Rede von Bundespräsident Horst Köhler bei der Trauerfeier zum Gedenken an die Opfer des Amoklaufs in Winnenden und Wendlingen

Schwerpunktthema: Rede

Winnenden, , 21. März 2009

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult in der Kirche vor gelbem Hintergrund, daneben der Altar mit 15 Kerzen, vor ihm die Symbole der Schüler

Wir gedenken heute der Opfer eines furchtbaren Verbrechens. Wir trauern um

Jacqueline Hahn,

Ibrahim Halilaj,

Franz Josef Just,

Stefanie Tanja Kleisch,

Michaela Köhler,

Selina Marx,

Nina Denise Mayer,

Viktorija Minasenko,

Nicole Elisabeth Nalepa,

Denis Puljic,

Chantal Schill,

Jana Natascha Schober,

Sabrina Schüle,

Kristina Strobel,

Sigurt Peter Gustav Wilk.

Wir trauern um acht Schülerinnen, einen Schüler und drei Lehrerinnen der Albertville-Realschule in Winnenden. Wir trauern um drei Männer, die der Täter auf seiner Flucht wahllos tötete, ehe er sich selbst das Leben nahm.

Wir trauern mit allen Eltern, die Kinder verloren haben, mit den Freundinnen und Freunden der Getöteten, mit den Familien der ermordeten Erwachsenen.

"Nichts ist mehr, wie es war." Dieser verzweifelte Satz war in den letzten Tagen oft zu hören: in Winnenden und Wendlingen, in Weiler zum Stein und in vielen anderen Orten überall im Land und darüber hinaus. Ein junger Mensch hat 15 Mitmenschen und dann sich selbst getötet. Er hat gemordet - und er hat viele an Leib und Seele verletzt. Er hat Familien in Trauer und Verzweiflung gestürzt - auch seine eigene. Auch sie hat ein Kind verloren. Auch für sie ist eine Welt zusammengebrochen.

Wir haben die schrecklichen Bilder vom vorletzten Mittwoch noch vor Augen: die Bilder von Eltern, die voller Angst auf Nachricht von ihren Kindern warten. Die Bilder von jungen Menschen und von Erwachsenen, die sich weinend in den Armen liegen. Das Bild eines Polizeipräsidenten, dem die Stimme versagt. Die Bilder der Trauernden an der improvisierten Gedenkstätte mit Kerzen, Blumen und Plakaten.

Jedes Kind ist unschuldig geboren. Wenn ein Kind stirbt, dann sterben auch Hoffnung und Zukunft mit ihm. Deshalb entsetzen uns Berichte über Gewalt gegen Kinder so sehr. Was aber, wenn Kinder selbst zu Mördern werden?

Uns quälen die immer gleichen Fragen:

Wie konnte das geschehen?

Wie kann ein Mensch so etwas tun?

Gab es keine Alarmsignale, keine Zeichen, auf die man hätte reagieren können?

Manche werden sich auch fragen, wie Gott so etwas zulassen kann.

Und viele Angehörige fragen sich: "Wie soll unser Leben nun weitergehen?"

Bundespräsident Johannes Rau hat vor sieben Jahren nach dem Mordanschlag am Erfurter Gutenberg-Gymnasium gesagt: "Wir sind ratlos und wir spüren, dass schnelle Erklärungen so wenig helfen wie schnelle Forderungen."

Es ist wahr: Amokläufe wie der in Erfurt, in Emsdetten und jetzt hier in Winnenden und Wendlingen führen uns auf schmerzliche Weise vor Augen, wie verletzlich und zerbrechlich unser Leben ist, wie trügerisch unser Gefühl von Normalität und Sicherheit. Wir spüren, wie uns plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Wir suchen Halt: bei Freunden und Angehörigen; bei Menschen, die das gleiche Schicksal erlitten haben; im Glauben an Gott.

Solche Taten führen uns an die Grenze des Verstehens. Und auch an die Grenze des Sagbaren, hinter der alles Deuten, Fordern und Erklärenwollen schnell unsäglich wird.

Ja, wir haben Angst und sind ratlos. Aber solange wir einander halten und helfen können, sind wir nicht hilflos.

Ja, viele von uns vergehen vor Schmerz. Aber solange wir einander trösten können, ist unser Leben nicht trostlos.

Ja, wir können keinen Sinn in dieser Tat erkennen. Aber solange es Menschen gibt, die uns brauchen und auf die wir achten, solange wir eine Aufgabe haben, ist unser Leben nicht sinnlos.

Wir haben in den letzten Tagen auf schmerzliche Weise gespürt, was wirklich wichtig ist im Leben.

Wirklich wichtig ist, dass wir spüren, wenn einer verletzt ist und Hilfe braucht. Dass wir uns unserer eigenen Verletzlichkeit und unserer eigenen Grenzen bewusst sind.
Wir brauchen den Trost, das Schweigen, das Zuhören und das Einfach-nur-Dasein unserer Mitmenschen.

Wirklich wichtig ist, dass wir uns umeinander kümmern, dass wir uns gegenseitig annehmen und dass wir füreinander da sind.

Wir haben großen Respekt vor der Tapferkeit der örtlichen Polizeibeamten, die hier in Winnenden mit hohem persönlichem Risiko noch Schlimmeres verhindert haben. Ihr rasches Eingreifen war auch eine Konsequenz aus früheren Amoktaten.

