Interview mit der "Welt am Sonntag"

Schwerpunktthema: Interview

11. November 2012

Der Bundespräsident hat der "Welt am Sonntag" am 11. November ein Interview gegeben: "Manche Medien und Bürger gefallen sich darin, pauschal über "die Parteien" oder "die Politiker" herzuziehen. Das finde ich billig und ungerecht. Natürlich machen Parteien und Politiker auch Fehler. Natürlich darf und soll man das kritisieren. Aber man darf und soll es nicht verallgemeinern."

Bundespräsident Joachim Gauck in seinem Amtszimmer

Herr Bundespräsident, Sie sind bald acht Monate im Amt. Und Sie machen einen heiteren Eindruck.

Wenn ich draußen bin, unter den Leuten oder im Ausland, fühle ich mich sehr gut und eins mit dem Amt. Allerdings muss ich mich manchmal noch kneifen, wenn ich von zu Hause morgens ins Schloss Bellevue fahre. Dann denke ich mir: Hoppla, das bin ja ich! Vielleicht ist das in ein, zwei Jahren anders. Mein privates, persönliches Ich ist im Amt noch nicht ganz aufgegangen und wundert sich bisweilen ein bisschen. Aber diese Momente werden immer seltener.

Wollen Sie sich dieses Ich nicht bewahren? Gerade diesen Zug schätzen die Deutschen doch sehr an ihrem neuen Präsidenten.

Ja, manche haben in mir vor allem bei meiner ersten Kandidatur 2010 eine Art Anti-Politiker gesehen. Dieser Erwartung bin ich bewusst nicht gefolgt, aber ich glaube schon, dass die Menschen es schätzen, wenn man authentisch bleibt. Auf der anderen Seite muss man als Präsident mächtig aufpassen: Die Öffentlichkeit untersucht jeden Halbsatz auf seine Deutungsmöglichkeiten. Daraus habe ich gelernt, manche Eigentümlichkeiten, Frechheiten oder zugespitzten Formulierungen nur noch sehr zurückhaltend einzusetzen. Manchmal kann ich es freilich nicht verhindern. (lacht)

Empfinden Sie das als Selbstbeschränkung?

Ja. Das empfinde ich als Selbstbeschränkung. Aber das ergibt sich aus einer klaren Rationalität. Ich habe ein Amt. Ich repräsentiere die Deutschen und den deutschen Staat. Deshalb kann ich die Zurückhaltung, die mir diese Tatsachen auferlegen, auch positiv bewerten. Das bedeutet nicht, dass das immer erfreulich ist. Aber das ist ja bei keiner Arbeit so. Selbst nicht bei Ihrem schönen Beruf.

Hat der Bundespräsident auch mal Langeweile?

Da muss ich überlegen. Im Amt sicher nicht. Am ehesten, wenn ich erschöpft zu Hause bin. Ich lese zwar gern ein bewegendes Buch in einem Zug durch. Aber zu so einer erfüllenden Freizeitbeschäftigung fehlt mir hin und wieder die Muße. Und dann ist es objektiv auch mal langweilig, was mich nicht belastet, weil ich es dann kaum bemerke.

Sie haben ein großes Faible für Sprache. Wenn Sie den ersten acht Monaten, in denen Sie nun im Amt sind, eine Überschrift geben müssten, wie würde die lauten?

Wenn ich ans Inland denke: Bürger trifft Bürger.

Und im Ausland? Sie haben die Nachbarstaaten besucht, Sie waren in Israel.

Im Ausland trete ich in Traditionen ein, die meine Vorgänger in bewundernswürdiger Weise begründet haben. Da ist zum Beispiel die Hinneigung des geschichts- und verantwortungsbewussten Deutschland zu Israel. Und ich freue mich, wenn ich das noch mit einer persönlichen Note füllen kann. Zu Beginn war ich bei meinen außenpolitischen Begegnungen sehr gespannt, zuweilen sogar verspannt. Ich habe damals nach meinen offiziellen, außenpolitischen Terminen in Bellevue oft meine Berater fragend angesehen: War auch alles richtig? Hab ich was falsch gemacht? Aber nach den ersten Begegnungen habe ich gemerkt: Für alle Beteiligten wird es leichter, wenn man sich als Mensch über die Funktion hinaus zu erkennen gibt. Das gilt auch für Treffen mit Königen und Präsidenten.

