Rede von Bundespräsident Horst Köhler bei der Abschlusskonferenz des Forums Demographischer Wandel

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 2. April 2009

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult

Ich kann mich noch gut an meinen ersten Satz zum Auftakt des Forums Demographischer Wandel vor rund viereinhalb Jahren erinnern. Damals habe ich gesagt: "Das Thema unserer Konferenz ist im Grunde: die Zukunft." Meine Schlussrede kann ich - im Grunde - mit dem gleichen Satz beginnen. Denn das Forum Demographischer Wandel mag zwar heute seine Arbeit beenden. Sein Thema aber wird uns noch lange begleiten - und sein Ertrag noch lange fortwirken.

Wir haben in den vergangenen Jahren in mehreren Konferenzen, vielen Vorträgen und Werkstattgesprächen das Rad gewiss nicht neu erfunden. Aber wir haben mitgeholfen, das öffentliche Bewusstsein für den demographischen Wandel zu stärken. Dafür, dass er zwar nicht die alleinige Ursache vieler Herausforderungen ist, vor denen wir heute stehen, sie aber zum Teil enorm verschärft. Dafür, dass er - von den Sozialsystemen über die Wirtschaft bis hin zum Zusammenleben in unserer Gesellschaft - doch in gewisser Weise alles auf den Prüfstand stellt.

Einige Bereiche haben wir gewissermaßen unter die Lupe gelegt. Wir haben gezeigt, wie der demographische Wandel auf Familie, auf Bildungsprozesse und auf das Zusammenleben von kulturell und sozial Verschiedenen wirkt. Wir haben Lösungsansätze gesammelt, die es schon gibt, um uns und unsere Gesellschaft gut auf diesen Wandel einzustellen. Und wenn ich "wir" sage, dann meine ich Sie alle: die führenden Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik ebenso wie die vielen engagierten Bürgerinnen und Bürger. Sie alle haben das Forum Demographischer Wandel mit Ihren Ideen beflügelt. Herzlichen Dank dafür!

Eines ist in den vielen guten Diskussionen der vergangenen Jahre ganz klar geworden: Verantwortlich für die Gestaltung des Wandels sind nicht allein die üblichen Verdächtigen in Politik und Administration. Verantwortlich sind wir alle - jeder in seinem Bereich, jeder nach seinen Möglichkeiten.

Wir haben hier im Forum viele Gestalter gehört: Da war die Leiterin der Grundschule im so genannten sozialen Brennpunkt, die ihr Kollegium auf die ethnische Vielfalt der Kinder eingestellt hat - und zugleich die Eltern darauf, ihren Erziehungsauftrag ernst zu nehmen und Hilfe anzunehmen. Da war der Oberbürgermeister der ostdeutschen Universitätsstadt, der das Beste aus dem Weniger-Werden macht und zugleich mit aktiver Familienpolitik, mit Netzwerken zwischen unterschiedlichsten Akteuren versucht, junge Leute bei der Verwirklichung ihres Kinderwunsches zu unterstützen. Da war der Kitaleiter, der schon mit den Jüngsten auf Entdeckungstour geht und so ihren Lernwillen von klein auf fördert. Da war der Manager, der über seine alternde und zahlenmäßig schrumpfende Kundschaft nachdenkt und sich Gedanken darüber macht, wie er seine Beschäftigten im Unternehmen und auf dem Laufenden halten kann. Da war die Initiatorin der Alten-Wohngemeinschaft, die nicht nur sagt: "man müsste", sondern anpackt und etwas tut.

Ich habe selbst vor ein paar Jahren in Bremen im Stadtteil Gröpelingen ein Stiftungsdorf besucht: Dort verbringen türkische Ehepaare ihren Lebensabend gemeinsam mit deutschen, es gibt eine Begegnungsstätte für die Jüngeren und vieles mehr - und der Initiator des Ganzen ist ein türkischstämmiger Unternehmer.

