchten Wandervögel und Jugendbewegte, Künstler, Intellektuelle und Pädagogen wie Schirrmann. Sie hatten erkannt: Den Kindern der inzwischen schon beträchtlich entwickelten Industriegesellschaft fehlte die Erfahrung der Natur. Dagegen sollte etwas unternommen werden. Für die Gesundheit der Kinder. Für ihre Bildung. Und durch das Erlebnis von Gemeinschaft, fernab vom Alltag der Mietskaserne.

Übrigens: Vor 100 Jahren erschien auch Lord Baden Powells "Scouting for Boys" in deutscher Ausgabe. Und ein paar Jahrzehnte später erfuhr ein Junge namens Horst Köhler, dass Pfadfinderei und Jugendherbergen gut zusammenpassen. Der Erwachsene ist bis heute dankbar dafür.

Abenteuer in der Natur, Entdeckungstouren durch Städte und Landschaften, Sport und Spiel: All das bieten die Jugendherbergen ihren jungen Gästen. Auch die Erfahrung, dass es Pflichten gibt, die zu erfüllen sind, Tischdienst zum Beispiel, und dass sich diese Lästigkeiten viel besser bewältigen lassen, wenn man sie gemeinsam anpackt. Vor allem aber sind Jugendherbergen Orte der Begegnung und Kommunikation, an denen junge Menschen aus allen sozialen Schichten und allen Teilen der Welt miteinander umgehen, sich begegnen können. Unterschiedslosigkeit erleben, darin aufgehen können und trotzdem in der Gemeinschaft das eigene Gesicht zu zeigen: Ich finde, unsere Gemeinschaft hat viele Orte verdient, an denen wir diese Erfahrung machen können. Denn diese Erfahrung macht uns stark.

Rund 550 Jugendherbergen gibt es hierzulande inzwischen, über 10 Millionen Übernachtungen pro Jahr hat das Deutsche Jugendherbergswerk zuletzt gezählt. Dazu möchte ich Sie herzlich beglückwünschen.

Denn diese Zahlen zeigen, dass die Jugendherbergen überzeugende Antworten gefunden haben auch auf den Wandel in unseren Ansprüchen. Unser Freizeitverhalten heute geht ganz selbstverständlich davon aus, dass ständig Abwechslung geboten wird. Ob das so gut ist, darüber lohnt sich zwar das Nachdenken. Aber nicht darauf einzugehen, birgt das Risiko, von den Zeitläufen überholt zu werden. In diese Gasse haben sich die Jugendherbergen nicht verrannt. Da gibt es heute Häuser, die bieten ja fast Hotelstandard. Und da gibt es neben dem geliebten Bolzplatz und der Tischtennisplatte auch Streetballplätze oder Skateparks. Und auch mit einer Fülle von kreativen Angeboten vom HipHop-Kurs über das Theaterprojekt bis zum Wissenschaftscamp zeigen die Jugendherbergen: Wir wissen, was wir Euch heute anbieten müssen, damit Ihr ein Erlebnis habt, das Ihr nach Hause mitnehmen könnt.

Ab und zu braucht der Mensch den Tapetenwechsel. Rauszukommen, das tut uns gut. Auch unseren Kindern und Jugendlichen. Viele von ihnen wachsen heute ohne Geschwister auf. Viele gehen in ihrer Freizeit kaum noch vor die Tür, sondern hocken vorm Fernseher oder dem Computer. Vielen fehlt der Kontakt zu anderen sozialen Gruppen. Jugendherbergen können ein Gegenmittel sein, wenn sie Integration als Aufgabe verstehen: als Auftrag, der Vereinzelung entgegenzuwirken, nicht nur der Stubenhocker, und jungen Menschen stattdessen das Erlebnis von Gemeinschaft anzubieten. Das ist nicht leicht, und das Angebot muss schlüssig sein. Trotzdem: Es lohnt sich, Jugendlichen Erfahrungen zu ermöglichen, die kein Schulbuch vermittelt; Erfahrungen, wo sie sich selbst erproben können. Oft sind es bloß kleine Dinge, die etwas ausmachen, aber ich sage Ihnen: Ein Stadtkind zum Beispiel, das mit 13 Jahren zum ersten Mal im Leben lachend bis zu den Knöcheln im Matsch steht, nimmt etwas mit. "Erlebnispädagogik" nannte das Schirrmanns Zeitgenosse, der Bildungsreformer Kurt Hahn, und in der gleichen Tradition steht heute zum Beispiel der Pädagoge Hartmut von Hentig. In seinem jüngsten Buch rät er uns, den Kindern gute Erlebnisse und Erfahrungen außerhalb der Klassenzimmer möglich zu machen. Von Hentig meint, Schülerinnen und Schüler lernen am besten für das Leben, wenn sie sich schon früh im Leben bewähren; wenn sie in eigener Verantwortung Projekte angehen und dabei neue Formen der Gemeinschaft erleben können.

Um die gleiche Idee geht es bei Klassenfahrten. Auch sie bieten Schülerinnen und Schülern Gelegenheit, neue Seiten zu entdecken: an sich selbst, an den Mitschülern und Lehrern, am Leben und eben am Lernen.

