Interview mit der Tageszeitung "Ostsee-Zeitung" zu ihrem 60-jährigen Bestehen

Schwerpunktthema: Interview

30. September 2012

Bundespräsident Joachim Gauck hat der "Ostsee-Zeitung" zum 60-jährigen Bestehen der Tageszeitung ein Interview gegeben.

Bundespräsident Joachim Gauck im Gespräch mit Dieter Wonka im Amtszimmer von Schloss Bellevue

Viele sind zu DDR-Zeiten den Bürgern die Wahrheit schuldig geblieben. Zu ihnen gehörten auch die vom System kontrollierten Bezirks- und Regionalzeitungen. Als Pastor in Rostock hatten Sie es mit der Ostsee-Zeitung zu tun. War das für Sie ein fremdes Blatt oder das Organ des politischen Feindes?

Alle Blockparteien der sogenannten Nationalen Front der DDR hatten eigene Zeitungen. Aber auf Staats- wie auf Bezirksebene war ja die Dominanz der SED-Zeitungen staatlich festgelegt, auch durch Papierzuweisungen, durch staatlich festgesetzte Auflagenhöhe und so weiter. Diese hatten die SED-Ansicht bis ins letzte Dorf zu tragen. Ich selber war kein Abonnent, aber ein häufiger Leser der Ostsee-Zeitung. Jeder suchte intensiv nach etwas Lesenswertem, besonders im Sport, im Lokalen. Wichtig: im Anzeigenteil die Todesanzeigen. Übrigens wurden selbst die zensiert.

Haben Sie daran konkrete Erinnerungen?

Und ob. Als meine Großmutter, eine Abonnentin der Ostsee-Zeitung, starb, konnte ich das Psalm-Wort „Meine Zeit steht in Deinen Händen“ nicht in der Anzeige unterbringen. Der Verlagsleiter erklärte mir, man mache eine kommunistische Zeitung. Da sei ein solcher christlicher Text nicht möglich. Viele DDR-Oppositionelle haben die SED-Blätter als das gesehen, was sie sein sollten: Akteure im Klassenkampf. Es ging nicht um Wahrheit, um Information, sondern um Prägung, um Einflussnahme zugunsten der herrschenden Macht. Wir kritischen Geister waren die Feinde dieser Zeitungsherren.

Ihnen begegnen alte Zeitungstitel mit neuem Gewand. Wie glaubwürdig haben Sie persönlich dieses Begleiten der friedlichen Revolution durch lokale und regionale Medien erlebt?

Als sich 1989 die Menschen erhoben, mochten viele Journalisten nicht länger die Sklaven der Diktatoren sein. In den Redaktionen brodelte es. Bald wagten die Ersten faire Berichterstattung. Die Zeit der ideologischen Hardliner war zu Ende. Nun begann die Phase der Neuorientierung. Die abonnentenstarken SED-Zeitungen haben überlebt, weil sie starke Partner aus den westdeutschen Zeitungsverlagen fanden.

Vor rund 60 Jahren erhielten viele Regionalzeitungen – unmittelbar nach der ersten Enttrümmerung nach dem Zweiten Weltkrieg – ihre Lizenz. Regionalzeitungen wirken heute, in der Welt von TV, Internet und blitzschneller Häppchen-Information für manche ein wenig aus der Zeit gefallen. Welche Funktion messen Sie Regionalzeitungen für den bürgerschaftlichen, den zivilgesellschaftlichen Zusammenhalt in einer Region bei?

Ich halte Regionalzeitungen nach wie vor für enorm wichtig. Das Leben und die Probleme der engen Nachbarschaft interessieren oft als Erstes. Aber auch die nationalen und internationalen Themen werden ernsthaft angeboten und vom Leser angenommen. Die regionalen Medien sind näher an den Alltagsproblemen der Menschen dran, können auch besser aktivieren und konkreter benennen, wo protestiert, aufgebaut oder Hilfe geleistet werden muss.

Was bedeutet es für Sie, eine Zeitung in der Hand zu halten, das Papier zu fühlen, das Rascheln zu hören und etwas Schwarz auf Weiß zu lesen?

Ich kann gar nicht ohne Zeitungen sein. Selber lese ich zwar eher überregionale Blätter, aber oft suche ich zusätzlich die Zeitungen aus der Heimat. Es gibt übrigens deutschlandweit ganz hervorragend gemachte und immer noch erfolgreiche Regionalzeitungen. Und das ist – auch angesichts der wirtschaftlichen Probleme – nicht selbstverständlich.

Die Fragen stellte Dieter Wonka.