Vielleicht ist das überhaupt das Wichtigste, was das Forum Demographischer Wandel zur Lösung der vielen Herausforderungen beigetragen hat: Hier wurden Ideen ausgetauscht und Kräfte gebündelt, hier haben Teilnehmer aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen sich kennen gelernt, zugehört und gegenseitig bestärkt. Hier sind Verantwortliche aus Bereichen miteinander ins Gespräch gekommen, die sonst kaum untereinander verknüpft sind. Hier wurden Dialoge kreuz und quer geführt - zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, Wissenschaft und Politik, Politik und Zivilgesellschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Wie wichtig das ist, das haben wir im Laufe der vergangenen Jahre immer stärker erkannt.

Die Bürgerwerkstatt zum demographischen Wandel hier in Schloss Bellevue vor gut zwei Monaten war ein wunderbares Beispiel dafür, wie Kooperation und Vernetzung funktionieren können - einen kleinen Einblick haben Sie ja vorhin durch den Film bekommen. Was ich damals an Gesprächen miterlebt habe, hat mir gezeigt, wie gewinnbringend es ist, über alle Grenzen von Institutionen und Zuständigkeiten hinweg die Zusammenarbeit zu suchen und zu fördern: Weil Ideen und Informationen miteinander geteilt werden, anstatt dass jeder von vorne beginnt. Weil man voneinander lernen, sich Lösungen abschauen kann. Und weil man gemeinsam Ziele erreichen kann, die Einzelne allein nicht schaffen.

Wie das in der Praxis funktioniert, konnten wir bei der Konferenz im vergangenen Jahr erleben, am Beispiel der Stadt Dormagen und ihrer so genannten "Präventionskette": Da kooperieren Kinderärzte, Erzieherinnen, Lehrerinnen, Hebammen, Sozial- und Jugendarbeiter und die Angestellten der betroffenen Behörden mit einem großen gemeinsamen Ziel: das Wohlergehen aller Kinder in dieser Stadt zu sichern.

Ich bin überzeugt: Wer einmal die "demographische Brille" aufhatte, der erkennt, wie sehr alles mit allem zusammenhängt: Sozialpolitik und Bildungswesen, Stadtentwicklung und Familienpolitik, Engagementförderung und Integration. Und der begreift, wie wichtig es ist, vernetzt zu denken und zu handeln.

Ich habe selbst vieles neu sehen gelernt im Laufe der letzten Jahre. Vieles ist mit Hinweis auf das Forum überhaupt erst an mich herangetragen worden. Heute vor einer Woche zum Beispiel habe ich den Bericht der Akademiengruppe "Altern in Deutschland" entgegengenommen. An diesem Bericht haben Psychologinnen und Mediziner, Soziologen und Philosophinnen, Historiker und Ingenieurinnen und viele andere Expertinnen und Experten von Leopoldina und acatech mitgearbeitet.

Seine zentralen Botschaften lauten: Die gewonnenen Jahre Lebenszeit sind überwiegend gute und gesunde Jahre. Und diese gewonnenen Jahre bergen unglaubliches Potenzial: für uns selbst, für die Gesellschaft und für ein neues Miteinander der Generationen. Der Philosoph Robert Spaemann hat schon vor vielen Jahren die "Freundschaft zwischen den Generationen" als eine ganz wichtige Grundbedingung unseres Daseins angemahnt.

Um die gewonnenen Jahre tatsächlich zu einem Gewinn für alle zu machen, braucht es allerdings ein Umdenken und Umlenken auf allen Ebenen: in unseren Institutionen und Regelwerken, in unseren Gewohnheiten und Einstellungen.

Einiges hat sich getan in den vergangenen Jahren - aber bei weitem noch nicht genug, um die Chancen des Wandels bestmöglich zu nutzen.

Fangen wir mit den guten Nachrichten an: In Ländern und Kommunen werden der demographische Wandel und seine Folgen zunehmend als Querschnittsaufgabe begriffen.

Stabsstellen beim Bürgermeister und Referate in Staatskanzleien sind eingerichtet worden, eigene kommunalpolitische Konzepte oder Landesprogramme verabschiedet. Viele Kommunen unternehmen große Anstrengungen, um familienfreundlicher zu werden und um den großen Schatz zu heben, der in der Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement liegt. Oft reichen schon kleine Hilfen - ein Raum mit Computer und Telefon, die Übernahme von Fahrtkosten oder die Ausstellung eines Freiwilligen-Ausweises -, um ehrenamtliche Mitarbeit zu ermutigen, ermöglichen und zu koordinieren.