Und was wären Klassenfahrten ohne Jugendherbergen, die solche Erfahrungen unterstützen? Ich habe mal in einem Prospekt geblättert und dabei entdeckt, wie viele Angebote es zur Gestaltung von Klassenfahrten inzwischen gibt. Besonders gut hat mir die Idee der "Graslöwen-Klassenfahrten" für Grundschulkinder gefallen. Da wird die Natur zum Klassenzimmer und der Unterricht tatsächlich zum Lokaltermin - Erich Kästner lässt grüßen. Und zugleich sind diese Fahrten ein gutes Beispiel dafür, wie das Jugendherbergswerk erfolgreich mit Partnern von außen zusammenarbeitet, wie z. B. der Deutschen Bundesstiftung Umwelt, um neue, attraktive Angebote zu erschließen.

Reisen bildet. Nur wer sich aufmacht, kann Neues entdecken, und Klassenfahrten sind besonders wichtige Bildungsreisen. Das Jugendherbergswerk hat sich deshalb in den vergangenen Jahren zusammen mit dem Bundeselternrat und dem Schullandheimverband immer wieder dafür eingesetzt, dass solche Reisen trotz dichter Lehrpläne einen festen Platz im Schulleben behalten. Dieses Anliegen unterstütze ich nachdrücklich. Und ich finde auch, dass alle Schüler an diesen Klassenfahrten teilnehmen können müssen. Wir müssen also auch darauf achten, dass solche Klassenfahrten erschwinglich bleiben. Es ist für mich nicht hinnehmbar, wenn einzelne Schülerinnen und Schüler zu Hause bleiben müssen, weil ihre Eltern den Kostenbeitrag für die Klassenfahrt nicht aufbringen können. Und wir können es auch nicht akzeptieren, dass Eltern ihren Söhnen und Töchtern aus kulturellen Gründen die Teilnahme verbieten. In allen diesen Fällen - ganz gleich, ob es ums Geld oder um kulturelle Vorbehalte geht - sind natürlich Gespräche notwendig: zwischen Eltern und Lehrern, auch, wenn´s drauf ankommt, mit dem Sozialamt oder dem Förderverein einer Schule. Entscheidend ist, dass es am Ende für alle Schülerinnen und Schüler heißt: gute Reise!

Nun führen längst nicht mehr alle Klassenfahrten in heimische Jugendherbergen. Hierzulande ist die Konkurrenz zum Beispiel auch durch Hostels gewachsen, und zunehmend lockt die Klassenreisenden auch der Duft der großen weiten Welt, das Ausland. Ich finde, das schmälert die Jugendherbergs-Idee überhaupt nicht. Denn wir wissen inzwischen doch auch: Das Gute kann nahe liegen, und Jugendherbergen sind oft ideale Ausgangspunkte, um sich die Schönheiten und Besonderheiten unserer Heimat zu erschließen. Das soll jede Klasse für sich entscheiden, ob sie nun ins Ausland fahren will oder in die Jugendherberge in der Heimat. Aber ich glaube, die Erschließung der Schönheiten, der Besonderheiten unserer Heimat, das wird immer ein Dauerbrenner sein.

Wie attraktiv die Angebote der Jugendherbergen sind, das entdecken offensichtlich auch immer mehr Familien: Denn immer öfter sitzen Eltern mit Kindern morgens mit im Frühstücksraum einer Jugendherberge. Und die Jugendherbergen stellen sich ein auf diese neuen Kunden, die inzwischen rund ein Fünftel der Übernachtungsgäste ausmachen. Sport, Lebensberatung, Zusammensein in der Gemeinschaft, Kultur: Das Angebot für Familienfreizeiten in den Jugendherbergen ist wirklich groß. Es ist schön, dass die Jugendherbergen die Familien so willkommen heißen, es ist gut, dass Familien hier entspannt und bezahlbar Urlaub machen können. Wir brauchen mehr solche familienfreundlichen Orte in unserem inzwischen oftmals ziemlich kinderentwöhnten Land. Und dass mittlerweile auch für Großeltern Angebote geschaffen werden, freut mich besonders: So werden Jugendherbergen auch zu einem Ort der Begegnung der Generationen. Und einfallsreich wie die Jugendherbergen sind, werden sie bestimmt noch mehr Ideen dafür entwickeln, wie Jung und Alt aneinander Freude haben können. Da gibt es viele Möglichkeiten für neue Ideen.

Dass sich in den Jugendherbergen heute und sicher auch künftig auf so vielfältige Weise Gemeinschaft erleben lässt, das verdanken wir nicht zuletzt den Menschen, die sich dafür einsetzen. Und darum ist es mir ganz wichtig, Danke zu sagen: den Herbergsleiterinnen und -leitern (zu meiner Zeit nannte man sie noch Herbergsvater und Herbergsmutter) und all ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - darunter viele Zivildienstleistende - und den vielen Ehrenamtlichen, die auf Landes- und Bundesebene dafür sorgen, dass das Netz der Jugendherbergen dicht gespannt bleibt, immer voller Ideen, Leben und Wärme. Vielen Dank Ihnen allen für Ihr Engagement!

100 Jahre sind ein guter Anfang - das Jubiläumsmotto der Jugendherbergen ist zugleich Programm. Der alten jungen Idee der Jugendherberge wünsche ich eine gute Zukunft!