Laudatio von Bundespräsident Horst Köhler auf Ministerpräsident a.D. Erwin Teufel aus Anlass seines 70. Geburtstages

Schwerpunktthema: Rede

Tübingen, , 12. Oktober 2009

Bundespräsident Horst Köhler steht an einem Rednerpult. Weiße Blumen und das Logo der Universität Tübingen sind im Vordergrund zu sehen.

Können Sie sich vorstellen, in Bangladesh zu leben? Nicht als Abenteuerurlaub oder in einem Luxushotel, sondern bei einer armen Kleinbauernfamilie? Deren Hütte Sie teilen, an deren Mahlzeiten Sie teilnehmen, mit der gemeinsam Sie Feldarbeit verrichten, und sei es nur eine Woche lang?

Manche von Ihnen werden wissen, dass Erwin Teufel das gemacht hat. Und zwar nicht als jugendlicher Globetrotter, nein, das ist noch nicht einmal zehn Jahre her. Da stand er als Ministerpräsident an der Spitze eines der wirtschaftlich erfolgreichsten deutschen Bundesländer. In Bangladesh wollte er am eigenen Leib erfahren, wie sich die bestehende Weltwirtschaftsordnung auf das Leben der Menschen dort auswirkt, welche Gefahren ihnen durch den Klimawandel drohen, und wie ihnen wirksame Hilfe zur Selbsthilfe zuteil werden kann - durch Mikrokredite zum Beispiel.

Ich finde, das sagt viel über unseren heutigen Jubilar. Es sagt viel über seinen Drang, Grenzen zu überwinden, Menschlichkeit zu ermessen und die Welt zu verstehen - und über seine Bereitschaft, dafür auch ungewöhnliche Wege zu gehen.

Lieber Erwin Teufel, Sie haben sich von Grenzen nie aufhalten lassen. Nicht von denen in der Geographie, nicht von denen des Standes und der Herkunft und auch nicht von den Kästchen und Schubladen, in die wir die Welt viel zu oft einteilen. Sie sind ein Kind der Moderne, das an die Kraft der Vernunft glaubt - und zugleich wissen Sie um die Begrenztheit der Aufklärung. Sie sind ein gläubiger Katholik, aber Sie sind nicht kritiklos gegenüber Ihrer Mutterkirche - etwa wenn es um "Donum Vitae" oder die Weihe von Frauen zu Diakoninnen geht oder darum, Hans Küng Ihre Solidarität zu zeigen. Sie sind ein konservativer homo politicus mit eigener Meinung. Ihr politisches Denken orientiert sich an langen Linien. Die Bewahrung der Schöpfung war für Sie schon sehr früh ein vorrangiges politisches Ziel. Sie treten entschieden ein für eine starke Wirtschaft und die Kraft des Wettbewerbs - und zugleich treibt Sie permanent die Frage um, was unsere Gesellschaft zusammenhält, jenseits von wirtschaftlichem Erfolg, von Produktion und Konsum.

Erwin Teufel ist ein demütiger Mann. Aber wenn es eine Sache gibt, bei der er zur Maßlosigkeit neigt, dann ist es sein Wissenshunger. Lernen und Bildung, das sind Schlüsselworte in seinem Leben. Erwin Teufel ist ein Lernender; einer, der begreifen und verstehen will; der sich mit vorgefertigten Antworten nicht zufrieden gibt; der den Dingen auf den Grund geht; der seine Meinung auch ändert, wenn es überzeugende Argumente gibt.

Den Aufstieg durch Bildung hat er selbst erlebt - vom Bauernsohn, der als erster in der Familie aufs Gymnasium ging, über den gehobenen Verwaltungsdienst zum höchsten Amt des Landes Baden-Württemberg. Als er dann selbst in politischer Verantwortung stand, hat er dazu beigetragen, solche Aufstiegswege auch für andere zu ebnen: Er hat geholfen, in Baden-Württemberg ein dichtes Netz von Fachhochschulen und Berufsakademien zu errichten - heute eines der Markenzeichen der Hochschullandschaft im Südwesten. Er hat sinnvolle Privatisierungen genutzt, um den Erlös in Bildungsprojekte zu investieren, in die Wissenschaft und in die Stärkung des sozialen Zusammenhalts.

Früher als andere hat Erwin Teufel erkannt, wie wichtig es ist, in die Köpfe der Menschen zu investieren - gerade in einem rohstoffarmen Land, das im weltweiten Wettbewerb eine Spitzenposition verteidigen will, auch um weiterhin mit guten Lösungen voranzugehen und die Kraft zur Solidarität zu haben, im Innern wie nach außen. Gute Bildung für alle, das ist die nachhaltigste Sozialpolitik, die wirksamste Integrationshilfe und das beste Mittel zur Überwindung sozialer Ungleichheit. Das sollten wir endlich begreifen - und danach handeln. Und wir sollten begreifen, dass Lernen eine Lebensaufgabe ist. Auch das hat Erwin Teufel uns vorgemacht, als er nach seiner Zeit als "MP" nicht aufs Altenteil ging, sondern als Student an die Uni.

"Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit." Diesen Satz des Sozialdemokraten Kurt Schumacher zitiert der Christdemokrat Erwin Teufel gerne und oft. Und er lebt und arbeitet danach.

"Weltanschauung", das ist für ihn auch ein handwerklicher Prozess. Er ist überzeugt davon, dass unsere Welt eine Ordnung hat, die verstanden werden kann; dass man sich der Mühe stellen muss, beharrlich nachzufragen; eins und eins zusammenzuzählen; vom Kleineren zum Nächstgrößeren zu denken und sich dabei von niemand irre machen lassen. Sein Ziel ist es, die Dinge zu betrachten, wie sie sind; unterschiedliche Perspektiven zusammenzuführen; Zusammenhänge herzustellen; Expertenwissen zu vernetzen und Teilwahrheiten zu bündeln zu einem sinnvollen Ganzen.

Diese Art zu denken ist nicht bequem - nicht für Erwin Teufel und auch nicht für andere. Natürlich ist es leichter, nicht nach rechts und links zu schauen und sich auf den eigenen Ausschnitt der Wirklichkeit zu beschränken. Aber leicht wollte Erwin Teufel es sich nie machen. Und auch wir dürfen es uns nicht leicht machen angesichts der Herausforderungen, vor denen wir überall in der Welt stehen. Die Finanzmarktkrise, der drohende Klimawandel, überhaupt alles, was mit dem Begriff "Globalisierung" zusammenhängt, zeigen uns, wie wichtig der Blick fürs Ganze ist und wie gefährlich es ist, wenn Zusammenhänge nicht erkannt oder missachtet und Einzelinteressen rücksichtslos durchgesetzt werden.

Vom Kleineren zum Größeren denken, vom Einfachen zum Komplexen und wieder zurück. Das ist auch der Schlüssel zum politischen Denken von Erwin Teufel. Wir alle kennen ihn als glühenden Anhänger des Subsidiaritätsprinzips und leidenschaftlichen Föderalisten. Mit Entschiedenheit tritt er dafür ein, dass politische Entscheidungen nah am Bürger gefällt und Probleme möglichst dort gelöst werden, wo sie entstanden sind und wo meist das Rettende auch wächst. Und er buchstabiert diesen Gedanken konsequent durch: Vom Individuum über die Familie und die freien Vereinigungen zu den Kommunen; von dort über die Bundesländer zum Nationalstaat und dann weiter bis auf die europäische Ebene - der sich gerade dadurch auf sinnvolle Weise Aufgaben zuordnen und Grenzen setzen lassen.

Übrigens: In den Augen von Erwin Teufel habe ich soeben vermutlich einen schweren Fehler begangen: Ich habe "Bundesländer" gesagt. In Stuttgarter Beamtenkreisen erzählt man sich, dass Ministerpräsident Teufel seine Mitarbeiter wiederholt angewiesen habe, dieses Wort nicht zu verwenden, weil die Länder - so Teufel - nicht dem Bund gehörten, sondern - im Gegenteil - dieser ein Geschöpf der Länder sei. Aber seine historischen Einordnungen fruchteten nicht bei jedem. Deshalb habe "der MP" auf sämtlichen Schreibcomputern des Stuttgarter Staatsministeriums das Wort "Bundesland" in allen Deklinationsformen sperren lassen. Und wenn fortan jemand das Wort "Bundesland" eintippte, verwandelte es sich auf dem Bildschirm in "Land".

Sollte diese Geschichte nicht wahr sein, so ist sie doch gut erfunden, denn sie scheint mir gleich mehrere Wesenszüge zu veranschaulichen, die den politischen Menschen Erwin Teufel auszeichnen: Seine Leidenschaft für den Föderalismus, sein Sinn für historische Gegebenheiten, seine Beharrlichkeit in der Sache und seine schwäbische Schlitzohrigkeit, die zur Erreichung ihrer Ziele unter anderem souverän auch die Möglichkeiten der modernen Technik einsetzt.

Für Erwin Teufel wird die Reform unserer bundesstaatlichen Ordnung - auch nach den Föderalismuskommissionen I und II - noch nicht zu Ende sein können. Da teile ich seine Meinung. Wir brauchen Ermutigung zum kreativen Handeln gerade auch auf kommunaler und regionaler Ebene bei zugleich klaren Verantwortlichkeiten, kürzeren Entscheidungswegen und mehr Transparenz für die Bürgerinnen und Bürger.

Für diese Ziele hat Erwin Teufel auch auf europäischer Ebene gekämpft. Als Mitglied im Konvent für eine europäische Verfassung hat er sich für ein Europa eingesetzt, "das von unten nach oben aufgebaut" wird. Mit seinen Worten: "Europa ist nicht dann stark, wenn es sich um tausenderlei Aufgaben kümmert, sondern wenn es sich um die richtigen Aufgaben kümmert." Europa - so Teufel - muss mit einer Stimme sprechen, wenn es in der Welt gehört werden will. Und vor allem: Es muss sich seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern verständlich machen, wenn es ihre Herzen erreichen will.

