Ansprache von Bundespräsident Horst Köhler anlässlich der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Professor Dr. Hans-Gert Pöttering, MdEP

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 12. April 2010

Bundespräsident Horst Köhler und Hans-Gert Pöttering bei der Ordensverleihung

Im Jahre 1999 sind Sie an die Spitze der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament getreten. Damals hatte die Europäische Union 15 Mitglieder, es galt der Vertrag von Amsterdam, wir bezahlten mit D-Mark, Franc, Lire und Peseten. Der Euro war gerade erst als Buchgeld - eine Art virtuelle Währung - eingeführt.

Inzwischen ist die EU auf 27 Mitglieder angewachsen. Am 1. Dezember 2009 ist mit dem Vertrag von Lissabon eine grundlegende Reform der EU in Kraft getreten. Der Euro ist ein wichtiger Pfeiler der europäischen Integration geworden.

Europa hat sich in nur zehn Jahren grundlegend verändert und weiterentwickelt. Diesen Prozess haben Sie an maßgeblicher Stelle mitgestaltet. Es war kein einfacher Weg. Immer wieder waren Hindernisse zu überwinden. Ich erinnere nur an das Scheitern des Verfassungsvertrages und den mühsamen Prozess zur Ratifizierung des Vertrags von Lissabon.

Die große Idee des europäischen Einigungswerks erweist sich in der Praxis eben als mühsames "Bohren dicker Bretter". Erfolge sind nur im Konsens und mit dem Willen zum Kompromiss möglich. Sie haben sich als Meister des Kompromisses und des Konsenses erwiesen.

Als Fraktionsvorsitzender ist es Ihnen immer wieder gelungen, die verschiedenen nationalen Interessen miteinander zu vereinbaren, die Unterschiede der politischen Kultur zu überwinden und eine gemeinsame Position Ihrer Fraktion zu finden. Aber auch über die Fraktionsgrenzen hinaus haben Sie sich Anerkennung im Europäischen Parlament erworben. Sie haben stets die Verständigung gesucht und so die notwendigen Mehrheiten im Parlament zustande gebracht.

So wuchs Ihnen auch fast zwangsläufig die Autorität für das Amt des Präsidenten des Europäischen Parlaments zu. Als dritter Deutscher in dieser Funktion nach Egon Klepsch und Klaus Hänsch haben Sie dem Europäischen Parlament für zweieinhalb Jahre Gesicht und Stimme gegeben, gerade auch in Deutschland.

Das Europäische Parlament hatte lange Zeit eine schwierige Position im Verhältnis zu Rat und Kommission. Wie viele andere Parlamente musste es sich seine Kompetenzen erst erkämpfen. Mit dem Vertrag von Lissabon ist die gesetzgeberische Kompetenz Ihres Parlamentes gestärkt worden. Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht die führenden Repräsentanten des Parlaments sich beständig für ein Mehr an demokratischer Legitimation der Europäischen Union eingesetzt hätten. Dabei standen Sie in der ersten Reihe.

Das beständige Bohren der dicken europäischen Bretter erfordert Geduld, Verhandlungsgeschick, Verbindlichkeit und Überzeugungskraft; alles Eigenschaften, die Sie auszeichnen. Vor allem aber erfordert es ein Maß an Hingabe, das auf einer tief verwurzelten Überzeugung beruht. Ihre Mission heißt Europa. Sie gründet auf einem festen, christlich geprägten Wertefundament. Im Mittelpunkt dieser Werteordnung stehen der Mensch und seine unantastbare Würde. So ist es in der Europäischen Charta der Grundrechte niedergelegt, die Sie am 12. Dezember 2007 gemeinsam mit den Präsidenten von Rat und Kommission unterschrieben haben und die auf Verlangen des Parlaments auch in den Lissabonner Vertrag aufgenommen wurde.