Ihre Vorgänger, Horst Köhler und Christian Wulff, sind beide zurückgetreten. Hat das Ihre Aufgabe besonders schwierig oder zu einer Herausforderung gemacht?

Eine Herausforderung war es gewiss. Einige meinten: Der Start war eigentlich leicht, weil der Vorgänger problembeladen und vor dem Ende der regulären Amtszeit gegangen ist – und die Menschen waren über einen neuen Anfang froh. Auf der anderen Seite war der Start mit einer Bürde von Erwartungen verbunden, zum Teil mitgeschleppt aus meiner ersten Kandidatur. Diese Erwartungen waren so hochgeschraubt, dass fast so etwas wie Erlösung eine Rolle spielte. Kein Mensch kann dieser Erwartung gerecht werden.

Beim Thema Erlösung kennt sich der Theologe Gauck natürlich aus.

Das Merkwürdige ist, dass sich gerade in einer säkularen Gesellschaft religiöse Dimensionen in Lebenswelten verirren, wo sie gar nicht hingehören. Fußballfans denken manchmal, es gehe um letzte Dinge, wenn ihre Mannschaft auf dem Platz steht. Auch in der Popkultur gibt es das. Oder bei ernsten Dingen wie der Bewertung politischer Systeme oder der Projektionen in Politiker. Hier erwartet ein Teil der Bürger nicht einfach nur, dass praktische Probleme effizient gelöst werden; hier erhoffen sich manche so eine Art Lösung im endgültigen Sinne, mithin etwas, das alle überzeugt, etwas Letztgültiges. Und das ist fast schon ein Wunsch nach Erlösung. Übrigens: Ich sehe diese übersteigerten Erwartungen auch vor dem kulturellen Hintergrund unserer Nation. Da wurde von der Politik oft das Eigentliche und die Lösung letzter Dinge erwartet – anders als bei angelsächsischen Völkern.

Ist das heute wirklich noch so?

Es ist in unterschiedlichen Ausprägungen da. In der Zeit der Romantik träumten die Intellektuellen davon, die Tiefe der deutschen Kultur möge sich doch mit den Idealen der Französischen Revolution verbinden – so ein Amalgam sei doch das Eigentliche. Wenn Sie unsere großen Verbrechen, den Nationalsozialismus und den Kommunismus, unter diesem Aspekt betrachten, könnten Sie das auch als eine tiefe Sehnsucht nach einer endgültigen Auflösung von Widersprüchen sehen. Solch einen Blick kann man auch auf die Demokratie werfen: Nicht wie mit angelsächsischen Augen als ein Regelwerk, in dem Schlimmeres verhütet wird, sondern als ein ideales System für eine ideale Gesellschaft.

Die parlamentarische Demokratie als das Ende der Geschichte?

