Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler beim Festakt zur Präsentation des Beethoven-Autographs der Diabelli-Variationen

Schwerpunktthema: Rede

Bonn, , 17. Dezember 2009

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult

Wir sind heute hier versammelt, weil es in einem beeindruckenden gemeinsamen Kraftakt gelungen ist, mehrere Millionen Euro aufzubringen, um ein herausragendes Stück unseres kulturellen Erbes zu erwerben: Beethovens eigenhändige Niederschrift der Diabelli-Variationen. Wem wir dies zu verdanken haben, darüber hat Herr Dr. Adlung schon einiges gesagt. Ich möchte darum meinerseits - passend zum heutigen Anlass - einen Vers von Goethe (den Beethoven ja zeitlebens bewunderte) variieren: "Was du ererbt von Deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen".

Nun hat Beethoven ja selbst einige Unverfrorenheit gezeigt im musikalischen Umgang mit Diabellis Ursprungsthema. Erlauben Sie mir also gleich eingangs eine kühne Variation über den Imperativ "Erwirb es!": Sind mehrere Millionen Euro nicht ein bisschen viel für 48 Blatt Papier, für 81 handgeschriebene Seiten voll Noten? Oder, etwas moderater gefragt: Was ist an dieser Handschrift, das diese stolze Summe rechtfertigt?

Es gibt verschiedene Antworten auf diese Frage. Für Musikwissenschaftler und Interpreten ist es aufregend, in Beethovens Notenschrift, in seinen Korrekturen und den Hinweisen am Rande nach den Stimmungen und Abgründen in diesem großen Klavier-Zyklus zu suchen. Das Autograph ist also keine tote Archivalie, sondern eine Quelle der Inspiration für eine Kunst, die flüchtig ist und davon lebt, immer wieder neu interpretiert zu werden. Wie heißt es bei Goethe weiter? "Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen".

Aber auch, wer einfach nur Beethovens Musik mag, wird angerührt sein vom Anblick dieses Dokumentes mit seiner wilden Notenschrift und seinen Randnotizen. Denn es macht den kreativen Akt unmittelbar erlebbar und verbindet uns mit dem Menschen hinter dem Werk. Darin liegt eine schöne Botschaft, wie ich finde: Auch im Zeitalter der millionenfachen Vervielfältigung hat das Original, das Authentische und Unmittelbare nichts von seiner Faszination verloren. Ebenso scheint es mit dem Musikgenuss selbst: Gewiss können wir heute, wo wir gehen und stehen, Musik hören. Und tatsächlich begegnet man ja auf der Straße kaum noch jemandem, der keine Ohrstöpsel trägt. Und trotzdem gehen Menschen weiterhin ins Konzert oder machen gar selbst Musik. Wir begegnen also in dem Autographen Beethovens einem ebenso kostbaren wie lebendigen Teil unseres musikalischen Erbes.

Allerdings werfen Umstände und mutmaßlicher Preis des Ankaufs auch ein Schlaglicht auf die Auswüchse des heutigen Marktes für solche Kulturgüter: Sie, lieber Herr Dr. Adlung, haben eben mit Recht das Wort "Spekulationsobjekte" gebraucht. Mit Bedacht müssen wir uns in Schweigen hüllen über den gezahlten Preis, weil niemand wissen kann, wie viele Kulturschätze dieser Art noch in den Händen solcher Sammler sind, denen es eben nur darum geht, die Rendite für Raritäten in die Höhe zu treiben. Das wäre dann die Variation "behalte es, um es möglichst gut zu verkaufen".

Ohne den entschlossenen Ankauf durch das Beethoven-Haus hätte es aber auch leicht passieren können, dass ein anonymer Musikliebhaber das Goethe-Wort zu wörtlich nimmt und die Handschrift erwirbt, nur um sie selbst zu besitzen: in einem Tresor versenkt, den Blicken der Öffentlichkeit auf immer entzogen.

Sie, liebe Verantwortliche des Beethoven-Hauses, haben genau das Gegenteil vor. Ihr Leitmotiv heißt "erwerben, um es möglichst vielen zugänglich zu machen" - und zwar mit den Mitteln modernster Technik. Sie wollen diese überaus expressive Handschrift digitalisieren und über das Internet allen Interessierten weltweit zugänglich machen. Damit nimmt Ihr Haus die Devise "Sammeln verpflichtet" in vorbildlicher Weise ernst. Welch ein Glücksfall! Denn viel zu oft lassen Archive auch heute noch die faszinierenden Möglichkeiten der elektronischen Publikation ungenutzt - und zwingen damit Forscherinnen und Forscher, unnötige Reisen auf sich zu nehmen. Dabei bietet das Internet bisher nie dagewesene Chancen, die Quellen unserer Kultur für wissenschaftliche Arbeit weltweit zugänglich zu machen. Was durch die Wechselfälle der Geschichte oder die Spezialisierung der Forschung getrennt wurde, könnte virtuell zusammengeführt werden.