Zu Ihrer Mission Europa gehört das Eintreten für Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie weltweit. Sie haben Guantánamo ebenso kritisiert wie die Lage in Tibet und die ungeklärten Morde an Journalisten und Menschenrechtsverteidigern in Russland. Ihren Einsatz für Menschenrechte und Demokratie in Weißrussland setzen Sie auch in Ihrem neuen Amt als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung fort.

Ein ebenso großes Anliegen ist Ihnen der Dialog der Kulturen und Religionen. Erst kürzlich haben Sie "den europäischen Geist der Solidarität mit allen Völkern und Kulturen dieser einen Welt" als die wichtigste sozialethische Aufgabe der EU genannt. Dialog, Verständigung und Solidarität ist Ihre Antwort auf die Befürchtung vom "Zusammenprall der Kulturen". Viele Male sind Sie in arabische und islamische Staaten gereist. Die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten, wo Judentum, Christentum und Islam verwurzelt sind, lag Ihnen besonders am Herzen. Um den Dialog der Europäischen Union mit dieser Nachbarregion zu stärken und einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit und Stabilität zu leisten, haben Sie im Europäischen Parlament eine Arbeitsgruppe "Naher Osten" ins Leben gerufen.

Der interkulturelle Dialog ist auch innerhalb Europas weiterhin wichtig. Sie haben erkannt, dass eine europäische Identität, ein "Wir-Gefühl", nur entstehen kann, wenn es ein gemeinsames Verständnis der europäischen Geschichte gibt. Sie haben daher angeregt, ein "Haus der Europäischen Geschichte" zu gründen, als gemeinsames Erinnerungswerk und Grundlage für eine auf gemeinsamen Werten beruhende friedliche Zukunft der EU. Es soll 2014 seine Arbeit aufnehmen - und ich freue mich darauf. 2006 waren in Dresden beim Treffen der nicht exekutiven Staatsoberhäupter 100 junge Europäer eingeladen. Eine der von ihnen aufgestellten sogenannten Dresdener Forderungen für Europa zielte genau auf ein solches "Haus der Europäischen Geschichte". Als ich mit Ihnen über diesen Vorschlag gesprochen habe, zeigte sich, dass Sie dieses Konzept schon viel früher angedacht hatten. Ich schöpfe aus solchen Erinnerungen Kraft, denn wenn wir es schaffen, diese jungen Menschen direkt anzusprechen, dann wird es mit Europa weitergehen.

In über 30 Jahren seit Ihrer Wahl in das erste direkt gewählte Europäische Parlament haben Sie die Einigung Europas ganz erheblich vorangetrieben. Sie haben die Überwindung der Teilung Europas "das Wunder unserer Generation" und den größten Erfolg der europäischen Politik genannt. In der Berliner Erklärung zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge, die Sie am 25. März 2007 gemeinsam mit der Bundeskanzlerin und dem Präsidenten der Europäischen Kommission unterzeichnet haben, heißt es: "Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint". Zu diesem Glück gehört auch, dass Sie das Amt des Parlamentspräsidenten an Jerzy Buzek aus unserem Nachbarland Polen und damit erstmals an einen Abgeordneten weitergeben konnten, dessen Land 2004 der EU beigetreten ist.

Heute trauern wir alle nach dem schrecklichen Unglück bei Smolensk am vergangenen Samstag. Aber die Reaktionen in Deutschland und Russland zeigen mir, wie sehr wir inzwischen zusammengewachsen sind. Ich war am Wochenende in Stralsund. Auf dem Marktplatz haben mich dort Touristen angesprochen und zu mir gesagt: "Herr Bundespräsident, was für ein entsetzliches Unglück für unsere Nachbarn in Polen!". Dieses ernsthafte Mitgefühl macht mir klar, dass eine Freundschaft zwischen Deutschland und Polen wächst.

Sie haben sich um Europa und Deutschland verdient gemacht.

Ich freue mich, Ihnen das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband überreichen zu dürfen.