Richtig. Ich stehe ja selbst in dieser romantisierenden Tradition. Aber ich bin auch zu politisch, um der Bevölkerung zu erklären: Ja, jetzt seid ihr endlich im Schalom angekommen. Das sind wir nicht. Wir sind zum Handeln aufgefordert und müssen die historischen und politischen Erfahrungen aufnehmen, die Deutschland nach dem Krieg gemacht hat. Es wird einen großen Teil meiner Präsidentschaft bestimmen, dass ich den gedanklichen und emotionalen Bezug vor allem vieler älterer Deutscher auf das Hitlerreich und die tiefe Schuld des Holocaust ergänzen möchte durch eine verinnerlichte Neubegegnung mit den guten Phasen unserer Demokratiegeschichte und unseres Freiheitskampfes im Osten. Das sind doch substanzielle Ergebnisse. Dazu kommt unsere große Leistung, gemeinsam mit Frankreich und vielen anderen europäischen Staaten das vereinigte Europa zu gestalten. Keiner Vorgängergeneration ist das gelungen. Denken wir an die großen, historischen Figuren Deutschlands, fallen uns nicht viele ein: Wir kennen Bismarcks Reichseinigung und auch seine Schattenseiten. Aber wenn wir auf unsere Epoche seit Adenauer blicken, können wir den Menschen Zutrauen vermitteln: Leute, wenn es um das vereinigte Europa geht, habt ihr nicht nur etwas zu träumen! Ihr habt einen Prozess mit gestaltet, ohne Führer oder Diktator sein zu wollen. Das zu erkennen und anzuerkennen fällt manchem von uns bisher schwer. Ich wünsche mir, dass noch viel mehr Menschen sich intensiver und offenkundiger darüber freuen können, was wir in den letzten Jahrzehnten in Deutschland und Europa erreicht haben.

Wollen Sie die Deutschen mit ihrer Geschichte versöhnen?

Nun, mit Massenmord kann man sich nicht versöhnen. Aber die Bevölkerung von heute ist doch nicht mit der identisch, die existierte, als ich 1940 geboren wurde. Da herrschten Krieg und Hitler. Jetzt haben auch die Älteren unter uns schon keine Schuld mehr. Schuld hat ja eine personale Dimension. Aber wir haben die Aufarbeitung der Schuld unserer Eltern und Großeltern sehr zu unserem Thema gemacht. Nicht gleich nach dem Krieg, erst deutlich später, und leider auch nicht alle Deutschen. Es gab auch Verdrängung eigener Schuld, sogar fehlende Empathie mit den Opfern. Erst nach und nach wurde vielen Menschen hierzulande klar: Nur wenn wir anerkennen, was war, werden wir uns als Nation wiederfinden. Übrigens: Unsere Nachbarn haben uns diese Scham über die Verbrechen des Nationalsozialismus zunächst gar nicht abgenommen. Es hat – aus nachvollziehbaren Gründen – eine ganze Weile gedauert, bis sie das geglaubt und damit auch verstanden und gewürdigt haben.

Die deutsche Bundeskanzlerin findet sich in der Euro-Krise plötzlich in einer europäischen Führungsrolle wieder. Das verstört manche.

Die Vorstellung von einem deutschen Europa war Thomas Mann ein Graus. In den Jahren nach 1945 konnte man diesem Diktum nicht widersprechen. Heute muss man anders auf dieses Land schauen. Deutschland ist nach dem Krieg über mehrere Generationen verändert worden. Es wäre deshalb unlauter, Manns Warnung vor einem deutschen Europa aus seinem historischen Kontext zu lösen und in die heutige Situation zu verpflanzen. Man kann doch über die millionenfache deutsche Erfahrung von Reue und Selbstkritik nicht hinwegsehen. Wir haben 1949 die Gründung der Bundesrepublik erlebt, es folgte die Sicherung der Herrschaft des Rechts. Die Institutionen dieses Landes haben in den vergangenen 60 Jahren das Recht und die Rechte der Bürger geachtet und gesichert. Zudem haben sie einen sozialen Ausgleich geschaffen, von dem viele Länder dieser Welt träumen. Das kommt mir vor wie ein gefüllter Früchtekorb, in dem die stolzen Erzeugnisse von fast drei Generationen von Nachkriegsdeutschen liegen. Wenn wir diese Ergebnisse ignorieren würden, dann würden wir weder uns selbst noch Europa gerecht werden. Hinzu kommt, dass Deutschland seine Rolle in Europa noch klarer als bisher definieren sollte mit denselben Mühen und derselben Bejahung, die ein Heranwachsender finden muss, wenn er erwachsen wird.