Für Erwin Teufel ist Europa eine Herzensangelegenheit. Geboren am vierten Tag des Zweiten Weltkrieges, gehören zu seinen frühesten Kindheitsbildern die Erinnerung an Bombennächte, an die Sorge um den Vater, der zuletzt noch Soldat werden musste, und an den Einmarsch fremder Truppen in sein Heimatdorf. Diese Erfahrungen, zu denen später die Berichte über die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten kamen, haben Erwin Teufel geprägt: Sie haben ihn zu einem überzeugten Demokraten und einem leidenschaftlichen Europäer gemacht. Als er als junger Bürgermeister von Spaichingen eine Städtepartnerschaft mit einer französischen Gemeinde abschloss, sagte ihm sein dortiger Amtskollege, der als Soldat in zwei Kriegen gegen Deutschland gekämpft hatte: "Wir müssen diese Partnerschaft machen, damit sich die junge Generation unserer beiden Städte und Länder kennen lernt. Denn wer sich kennt, schießt nicht mehr aufeinander."

Von Europa-Begeisterung ist heute bei uns nur noch wenig zu spüren. Das liegt sicherlich auch daran, dass die europäische Einigung heute für viele - gerade für die Jüngeren - zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Eigentlich ist das gut. Aber Selbstverständlichkeiten lösen nun einmal selten Begeisterung, ja oft noch nicht einmal vertieftes Nachdenken aus. Ein Gesprächspartner hat mir neulich nur halb im Scherz vorgeschlagen, alljährlich einen "europafreien Tag" zu begehen mit Grenzkontrollen, Zollschranken und Währungsumrechnungen. Damit wir merken, was wir an Europa haben, welche Vorteile uns die europäische Einigung bringt - und was wir noch alles daraus machen können.

Wir Deutsche haben viel Gutes einzubringen in dieses Europa. Von allen Mitgliedstaaten der EU haben wir die stärkste föderale Tradition. Wir wissen, dass Vielfalt eine Bereicherung ist. Unsere Verfassung verpflichtet uns, "zur Verwirklichung eines vereinten Europas" beizutragen (Art 23 Abs 1 GG). Das dürfen wir als Auftrag nie vergessen. Die Nahtstelle zwischen dem ehemaligen Warschauer Pakt und dem freien Westen lief quer durch unser Land, das macht uns heute, in der erweiterten Union, zu Brückenbauern zwischen Ost und West. Kein Land der EU hat so viele Nachbarn wie wir. Und wir leben in gutem Einvernehmen, ja in Freundschaft mit ihnen. Auf all das können wir stolz sein. Und wir sollten darauf aufbauen.

Erwin Teufel hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Europa eine gemeinsame Identität braucht; ein Bewusstsein, wer wir sind und wie wir leben wollen. Was ist uns wichtig? Was wollen wir unseren Kindern einmal hinterlassen? Das sind Fragen, die zum Innehalten und Nachdenken zwingen und also auch ein wenig unbequem sind. Aber sie sind wichtig - für Europa, für unser Zusammenleben als Volk und auch für jeden Einzelnen von uns.

Erwin Teufel ist solchen Fragen nie ausgewichen und hat sie auch nicht der tagespolitischen Opportunität untergeordnet. Er hat ein klares Koordinatensystem und hat nie einen Hehl daraus gemacht, woher er kommt und wofür er steht. Seine Kraftquellen sind die Familie, die Religion und die Heimat. Zur Heimat gehört für ihn immer auch die Geschichte: Die bunte Blumenwiese der Herkünfte und Traditionen im Dreiländereck zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz, der Bürgergeist der Freien Reichsstädte, die Revolution und der demokratische Aufbruch von 1848. Das alles hat ihn geprägt.

Lieber Erwin Teufel, in Ihrer Rede zum 50. Jahrestag der Gründung Baden-Württembergs haben Sie Ihren Landsmann Hermann Hesse mit dem Satz zitiert: "Das alemannische Land hat viele Täler, Ecken und Winkel, aber jedes alemannische Tal, auch das engste, hat seine Öffnung nach der Welt."

Ich finde: Dieser Satz sagt viel aus über Baden-Württemberg und seine Menschen. Und vor allem sagt er viel über Sie. Sie haben sich um Baden-Württemberg und Deutschland verdient gemacht. Sie haben Wege für unsere Zukunft in Europa aufgezeigt. Danke und noch einmal herzlichen Glückwunsch zu Ihrem 70. Geburtstag.

Danke auch an Sie, liebe Frau Teufel. Ich bin sicher: Sie waren und sind die wichtigste Kraftquelle Ihres Mannes.

Wir alle wünschen Ihnen beiden weiterhin viel Schaffenskraft, Gesundheit und Gottes Segen. Ad multos annos!