Beethovens Schöpfungen gehören zum deutschen Kulturerbe und zum kulturellen Erbe der Menschheit. Und eine Kulturnation muss sich eben nicht nur fragen, welche Erinnerungen und Schätze sie an nachfolgende Generationen weitergeben möchte. Sie muss sich auch fragen, wie diese Schätze heutzutage tradiert werden können. "Erwirb es, um es zu besitzen" kann man - im übertragenen Sinne - auch als Appell verstehen, die neuen, revolutionären technischen Möglichkeiten der Aneignung klug zu nutzen. Es ist gut, dass die Bundesregierung mit der Einrichtung einer Deutschen Digitalen Bibliothek nun Voraussetzungen dafür schafft, dass die Verfügungsgewalt über das kulturelle Erbe unserer Nation in öffentlicher Verantwortung bleibt.

Wie es gelang, das Geld für den Ankauf der Diabelli-Variationen aufzutreiben, das ist ein wunderbares Beispiel für eine gelungene konzertierte Aktion von öffentlicher und privater Hand und selbst ein Thema mit vielen Variationen. Dirigiert haben dieses "Konzert" Sie, lieber Herr Professor Eckhardt. Es gab Benefizkonzerte mit namhaften Künstlerinnen und Künstlern, es gab Patenschaften über einzelne Noten oder ganze Takte, es gab eine spezielle Einspielung der Variationen, und natürlich das klassische Werben um kleine, mittlere und große Spenden von einzelnen Musikliebhabern bis hin zu größeren Stiftungen, und zwar - wie Sie, Herr Eckhardt, es selbst einmal sehr schön gesagt haben - mit "sympathischer Penetranz".

Und es gab - als Grundlage und Voraussetzung für alle weiteren Aktionen - eine engagierte öffentliche Hand, vertreten durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Kulturstiftung der Länder, das Land Nordrhein-Westfalen und die Kunststiftung Nordrhein-Westfalen. Ihnen allen Respekt und ein großes Dankeschön! Das ist ein schönes Beispiel für gute Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern.

Ich finde es ermutigend zu sehen, wie hier durch gemeinsame Anstrengung und Begeisterung ein Kulturschatz der Öffentlichkeit erhalten bleiben konnte, den die öffentliche Hand allein wohl nicht hätte retten können. Welch ein Glück, dass sich das Beethoven-Haus seit seiner Gründung auf die Spendenfreudigkeit der Musikliebhaber verlassen kann - denn der überwiegende Teil seiner Sammlung geht ja auf Schenkungen und Nachlässe zurück.

Zum Ende meiner Variationen hin muss ich aber doch noch einmal in eine Molltonart wechseln. Denn mir scheint, wir sollten bei aller Freude eines nicht vergessen: Das Geld für einen spektakulären Ankauf wie diesen oder auch für ein repräsentatives Bauvorhaben - das lässt sich, wenn auch mit großer Anstrengung, beschaffen. Wie aber sieht es aus mit den laufenden Kosten, die unsere kulturellen Institutionen verursachen? Das schönste Museum nützt nichts, wenn es gezwungen ist, seine Öffnungszeiten zu reduzieren, um Personalkosten zu sparen.

Und wie steht es mit der Grundlage von allem, mit der kulturellen Bildung? Verstehen und nutzen wir unsere Museen schon ausreichend als Bildungseinrichtungen? Sorgen wir genügend dafür, dass vor allem unsere Kinder und Jugendlichen die wunderbare Sprache der Musik erlernen können, dass sie sich dieses Universum erschließen können? Auch hier müssen wir wachsam und erfinderisch sein, damit - getreu Goethes Maxime - das Überlieferte mit neuem Leben erfüllt werden kann. Und auch hier sollten - und können - sich staatliches und bürgerschaftliches Engagement klug ergänzen. Wenn ich mir die Finanzen der öffentlichen Hand so anschaue: Hier wird es noch viel Bedarf für Kreativität geben.

Der Ankauf der Diabelli-Variationen hat gezeigt, wie das gelingen kann. Ich wünsche dem Beethoven-Haus weiterhin eine gute Hand mit diesem wunderbaren Besitz. Möge er von vielen erworben und lebendig gemacht werden!