Unternehmen entdecken, dass es sich auszahlt, die familiären Belange der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im beruflichen Alltag mitzubedenken. Immer mehr Arbeitgeber bieten betriebliche Kindergartenplätze und werben mit ihrer Familienfreundlichkeit um gute Arbeitskräfte. Die eben erwähnte Akademiengruppe hat übrigens auch festgestellt, dass die Unternehmen mehr in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investieren, seitdem die Frühverrentungsprogramme abgebaut wurden. Das ist ein gutes Zeichen. Da kann ich nur sagen: Weiter so!

Auch in der Bundespolitik hat sich viel getan. Wer hätte noch Anfang des neuen Jahrtausends vorausgeahnt, dass es so etwas wie den Nationalen Integrationsplan geben würde - und mit ihm eine intensive gesellschaftliche Debatte um unser Zusammenleben in einem vielfältiger werdenden Deutschland? Wer hätte einen künftigen Rechtsanspruch auf Betreuung für unter Dreijährige für möglich gehalten - und vorausgesagt, dass Länder und Kommunen innerhalb von fünf Jahren die Zahl ihrer Betreuungsplätze für diese Altersgruppe verdreifachen wollen?

Gerade bei der Frage der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehen viele Menschen Silberstreifen am Horizont. Und manches, was wir noch in der Konferenz von 2006 als Forderungen gehört haben, ist inzwischen Realität: Das Elterngeld puffert den Einkommensausfall im Babyjahr und fördert eine partnerschaftliche Aufgabenteilung zwischen Müttern und Vätern, indem es Vätern gegenüber ihren Arbeitgebern den Rücken stärkt. Ein Anspruch auf Auszeiten vom Beruf für die Pflege von Angehörigen hilft, wo früher nur der Ausstieg aus dem Job als Lösung möglich schien, wenn plötzlich jemand aus der Familie pflegebedürftig wurde. Es ist eine Familienpolitik in Gang gekommen, die den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen entspricht. Sie ist in Gang gekommen - aber noch nicht am Ziel.

Es war in den vergangenen Jahren spannend zu beobachten, wie schnell angesichts der demographischen Entwicklung so mancher alte Glaubenskrieg beigelegt wurde. Es wird heute nicht mehr endlos darüber debattiert, ob ein Kleinkind von jemand anderem als seiner leiblichen Mutter betreut werden darf, sondern wir suchen und finden pragmatische Lösungen für wirkliche Wahlfreiheit. Ähnlich verhält es sich mit unserem Bildungssystem: Da werden - weil die Schüler ausbleiben - auf einmal Haupt- und Realschulen oder Gymnasien und Gemeinschaftsschulen zusammengelegt zu Schulen mit mehreren Bildungsgängen und hoffentlich mehr Durchlässigkeit. Da wird die gute alte Zwergschule mit altersgemischtem Unterricht in neuer Form pädagogisch wiederentdeckt.

Auch beim Thema Zuwanderung hat das Umdenken zunächst mit der Anerkennung der demographischen Realitäten begonnen. Seit beim Mikrozensus nicht mehr nur nach dem Pass, sondern auch nach der Herkunft der Eltern gefragt wird (der inzwischen berühmte "Migrationshintergrund"), sind die Tatsachen klarer: Jeder fünfte Einwohner unseres Landes wurde nicht in Deutschland geboren oder stammt aus einer Familie, in der mindestens ein Elternteil aus dem Ausland hierher gekommen ist. In manchen Großstädten trifft das auf jeden dritten zu. Tatsache ist auch: Wir sind (seit langem) ein Land, in dem aus den unterschiedlichsten Gründen Menschen aus anderen Ländern leben. Das ist schön und spricht für unser Land. Weniger positiv ist, dass viele von ihnen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht heimisch geworden sind.