Aber ist Deutschland in den vergangenen Jahren auf diesem Weg nicht vorangekommen? Die Bundeswehr beteiligt sich selbstverständlich an Auslandseinsätzen, die Kanzlerin hat in der Euro-Krise eine klare Führungsaufgabe übernommen.

Es gibt heute mehr Bereitschaft zur Verantwortung als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Generation der jetzt 35- bis 50-Jährigen, die in verantwortungsvollen Positionen sitzt, kennt zum einen noch die selbstkritische Befragung. Aber sie können auch mit Recht und voller Stolz sagen: Unsere Väter und Mütter haben die Bundesrepublik Deutschland aufgebaut. Und ein Teil der Ostdeutschen kann sagen: Unsere Eltern haben die friedliche Revolution gemacht. Diese Generation in West und Ost soll wissen, was ihre Vorfahren im Nationalsozialismus getan haben. Aber es soll sie nicht lähmen. Schauen Sie, der polnische Außenminister Sikorski hat vor nicht allzu langer Zeit eine noch stärkere Rolle Deutschlands in Europa gewünscht. Vor 30 Jahren wäre ich bei einer solchen Bemerkung noch zurückgezuckt. Heute tue ich das nicht mehr. Und ich bin sehr froh, dass für jüngere Menschen so ein Wunsch noch viel selbstverständlicher ist als für mich.

Was hat sich verändert?

Europa hat sich verändert, wir Deutschen haben uns verändert. Deutschland ist enorm europäisch gesonnen, es hat ökonomisch und politisch enorm in Europa investiert. Und dementsprechend höre ich bei meinen Auslandsreisen immer wieder den Wunsch, dass Deutsche noch mehr Verantwortung in Europa übernehmen sollten. Nehmen wir neben Polen die Niederlande, ein Land, das ebenfalls furchtbar unter den Nazis gelitten hat. Auch von diesem Nachbarn hören wir Deutschen: Eure Politik dient Europa. Sie sagen nicht: Eure Stärke bedroht Europa.

In Italien, Spanien oder Griechenland werden wir anders wahrgenommen. Dort klagt man über den deutschen Zeigefinger.

Nun, in gewisser Weise haben auch Völker eine Seele – und ihren Stolz. Jetzt meldet sich diese verletzte Seele, der verletzte Stolz etwa bei den Griechen, denen in Griechenland, aber auch den hier lebenden griechischen Einwanderern, die viel Gutes für unsere Gesellschaft leisten. Sie wurden im Zuge der Euro-Krise von einigen deutschen Politikern und deutschen Medien leider regelrecht verunglimpft oder zumindest von oben herab belehrt. Das war ein großer Fehler. Umgekehrt gibt es Griechen, Spanier oder Italiener, die ihren Anteil an der Krise am liebsten verdrängen möchten, die uns vorwerfen, wir wollten über sie bestimmen. Auch das ist falsch. Wir haben nichts Schlechtes für Europa im Sinn. Wir möchten mit unserem Hinweis auf Haushaltsdisziplin und Strukturreformen doch im Gegenteil dafür sorgen, dass Europa weiter funktioniert. Außerdem gehört es zur Rolle des Erwachsenen dazu, dass er gelegentlich Kritik und Ablehnung ertragen muss.

Wären Sie nicht der beste Botschafter, um nach Griechenland zu reisen? Sie haben selbst einen Umbruch erlebt, Sie wissen, warum Menschen auf die Straße gehen...

Wäre ich noch nicht Bundespräsident, würde ich Ihre Frage sofort bejahen. Als Debattenteilnehmer, als Bürger unter Bürgern, würde ich gern über unsere Erfahrungen und öffentliche Verantwortung sprechen. Ich könnte darstellen, wie die Deutschen sich ihren Sozialstaat Schritt für Schritt aufgebaut haben, wie der Staat nicht als Gegner, sondern zum Wohle seiner Bürgerinnen und Bürger organisiert sein kann. Nun aber bin ich Teil des Staates, wenn auch ohne exekutiven Auftrag. Das macht es schwieriger.

