Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler beim Finale des 50. Vorlesewettbewerbs des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 25. Juni 2009

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult

So sehen Sieger aus! Dieser Satz ging mir durch den Kopf, als ich Euch gerade hier hereinkommen sah. Und das stimmt ja auch: Ihr alle, die Ihr heute beim Finale des 50. Vorlesewettbewerbs dabei seid, Ihr seid jetzt schon Sieger - ganz egal, welchen Platz Ihr heute belegt:

Denn Ihr alle seid Sieger in Eurem jeweiligen Bundesland geworden, Ihr alle habt davor schon eine ganze Reihe von Vorlesewettkämpfen bestanden und Ihr habt - erst in der Klasse, dann in der Schule, im Bezirk und schließlich im Land - Euer Können bewiesen. Das finde ich toll, und davor habe ich großen Respekt. Deswegen will ich Euch ganz zu Anfang erst noch mal einen herzlichen Glückwunsch sagen - und bitte noch einmal um einen kräftigen Applaus.

Eine solche Veranstaltung wie heute hat das Schloss Bellevue noch nicht erlebt. Ich lade zwar von Zeit zu Zeit Schriftsteller oder Schauspieler zu Lesungen ein. Aber dass Kinder hier beim Staatsoberhaupt vorlesen, das hat es noch nie gegeben. Auf diese Premiere freue ich mich sehr - und meine Frau, die übrigens von Beruf Lehrerin ist, auch.

Wir haben diese Veranstaltung natürlich nicht ohne Grund geplant. Der Vorlesewettbewerb des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels wird fünfzig Jahre alt. Das ist wirklich ein Anlass, etwas ganz Besonderes zu veranstalten. Denn dieser Vorlesewettbewerb ist eine der ältesten Unternehmungen zur musischen Bildung in der Bundesrepublik - und auch eine der beliebtesten und am meisten bewährten. Der Vorlesewettbewerb ist sicher eine der besten Ideen, die der Börsenverein je hatte.

Übrigens ist heute der Vorsteher des Börsenvereins, Herr Dr. Honnefelder, hier, den ich sehr herzlich begrüße - ihn könnt Ihr ja nachher einmal fragen, warum der Börsenverein eigentlich Börsenverein heißt - obwohl es doch um Bücher, Buchhandlungen und Literatur geht ...

Als ich gefragt wurde, ob ich nicht als Bundespräsident dieses Jubiläum - 50 Jahre Vorlesewettbewerb - dadurch ehren wolle, dass ich einmal am Finale teilnehme und also nach Frankfurt komme, wo es ja normalerweise immer stattfindet, da hatte ich sofort eine andere Idee. Warum nicht das Finale hier stattfinden lassen - im Schloss Bellevue, am Sitz des Staatsoberhauptes? Auf diese Weise kann ich noch viel besser öffentlich deutlich machen, wie wichtig ich den Vorlesewettbewerb finde, für uns alle und vor allem natürlich für die Teilnehmer. Das fand dann auch der Herr Honnefelder eine gute Idee - und darum sind wir alle zusammen heute hier.

Ich weiß, dass die Teilnehmer jetzt natürlich alle aufgeregt sind - das wäre ich an Eurer Stelle auch - und dass sie hoffen, dass es bald losgeht. Es geht auch gleich los. Aber wo ich schon einmal diesen schönen Anlass habe, etwas zum Thema Lesen und Vorlesen zu sagen, will ich das noch ganz kurz tun. Sozusagen in drei Sätzen.