Viele Herausforderungen werden nun endlich angepackt, weil Verantwortliche auf allen Seiten Integration als Querschnittsaufgabe erkannt haben. Es ist gut, dass immer mehr Institutionen gezielt Jugendliche mit Migrationshintergrund fördern, die bisher oft unzugänglich oder ohne Ansprache blieben. Es ist sehr wichtig, dass inzwischen auch Zuwandererverbände bei ihren Mitgliedern die Bedeutung von Bildung hervorheben und Anstrengungen fordern. Wenn wir gemeinsam von den Chancen profitieren wollen, die Vielfalt in einer globalisierten Welt bietet, brauchen wir aber noch mehr: Wir brauchen ein Bildungssystem, das ungleiche Startchancen ausgleicht. Wir brauchen Anerkennung für erbrachte Leistungen und Offenheit gegenüber kultureller Vielfalt. Und wir brauchen das Gefühl: Unser Land besteht nicht aus "uns" und "denen" - egal, wer gerade mit "uns" und "denen" gemeint ist. Unsere gemeinsame Zukunft ist wichtiger als Unterschiede bei der Herkunft.

Einiges hat sich getan. Allerdings noch lange nicht genug, um unsere Gesellschaft wirklich gut auf die kritischen Folgen des demographischen Wandels vorzubereiten.

In vielen Bereichen wird die demographische Entwicklung noch nicht so selbstverständlich mitbedacht, wie es nötig und möglich wäre. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zunächst einmal könnten unsere statistischen Grundlagen besser sein. Aber auch die bekannten Fakten werden nicht so in Planungen einbezogen, wie es geschehen müsste. Warum? Es sind die eingefahrenen und leider häufig kurzsichtigen Denkweisen. Es ist vielleicht auch die Sorge, dass eine Planung, die allzu realistisch auf Schrumpfung reagiert, politisch nicht vermittelbar ist. Und schließlich sind es vielfach auch Strukturen, die - selbst bei gutem Willen - eine langfristige tragfähige Planung verhindern.

Ein Beispiel: Wenn Kommunen sich ruinöse Wettbewerbe um Zuzüge und Gewerbeansiedlungen liefern, bringt das - bei schrumpfenden Bevölkerungszahlen - mehr Verlierer als Gewinner hervor. Wir brauchen mehr denn je wirksame Anreize für Kooperation auf kommunaler Basis.

Vor allem aber brauchen wir ein neues Bewusstsein, eine neue Akzeptanz für Subsidiarität. Der demographische Wandel hat von Ort zu Ort deutlich unterschiedliche Ausprägungen. Wir brauchen deshalb mehr Zuständigkeiten auf der Ebene, auf der am direktesten reagiert werden kann. Auch die viel beschworene Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse kann mit zentraler Planung nicht hergestellt werden. Wer dieses Ziel ernst nimmt, muss sehr unterschiedliche Wege zulassen. Die Verantwortlichen vor Ort brauchen gestalterische Freiheiten, um mit den vorhandenen Ressourcen das Bestmögliche zu erreichen.

Diese Zuständigkeit muss dann aber auch mit dem nötigen "Demographiebewusstsein" ausgeübt werden. Ich nenne ein paar Beispiele, die hier beim Forum Demographischer Wandel genannt wurden: Alle, die am Bau einer Kindertagesstätte mitwirken, sollten von vornherein so planen, dass das Gebäude auch anders nutzbar ist, wenn sich der Altersaufbau der Bevölkerung verändert. Der Arbeitgeber muss Arbeitsprozesse in seinem Betrieb so gestalten, dass die Bedürfnisse von älteren Beschäftigten und die von jungen Müttern (und künftig hoffentlich auch immer mehr jungen Vätern) berücksichtigt werden.

Für eine Gesellschaft im demographischen Wandel geht es auch darum, neue Lebensentwürfe zu entwickeln und zu ermöglichen, neue Vorstellungen von unserem Zusammenleben in der Gesellschaft und der Rolle des Einzelnen darin. Immer wieder haben uns Expertinnen und Experten eindringlich klargemacht: Kein Talent darf verkümmern, keine Fähigkeit brachliegen. Das ist zum einen ein Gebot der Menschenwürde. Zum anderen ist es eine existentielle Notwendigkeit in einem Land, dessen Bevölkerungszahl schrumpft und in dem immer weniger aktiv Erwerbstätige immer mehr Nicht-Erwerbstätige versorgen müssen, in einem Land, in dem Fachkräfte rar werden und das im weltweiten Wettbewerb um Ideen und Patente mithalten will.