Was bedeutet das genau?

Griechenland benötigt in dieser Phase vor allem das innere Gespräch. Und das fällt unendlich schwer, wenn man bedenkt, wie vielen einfachen Menschen immer mehr Opfer zugemutet und zu viele starke Schultern geschont werden. In Griechenland gibt es gewiss nicht nur Deutschland-Kritiker oder Merkel-Feinde. Es beginnt dort ein selbstkritischer Diskurs, der fragt: Welche Gesellschaft wollen wir? Dieser Diskurs muss reifen, auf dass Griechenland wieder gestalten kann. Es ist sehr schwer, in einem Land, das sich in einer derart komplizierten Lage befindet wie derzeit Griechenland, so aufzutreten, dass man nicht wie ein Lehrer wirkt. Jede Belehrung von außen aber beschädigt den inneren, selbstkritischen Diskurs. Als die Kommunisten uns Ostdeutschen erzählt haben, wie schlimm die Faschisten waren, haben wir gesagt: Von unseren Unterdrückern lassen wir uns nicht sagen, was wir denken sollen. Bei den Westdeutschen ging es mit den Alliierten teilweise ähnlich. Erst als die Deutschen selbst einen kraftvollen, heftigen inneren Diskurs führten, veränderte sich die Mentalität der Nation.

Frau Merkel ist ja inzwischen nach Athen gereist.

Darüber habe ich mich sehr gefreut. Sie ist die Gestalterin und sollte als solche mit den Gestaltern reden. Ich bin da weniger gefragt. Aber ich werde bald den griechischen Präsidenten treffen.

Wie blicken Sie auf Griechenland?

Ich wünsche mir und hoffe, dass Griechenland Teil der Euro-Zone bleibt. Es wäre ganz und gar falsch, wenn Griechenland ausscheiden würde, und es ist vollkommen richtig, dass die Bundesregierung auf einen Verbleib Athens in der Euro-Zone drängt. Zum Glück hat sie das auch denjenigen signalisiert, die hierzulande der Auffassung sind, das alles sei zu teuer und wir Deutsche ruinierten uns. Nein, wir ruinieren uns überhaupt nicht. Jedenfalls nicht, wenn wir Griechenland im Euro halten.

Sie haben seit Ihrem Amtsantritt im März etliche Städte in Deutschland besucht. Gibt es Gespräche mit Bürgern, die Sie in den vergangenen Monaten haben aufhorchen lassen? Womit?

Das Ausmaß von Bürgerbeteiligung zu erleben, erstaunt und erfreut mich nach wie vor. Ich kannte dieses Engagement aus dem Rahmen der Kirche. Das Amt des Bundespräsidenten hat mein Blickfeld erweitert, und ich lerne unzählige Vereine und Initiativen kennen. Deutschland ist durchzogen von einem Netzwerk guter Menschen. Viele von ihnen haben eine altruistische Grundeinstellung und gehen damit nicht hausieren. Freiwillige Feuerwehr, Kulturarbeiter, Altenbetreuer, Lesepaten, Flüchtlingshelfer, Umweltschützer – vielen ist diese Arbeit zur zweiten Natur geworden. Allerdings haben wir im Osten da noch einigen Nachholbedarf.

Ist der Osten passiver?

Ja, zumindest in Teilen beobachte ich das und auch Studien belegen: Vor allem ältere Menschen im Osten sind zivilgesellschaftlich weniger engagiert und wählen anders. Freiheit und Eigenverantwortung sind ihnen nicht so wichtig wie Gleichheit, Versorgung und Sicherheit. Das hängt damit zusammen, dass die Ostdeutschen über zwei Generationen hinweg nichts frei unternehmen durften: weder als freier Bauer noch als freier Handwerker, freier mittelständischer Unternehmer oder verantwortlicher Manager. Alles war abgeleitet und angeleitet, und Mentalitäten ändern sich nur langsam. Die gute Botschaft aber ist: Junge Ost- und Westdeutsche unterscheiden sich kaum mehr.

