Ansprache von Bundespräsident Horst Köhler anlässlich des deutschen Nationentages der Expo in China

Schwerpunktthema: Rede

Shanghai, , 19. Mai 2010

Bundespräsident Horst Köhler am Rednerpult

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

"Stadtluft macht frei". So hieß es im Mittelalter in Deutschland. Wer als Leibeigener vom Land in die Stadt zog, erhielt nach einem Jahr dort seine Freiheit. Und es war nicht nur die Aussicht auf Freiheit, sondern auch die Hoffnung auf Wohlstand, die die Menschen von jeher in die Städte gezogen hat. Auch in China locken die Lichter der Stadt. In 15 Jahren soll es in Ihrem Land über 200 Millionenstädte geben - in ganz Europa sind es um die 30.

Es ist überfällig, dass die Weltausstellung nach 150 Jahren in das bevölkerungsreichste Land der Welt kam und damit ihrem Namen alle Ehre macht. China hat einmal mehr die Welt zu Gast. Ich möchte mich bei Ihnen von Herzen für diese Gastfreundschaft bedanken, die Sie auch dem mehr als 500-köpfigen deutschen Team entgegenbringen. Die Organisation der größten Weltausstellung aller Zeiten ist eine logistische Meisterleistung. Die Herzlichkeit Ihres Willkommens überstrahlt diese Meisterschaft noch.

Das von den Veranstaltern der Expo 2010 in Shanghai gewählte Motto "Better City - Better Life" beschäftigt sich mit einem Thema, das für die gesamte Menschheit von zentraler Bedeutung ist. Lebten im Jahre 1900 erst ein Zehntel der Weltbevölkerung in Städten, so war es 2007 bereits die Hälfte. Für 2050 lautet die Prognose: drei Viertel. Immer mehr Einwohner werden auf engem Raum zusammenleben. Wird es der Menschheit gelingen, lebenswerte, sichere und energieeffiziente Städte zu bauen und zu unterhalten? Oder werden viele Megastädte der Zukunft Mega-Slums, in denen sich die Reichen auf Wohlstandsinseln verschanzen?

Letztlich werden die Bürger der Städte selber auf diese Fragen eine Antwort finden müssen. Eine bessere Stadt und ein besseres Leben können die kommunalen Verwaltungen nur gemeinsam mit den Bürgern schaffen. Wenn Menschen die Möglichkeit haben, Verantwortung für die Gestaltung ihres Gemeinwesens zu übernehmen, werden sie ihre Kreativität einbringen. Selbstverständlich wird es dabei unterschiedliche Interessen geben. Daher ist es besonders wichtig, dass es für die Lösung der unvermeidlichen Konflikte transparente und als fair anerkannte Regeln gibt. Dann klären sich die Chancen, und es gelingt Harmonie.

Städte aus verschiedenen Kulturen bereiten sich sehr unterschiedlich auf die Zukunft vor. Ich finde es deshalb gut, dass sich auf dieser Weltausstellung nicht nur Nationen, sondern auch Städte präsentieren. Die Besucher können dadurch in den Pavillons aus erster Hand erfahren, wie Stadtplaner und Bürger weltweit ihre Zukunft gestalten wollen. Diese Anregungen werden von unschätzbarem Wert sein. Sie unterstreichen den Begegnungscharakter der Expo: Aus den früheren Präsentationen technischen Fortschritts zur Förderung des nationalen Ruhmes und des Außenhandels ist eine Kontakt- und Ideenbörse geworden, die auf einmalige Weise Menschen zusammenbringt.

Die chinesischen Städte werden nicht nur wegen ihrer Größe eine wichtige Rolle bei der Frage spielen, welche Städte die Welt im 21. Jahrhundert haben wird. Die urbane Entwicklung Chinas zeichnet sich auch durch die Qualität ihrer Experimente aus: Visionäre und manchmal am Reißbrett geplante Umweltstädte, innovativ genutzte erneuerbarer Energien, Mobilitätskonzepte unter Einschluss von Elektromobilität und neue Bauprojekte - um nur einige Beispiele zu nennen - finden weltweit Beachtung. Alleine die enormen Infrastrukturmaßnahmen Shanghais für die Expo sind es wert, genau studiert zu werden.