Entdecken wir, was wir gewinnen, wenn wir nicht mehr auf das Wissen und die Erfahrung der Älteren verzichten. Wenn wir Frauen nicht mehr aus dem Erwerbsleben katapultieren, weil Fürsorgepflichten ungleich auf die Geschlechter verteilt sind, weil es an guten Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und an entlastenden Strukturen für pflegende Angehörige fehlt. Entdecken wir, was wir gewinnen, wenn wir Zuwanderung als Chance begreifen und wenn wir es nicht mehr hinnehmen, dass Menschen hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, weil unser Bildungssystem Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern offensichtlich benachteiligt.

Hier sind noch viele Baustellen offen. Wir müssen zum Beispiel noch viel mehr dafür tun, dass Ältere länger im Berufsleben bleiben können - und auch bleiben. Das würde nicht nur die Sozialsysteme entlasten, sondern auch Spielraum für die Entlastung der Jüngeren schaffen. Verlässliche Teilzeitangebote - so wie sie bisher für die Älteren existierten - könnten für junge Eltern ein Segen sein. Und wenn wir im Berufsleben Menschen nicht schon mit Mitte 40 zum alten Eisen zählen würden, dann würde es manch einem Jüngeren leichter fallen, die Entscheidung für eine Familie zu treffen. Zukünftige Generationen mögen sich darüber wundern, wie strikt wir heute unser Leben einsortieren in klar getrennte Phasen: Lernen, Arbeiten und Ruhestand, und warum die Entscheidung für oder gegen Kinder ausgerechnet in der Phase fallen muss, in der die Arbeitslast am höchsten ist. Wenn wir es ermöglichten, die Phasen und Intensität der Erwerbsarbeit anders im Lebenslauf zu verteilen, dann wäre schon sehr viel erreicht.

Geben wir denjenigen, die Kinder oder pflegebedürftige Angehörige haben, mehr Zeit und auch mehr Respekt und Anerkennung - das ist oft wichtiger als etwas mehr Geld. Überdenken wir die starren Altersgrenzen - und damit meine ich beileibe nicht nur die gesetzlichen, sondern ebenso die von privaten Institutionen. Warum sollten nicht Menschen jenseits der 35 noch mal mit einem Stipendium weiterlernen können? Warum sollten sich betriebliche Fortbildungen nicht für über 55jährige lohnen? Warum sollte man mit seinen Kenntnissen und Fähigkeiten nicht in einem neuen Berufsfeld anknüpfen können? Ich bin mir sicher, das würde so manchen wertvollen Impuls in die Arbeitswelt bringen.

Das setzt aber auch voraus, dass wir ein zuversichtlicheres Bild von unserem eigenen Altern gewinnen. Ich kann nur sagen: Es lohnt sich! Die Wissenschaftler der Akademiengruppe haben nämlich auch herausgefunden, dass Menschen mit einer positiven Einstellung zum Altern durchschnittlich sieben Jahre länger leben als solche, die vom dritten Lebensabschnitt vor allem Einschränkungen und Belastungen erwarten. Wenn das kein Anreiz ist.

Die gewonnene Lebenszeit im Alter eröffnet uns wunderbare neue Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten, mehr Zeit mit Kindern und Enkelkindern zu verbringen, Dinge zu tun, in denen neuer Sinn und Eigensinn stecken. Sie sollte uns aber auch dazu bringen, neu zu taxieren, was wir in unterschiedlichen Lebensphasen leisten können - und was wir zur Entlastung der Rentenkassen, zum Steueraufkommen, zur guten Verbindung von altem Erfahrungswissen und jungem Examenswissen in den Betrieben und zum gesellschaftlichen Wohlergehen insgesamt beitragen können, damit der Sozialvertrag hält. Es geht darum, dass wir unseren Sozialvertrag bestandsfest machen.

Ich weiß, manch einer empfindet es als sehr optimistisch, wenn von den Chancen des demographischen Wandels die Rede ist. Aber der Wandel eröffnet Chancen: indem er uns dazu führt, neu über unser Zusammenleben in der Gesellschaft und über die Bedingungen eines gelingenden Lebens nachzudenken. Und indem er uns dazu führt, überkommene Strukturen zu begründen - und sie nötigenfalls zu verändern. Diese Chancen sollten wir wahrnehmen - gemeinsam. Wir spüren doch alle, dass die Menschen wieder vermehrt die Frage nach dem Sinn ihres Lebens stellen. Auch das ist eine Chance!