Im kommenden Jahr wird der Bundestag gewählt. Was erwarten und wünschen Sie sich von dem Wahlkampf?

Die großen Wahlkampfthemen sehe ich noch nicht. Ich bin daher froh, kein Wahlkampfmanager zu sein. Können wir uns einen Wahlkampf über die großen Linien der Europapolitik vorstellen? Nein. Alle bedeutenden Parteien in Deutschland sind proeuropäisch. In jedem unserer Nachbarländer sitzen antieuropäische, manchmal sogar fremdenfeindliche Parteien in den nationalen Parlamenten. Bei uns nicht. Deshalb bin ich so befreundet mit unserer Bevölkerung.

Vielleicht geht es um Energiefragen...

Das sehe ich anders. Nachdem die Kanzlerin sich mit Blick auf die Reaktorkatastrophe von Fukushima flexibel gezeigt hat und mit ihrer Regierung aus der Atomkraft aussteigt, können die großen Linien der Energiepolitik eigentlich kein Wahlkampfthema mehr werden, auch wenn es Streit um die Kosten der Wende und die nun notwendige Infrastruktur geben mag. Darüber hinaus kann ich sie nicht erkennen, die große Bereitschaft, grundsätzliche Fragen auch grundsätzlich aufzuwerfen. In der Familienpolitik sehe ich einige Differenzen; in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gibt es gewiss Unterschiede. Aber die sind, besonders zwischen Union und SPD, nicht mehr so groß, seit die Sozialdemokraten sich zur Agenda 2010 durchgerungen haben. Es wird im Wahlkampf also vor allem Streit um Details und Personen geben – und das zwar hoffentlich nicht bösartig, aber doch kontrovers. Denn es sind oft gerade Kontroversen, die Menschen Lust auf Politik machen.

Werden Sie dazu aufrufen, zur Wahl zu gehen?

Aber sicher! Das ist mein Herzensthema seit Jahren. Und deswegen betrachte ich die sinkende Wahlbeteiligung mit großem Verdruss und möchte denen, die nicht zur Wahlurne gehen, sagen: Das Wahlrecht ist ein Geschenk. Nehmt es an!

Sie sind der erste Bundespräsident, der zuvor parteilos war. Werden Sie dennoch bei den Bürgern dafür werben, einer Partei beizutreten?

Ja, das habe ich vor. Manche Medien und Bürger gefallen sich ja darin, pauschal über "die Parteien" oder "die Politiker" herzuziehen. Das finde ich billig und ungerecht. Natürlich machen Parteien und Politiker auch Fehler. Natürlich darf und soll man das kritisieren. Aber man darf und soll es nicht verallgemeinern. Wo wären wir ohne die Frauen und Männer, die sich in Parteien engagieren und bereit sind, politische Verantwortung zu übernehmen, sei es als Ehrenamtliche im Gemeinderat, sei es als Minister in der Bundesregierung? Wer eine ehrliche Antwort auf diese Frage sucht, der kann sich an undifferenzierter Parteien- und Politikerschelte nicht beteiligen.

Die Anforderungen an Politiker werden immer größer. Wie bewerten Sie diese Tendenz?

Das ist ein echtes Problem. Und das hängt nicht zuletzt mit einem Wandel der öffentlichen Kultur zusammen. Im Fernsehen etwa ging es vor 30 Jahren stärker und tiefgründiger um Politik als heute. Heute dagegen spielt Unterhaltung eine immer größere Rolle. Und das entspricht offenbar auch dem Bedürfnis vieler Zuschauer. Hinzu kommt der Unwille auf beiden Seiten, sich auch mal mit komplizierten Fragen zu beschäftigen. Dementsprechend werden manche wichtigen Diskurse infantilisiert oder ein Teil der Bürger wendet sich ab, wenn ihn eine politische Frage oder ein Politiker nicht gleich fesselt. Es reicht aber nicht, das zu beklagen. Alle, die politisch gestalten, müssen sich immer wieder ermahnen: Erklär, was du tust. Das gilt übrigens auch für mich selbst.