Ich freue mich, dass Deutschland, nachdem es vor zehn Jahren in Hannover selber Gastgeber der Weltausstellung war, hier in Shanghai so stark vertreten ist. Der Deutsche Pavillon ist unser bisher größter Auftritt bei Weltausstellungen im Ausland. Unter dem Motto "Balancity" gibt der Pavillon ein Beispiel, wie ein Gleichgewicht aussehen könnte zwischen Erneuerung und Bewahren, Urbanität und Natur, Gemeinschaft und Individuum, Globalisierung und nationaler oder regionaler Identität. Alle 16 Bundesländer präsentieren sich. Wir hoffen, dass die Besucher die eine oder andere Anregung "made and created in Germany" zur Gestaltung der Stadt von morgen mitnehmen.

Überdies sind auch vier deutsche Städte gesondert auf der Expo vertreten. Unsere deutschen Städte sind zwar von der Einwohnerzahl gesehen keine Mega-Metropolen, sie brauchen sich aber in puncto Zukunftsfähigkeit und Kreativität nicht zu verstecken. Hamburg, die Partnerstadt Shanghais und Umwelthauptstadt Europas 2011, hat eigens für die Expo das erste zertifizierte Passiv-Haus in ganz China errichtet. Bremen präsentiert unter dem Stichwort Elektromobilität seine Ideen, den Bürgern an momentan rund 40 Mobilpunkten in der Stadt Elektroautos anzubieten, um den Verkehr mit Privatwagen zu verringern. Düsseldorf zeigt, wie es durch die Verlagerung von Straßen seine Flusspromenade als öffentlichen Raum an die Bürger zurückgegeben hat. Und Freiburg präsentiert die Transformation eines ehemaligen Kasernenstandorts zu einem kompletten umweltbewusst gebauten und familienfreundlichen Stadtteil für 5 000 Einwohner.

"Nachhaltige Urbanisierung" ist auch das Leitthema der dreijährigen deutsch-chinesischen Veranstaltungsreihe "Deutschland und China - Gemeinsam in Bewegung", die Staatspräsident Hu Jintao und ich gemeinsam beschirmen. "Deutschland und China - Gemeinsam in Bewegung" wird als bilaterale Initiative ebenfalls auf der Expo vertreten sein. Es ist die längste und größte Veranstaltungsreihe dieser Art, die Deutschland jemals im Ausland durchgeführt hat. Sie hat Deutsche und Chinesen zusammengeführt.

Die enge Zusammenarbeit deutscher und chinesischer Institutionen zeigt sich auch in vielen anderen Pavillons, die ich aus Zeitgründen gar nicht alle einzeln aufzählen kann. Und, wenn man genau hinschaut, steckt sogar in noch viel mehr Pavillons ein Stück Deutschlands, sei es als abstrakte Idee oder konkretes Bauteil. Warum sollte es bei einer Weltausstellung anders sein als in unserem täglichen Leben, in dem Waren, Dienstleistungen und vor allem neue Ideen Landesgrenzen immer müheloser überqueren? Die Menschheit wird diesen Austausch der Ideen brauchen. Nur in verantwortungsvoller Kooperation, nur als Weltgemeinschaft, können wir die enormen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie etwa die Begrenzung des Klimawandels und die Verminderung der weltweiten Armut wirksam bewältigen. Selbst die mächtigsten Staaten können ihre Interessen nicht im Alleingang durchsetzen. Die Welt braucht daher eine neue kooperative Weltpolitik.

Aufstrebenden Mächten wie China wächst damit auch eine größere Verantwortung zu.

Ich bin sicher, die Weltausstellung 2010 in Shanghai wird einen wichtigen und bleibenden Beitrag zu dem von mir genannten Ideenaustausch leisten - für bessere Städte und für ein besseres Leben auf unserer Einen Welt.