Übrigens: Der vorhin erwähnte Akademiebericht hat noch eine wichtige Botschaft für uns: Es stimmt nicht, dass alternde Gesellschaften reformunfähig sind. Eher ist das Gegenteil der Fall. Der demographische Wandel ist gestaltbar - und indem wir diese Aufgabe annehmen, bringen wir neuen Schwung in unser Land.

Und noch etwas: Wir hatten unsere Arbeit hier im Forum Demographischer Wandel bewusst auf die großen Veränderungen beschränkt, die uns in Deutschland bevorstehen. Wir dürfen aber über aller Beschäftigung mit uns selbst nicht vergessen, dass der demographische Wandel eine Herausforderung für die gesamte Welt ist. Allerdings zumeist unter entgegengesetzten Vorzeichen als bei uns. Mitte dieses Jahrhunderts werden voraussichtlich über 9 Milliarden Menschen auf der Erde leben - heute sind es knapp 7 Milliarden. Vor allem in den ärmeren Ländern des Südens geht es nicht um Schrumpfung, sondern um Bevölkerungsexplosion, nicht um die Zuwanderung von Geringqualifizierten wie bei uns in Deutschland, sondern um die Abwanderung gerade der Leistungsfähigen, die in ihren Heimatländern oft dringend gebraucht werden. Nord und Süd müssen gemeinsam klug gegensteuern: den Menschen im Süden eine Perspektive und eine lebenswerte Umwelt bieten und zugleich den Ressourcenverbrauch im Norden drosseln. Sonst stehen wir vor ökologischen Folgen und weltweiten Wanderungsbewegungen, die weit über das hinausgehen, was wir derzeit erleben. Und das wird dann nicht nur die Länder des Südens treffen. Deshalb muss eine kooperative Weltpolitik immer auch die Herausforderungen des demographischen Wandels mit bedenken.

So verschieden die Situationen also sein mögen - der demographische Wandel betrifft alle Länder, alle Nationen. Und es gibt einen gemeinsamen Nenner, der lautet: Ohne Berücksichtigung der demographischen Entwicklung ist künftig kein Staat mehr zu machen. Wer heutzutage noch plant, ohne die entsprechenden Prognosen heranzuziehen, handelt unverantwortlich. Wer Strukturen erhält, die eine sinnvolle Anpassung an künftige Herausforderungen blockieren, versündigt sich an künftigen Generationen. "Sehen, um vorauszusehen; voraussehen, um zuvorzukommen" - diese Devise von Auguste Comte, dem Gründervater der Soziologie, müssen wir heute mehr denn je zur Richtschnur unseres Handelns machen.

Meine Damen und Herren, mit der Abschlussdokumentation des Forums Demographischer Wandel bekommen Sie gleich am Ausgang einen gewichtigen Teil der Erkenntnisse der letzten viereinhalb Jahre Schwarz auf Weiß zum Nachhausetragen, und vor allem: zum Weiterverbreiten. Mir bleibt, allen zu danken, die in den vergangenen Jahren hier im Forum Demographischer Wandel mitgearbeitet haben:

der Bertelsmann Stiftung - sie hat als Kooperationspartner das Projekt ermöglicht und ihre reiche Erfahrung mit dem Thema Demographischer Wandel ins Forum eingebracht. Den Mitgliedern des Beraterkreises: Sie haben einen wesentlichen Anteil daran gehabt, zu Beginn die entscheidenden Themen einzukreisen, und Sie haben uns im Verlauf der letzten Jahre immer wieder in Ihren jeweiligen Fachgebieten mit Rat zur Seite gestanden. Dank darüber hinaus an diejenigen, die die Jahreskonferenzen inhaltlich mit vorbereitet haben. Und schließlich Dank an alle, die hier in den vergangenen Jahren zugehört und mitdiskutiert haben.

Mein Fazit ist: Packen wir die Gestaltung des demographischen Wandels beherzt an. Wir können zu neuen Ufern kommen.