Es gibt eine Art Zweiklassenpolitik: Karlsruhe, Bellevue und Herr Lammert bilden die erste Klasse, die Niederungen und die klassische, operative Politik die zweite Klasse, oder?

Wir sind erwachsen genug, dass wir von der Politik keine Erlösung erwarten. Wir sollten nüchtern auf Strukturen und Personen schauen und fragen: Können sie es? Oder können sie es nicht? Wenn wir uns etwas bemühen, kommen wir zu einem Grundsatz, der da lautet: Politik ist die Gestaltung des weniger Schlechten.

Sie sind im Volk hochpopulär. Da sind Sie doch in der besten Position, Politik und Politiker zu verteidigen...

Als ich noch nicht Präsident war, habe ich das bei vielen Vorträgen und Festreden gemacht. Da habe ich rhetorisch gefragt: Welchen Bürgern begegnen wir in unserem Heimatdorf, unserer Heimatstadt? Es ist doch meist eine Bandbreite von absolut überragend bis eher unauffällig. Genauso ist es mit unseren Politikern. Sie kommen aus unserer Mitte, wir haben sie gewählt, sie sind unsere. Sie haben unsere Macken und Mängel. Außerdem lautete ein Credo meiner politischen Pädagogik: Hütet euch vor den außergewöhnlichen "Rettern"!

Sie beschrieben ein größeres Interesse an Unterhaltung denn an der Debatte. Liegt es daran, dass es keine riesigen politischen Unterschiede zwischen den Parteien gibt?

Ja, auch! Und diese Konsens-Dynamik ist möglicherweise einer der Gründe für die sinkende Wahlbeteiligung. Ich glaube, es würden sich auch dann wieder mehr Menschen politisch interessieren und engagieren, wenn Parteien sich intensiv mit den großen Fragen unserer Zeit auseinandersetzen würden. In welchem Verhältnis stehen Freiheit und soziale Gerechtigkeit zueinander? Wie bringt man Ökologie und Ökonomie optimal zusammen? Wie lösen wir Fragen, die die demografische Entwicklung aufwirft? Das lohnt doch jeden Streit. Allerdings sollte man ihn konstruktiv und ohne die üblichen stereotypen Vorwürfe führen. Zum Beispiel "neoliberal": Mit diesem Begriff verunglimpfen manche Protagonisten politischer Diskurse die gesamte Tradition liberaler, demokratischer Politik. Dabei würde unserem Land viel fehlen, wenn wir die Stimme des Ordoliberalismus nicht mehr vernähmen.

Der Begriff "neoliberal" ist zudem historisch hanebüchen.

Stimmt. Aber das interessiert momentan kaum jemanden. Dabei kann jeder nachlesen, was die großen liberalen Wirtschaftslehrer geschrieben haben, übrigens auch zur Verantwortung der Vermögenden.

Wünschen Sie sich Abgeordnete, die neben ihrem Mandat als Unternehmer oder Anwälte arbeiten und Geld verdienen?

Es gibt zu diesen Verdiensten Regelwerke. Wo sie nicht ausreichen, müssen sie verschärft werden. Ansonsten ist es mir egal – solange keine Abhängigkeit entsteht. Ich wünsche mir, dass sich mehr Unternehmer in der Politik engagieren. In den USA ist das gang und gäbe. Mir schwebt dabei mehr der deutsche, mittelständische Unternehmer vor als der Banker. Was haben wir da für Namen in Deutschland! Diese Menschen mit ihren ganz speziellen Erfahrungen, mit der Verantwortung, die sie getragen, und dem Mut, den sie bewiesen haben, fehlen mir im Bundestag.

Die amerikanischen Präsidentschaftskandidaten waren oft reich. In Deutschland würden solche Spitzenkandidaten wohl schnell Neiddebatten provozieren.