Erster Satz: Lesen macht Laune. Wer liest - und erst recht, wer viel liest - der lernt ganz viele verschiedene Welten, Menschen und Zeiten kennen. In Büchern kann man buchstäblich auf Reisen gehen - in fremde Erdteile, in frühere Zeiten oder in die Zukunft. Man begegnet Menschen, die man im richtigen Leben nie treffen würde, und die Sachen machen, die unsere Phantasie so richtig in Schwung bringen, wie zum Beispiel Pippi Langstrumpf, Karlsson vom Dach, die Wilden Hühner, Momo oder Max und Moritz. In Büchern und spannenden Geschichten treffen wir auch auf Menschen, denen wir im richtigen Leben vielleicht lieber nicht begegnen möchten - aber spannend ist es doch, auch einmal mit Piraten und Seeräubern unterwegs zu sein oder mit Gespensterjägern, mit Harry Potter eine Zauberschule zu besuchen oder mit Detektiven auf Verbrecherjagd zu gehen. Also, ich glaube, das könnt ihr und das können Sie alle bestätigen: Lesen macht Laune.

Zweiter Satz: Lesen macht stark. Das hättet Ihr jetzt vielleicht nicht erwartet. Ich meine das aber ganz ernst: Lesen macht stark. Nicht in den Muskeln, wie der Sport, sondern im Kopf. Und das ist wichtig für den Einzelnen und für uns alle. Wir brauchen starke Köpfe. Wer liest, der hat es leichter, sich eine eigene Meinung und ein eigenes Urteil zu bilden. Wer liest, der kann sich in der Welt besser zurechtfinden, weil er sich mehr und besser auskennt. Wer liest, der hat auch gelernt, mit sich allein zu sein, und der hat gelernt, sich geduldig und zäh auch durch dicke Wälzer zu kämpfen. Das alles macht stark. Denn wenn einem jemand mal ein X für ein U vormachen will, dann hat der, der liest, oft die bessere Einsicht, die besseren Argumente und einen eigensinnigen, starken Kopf.

Dritter Satz: Lesen macht tolerant. Ich denke, Ihr kennt dieses Fremdwort. Wer viel liest und vor allem: wer viel Verschiedenes liest, der trifft auf sehr viele verschiedene Meinungen, Ansichten, Gewohnheiten. Wer viel liest, der begegnet den unterschiedlichsten Verhaltensweisen, den unterschiedlichsten Arten zu glauben, zu leben und die Welt zu sehen. Wer viel liest, ist mutiger, sich auch mit dem auseinanderzusetzen, was zuerst fremd und anders erscheint. Und er wird darauf nicht zuerst mit Abwehr und Aggression antworten. Wer liest, der weiß, dass alle Menschen sich in einem Punkt ähnlich sind: Sie alle suchen, jeder auf seine eigene Weise, nach Liebe und nach Glück. Das macht uns tolerant und lässt uns - hoffentlich - friedlicher miteinander umgehen.

Liebe Gäste, Ihr seht und Sie sehen: Lesen macht Laune, Lesen macht stark und Lesen macht tolerant.

Ich glaube, das hätte auch Erich Kästner so gesehen, der vor fünfzig Jahren beim ersten Finale des Vorlesewettbewerbs als Pate dabei war - und dessen Bücher die allermeisten jungen Leserinnen und Leser bis heute lieben - und sehr viele Erwachsene auch.

Sicher hätte er sich gefreut, dass der Vorlesewettbewerb ein so toller Erfolg geworden ist:

15 Millionen Teilnehmer in 50 Jahren, in letzter Zeit 700.000 Teilnehmer jedes Jahr! Damit solche Zahlen zustande kommen, müssen sich viele Leute dafür einsetzen. Ihnen allen will ich heute danken, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Börsenvereins , den Lehrerinnen und Lehrern, die das alles vorbereiten und durchführen, den Eltern, die fleißig mit ihren Söhnen und Töchtern üben - und die beim Vorlesen sicher mitzittern, und auch den Unternehmen und Sponsoren, die im Laufe der Jahre den Wettbewerb unterstützt haben. Ich finde, dass unser ganzes Land stolz sein kann darüber, dass es die Volksbewegung Vorlesewettbewerb gibt.

Und jetzt geht es wirklich los - ich drücke allen Teilnehmern die Daumen! Und meine Frau natürlich auch!