Doch es bleiben Fragen an uns alle: Tun wir genug, um uns und unsere Kinder zu schützen? Tun wir genug, um gefährdete Menschen vor sich selbst zu schützen? Tun wir genug für den inneren Frieden bei uns, den Zusammenhalt? Wir haben uns auch alle selbst zu prüfen, was wir in Zukunft besser machen, welche Lehren wir aus dieser Tat ziehen müssen.

Zum Beispiel wissen wir doch schon lange, dass in ungezählten Filmen und Computerspielen extreme Gewalt, die Zurschaustellung zerstörter Körper und die Erniedrigung von Menschen im Vordergrund stehen. Sagt uns nicht der gesunde Menschenverstand, dass ein Dauerkonsum solcher Produkte schadet? Ich finde jedenfalls: Dieser Art von "Marktentwicklung" sollte Einhalt geboten werden.

Eltern und Angehörige von Opfern haben mir gesagt: "Wir wollen, dass sich etwas ändert". Meine Damen und Herren, das will ich auch. Das sollten wir alle wollen. Und da ist nicht nur der Staat gefordert. Es ist auch eine Frage der Selbstachtung, welche Filme ich mir anschaue, welche Spiele ich spiele, welches Vorbild ich meinen Freunden, meinen Kindern und Mitmenschen gebe. Zur Selbstachtung gehört es, dass man "Nein" sagt zu Dingen, die man für schlecht hält - auch wenn sie nicht verboten sind. Die meisten von uns haben ein Gespür für Gut und Böse. Also handeln wir auch danach! Helfen wir denjenigen, die sich in medialen Scheinwelten verfangen haben und aus eigener Kraft nicht mehr zurückfinden. Helfen wir auch Eltern, denen ihre Kinder zu entgleiten drohen.

Und schauen wir auch genau hin, welche Bilder wir uns von unseren Mitmenschen machen, welche Menschenbilder wir in unserer Umgebung akzeptieren und von welchen wir uns selbst beeinflussen lassen: Welche Erwartungen haben wir an andere? Wie schön, klug und kraftvoll muss einer sein, um dazuzugehören? Und wie verloren muss sich einer fühlen in einer Gesellschaft, die täglich scheinbare "Stars" produziert und sie morgen schon wieder vergessen hat? Was wird aus denen, die solchen Bildern nicht entsprechen? Wie schnell fällt einer aus dem Rahmen - nur weil er anders ist, als wir es von ihm erwarten; nur weil wir zu bequem sind, um nachzudenken und unsere Schablonen zu korrigieren? Einen Menschen so wahrzunehmen, wie er ist - das ist die wichtigste Voraussetzung, um einander verstehen und annehmen zu können, um einander zu helfen.

Da haben auch die Schulgemeinschaften eine wichtige Aufgabe. Wenn Ihnen viel gutes Miteinander gelingt und wenn sie dabei unterstützt werden, wenn sie geprägt sind von Aufmerksamkeit, von gegenseitiger Wertschätzung und Sorge füreinander, dann macht das junge Menschen stark und hilft, dass niemand zurückbleibt.

Wir wurden in den letzten Tagen Zeugen von sinnloser Gewalt und unermesslichem Leid. Wir haben aber auch erlebt, wie Menschen füreinander da waren, wie sie sich gegenseitig stützten und beistanden, wie sie Zeit und Trost füreinander hatten. Ich danke allen, die geholfen haben und dabei oft bis an ihre eigenen Grenzen gegangen sind: der Schulleiterin Frau Hahn und ihrem Stellvertreter Herrn Stetter, den Lehrerinnen und Lehrern, den Schülerinnen und Schülern, die während des Attentats geistesgegenwärtig reagierten und ihre Schüler und Mitschüler schützten, den freiwilligen Helfern, den Polizisten, Rettungskräften, Ärzten, Psychologen und Seelsorgern. Und ich danke allen, die in den vergangenen Tagen füreinander da gewesen sind.

Ich danke den Menschen aus Erfurt, bei denen der Amoklauf am 11. März schreckliche Erinnerungen geweckt hat und die nun ihre Hilfe bei der Bewältigung des Unglücks angeboten haben. Ich danke den vielen Menschen aus dem In- und Ausland, die in Briefen, E-Mails und im Internet ihr Mitgefühl und ihre Solidarität ausgedrückt haben. Viele Beileidsbriefe kamen aus den östlichen Bundesländern. Es ist gut zu wissen, dass unser Land in dieser Stunde der Trauer zusammensteht und dass Menschen überall auf der Welt Teil dieser Trauergemeinde sind.

Unsere Gedanken sind bei den Verletzten und bei denjenigen, die nicht die Kraft gefunden haben, heute bei uns zu sein.

Liebe Angehörige, meine Frau und ich, wir wünschen Ihnen Kraft und Zuversicht. Wir wünschen Ihnen, dass Ihr Leben wieder einen Rahmen findet - einen Rahmen, der ihnen hilft, weiterzuleben, und in dem auch die Toten und Verlorenen, der Schmerz und die Trauer ihren Platz finden. Wir wünschen Ihnen die Zeit, die Sie brauchen, und Menschen, die in echter Anteilnahme bei Ihnen sind.

Ganz Deutschland trauert mit Ihnen.

Sie sind nicht allein.