Es gibt deutsche Unternehmer, die sich mit dem Argument "Das tue ich mir nicht an" aus der aktiven Politik fernhalten. Das bezieht sich aber eher auf ihre Sorge, dass sie glauben, dort Verantwortung, Mut und Risiko nicht leben zu können. Vielleicht haben sie damit recht, vielleicht aber auch nicht. Entscheidend ist, dass sie es einmal versuchen.

Nun haben auch Sie vor Ihrer Präsidentschaft, als Privatmann, 25.000 Euro Honorar für einen Vortrag erhalten. Verstehen Sie es, wenn Bürger eine solche Summe nicht nachvollziehen können?

Ja. Bevor ich Bundespräsident wurde, war ich Vortragsreisender, als Ehrenamtlicher und auch, um Geld zu verdienen. Ich hatte nichts dagegen. Die meiste Zeit meines Lebens musste ich mit sehr wenig Geld auskommen. Bei Vorträgen ist es ähnlich wie in Sport und Musik. Man fängt an, und ist dankbar, eingeladen zu werden. Man freut sich über Auftritte, auch ohne Honorar. Die nächste Stufe ist erreicht, wenn die Volkshochschule die Reisekosten übernimmt und 100 Euro zahlt. Dann gibt es verschiedene Ligen, wie im Fußball. Ganz oben wird richtig gut gezahlt. Ein einziges Mal habe ich neben einigen anderen Rednern das von Ihnen genannte Honorar erhalten. Das hatte ich nicht gefordert, das war da der Satz. Meine Empfindung in der Sprache meiner Enkelin: "Hossa!"

Obamas Präsidentschaft geht in die Verlängerung. Was erwartet der deutsche vom amerikanischen Präsidenten?

Ich habe mich über seine Wiederwahl gefreut. Deutschland hat mit Obama gut zusammengearbeitet. Er steht für eine junge, vielfältige und optimistische USA, wie sie viele Deutsche kennen und schätzen. Ich bin überzeugt, dass Deutschland, Europa und die USA globale Herausforderungen gemeinsam annehmen müssen – eine schnelle Beendigung des furchtbaren Blutvergießens in Syrien, eine diplomatische Lösung für das iranische Nuklearprogramm, eine Stabilisierung Afghanistans auch über 2014 hinaus: Das alles sollten wir weiter gemeinsam angehen. Genauso wünsche ich mir, dass wir den Wandel in Nordafrika und im Nahen Osten vereint und nachhaltig unterstützen, ebenso wie eine dauerhafte Lösung des Nahostkonfliktes auf der Grundlage der Zwei-Staaten-Lösung. Besonders gefreut habe ich mich, dass Präsident Obama die Bedeutung des Kampfes gegen den Klimawandel in seiner ersten Rede nach der Wahl unterstrichen hat.

Hat der Bürger Gauck eigentlich noch ein privates Leben?

Er versucht es. Meine Wohnung in Schöneberg habe ich aufgegeben, weil die Sicherheitsbestimmungen, die für einen Präsidenten gelten, für Nachbarn eine Belastung darstellen. Der Umzug – so schön mein jetziges Haus ist – war ein Einschnitt, und anfangs habe ich das Leben mitten in Berlin, die Radtour zum Wochenmarkt oder den spontanen Café-Besuch schon etwas vermisst. Aber vieles, was mir am Herzen liegt, ist geblieben. Bei meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln, bei Freunden in Berlin oder Rostock bin ich weiter "Jochen" – Präsident hin oder her…

Haben Sie eigentlich Ihre Lebensgefährtin Daniela Schadt in den vergangenen Monaten einmal bekocht?

Na, aber sicher! Auch wenn ich zugeben muss, dass ich dabei selten über Spinat mit Kartoffeln und Spiegelei und Buletten hinausgekommen bin.

Die Fragen stellten Claus Christian Malzahn,
Daniel Sturm und Ulf Poschardt.